00 GELEITVERSE
01 DIE FIBEL 1886-87 0101-28
02 ÜBERTRAGUNGEN 021-7
03 VON EINER REISE 0301-12
04 ZEICHNUNGEN IN GRAU 041-9
05 LEGENDEN 051-3
Die eigentlichen FIBEL-gedichte 01 entstanden in den jahren 1886 und 1887 · also noch vor dem abitur 1888 und den 1890 erschienenen HYMNEN in denen der lyrische ton Georges zum ersten mal deutlich hörbar wurde. Die beiden anderen zyklen 03 und 04 stammen aus der zeit unmittelbar nach verlassen des Darmstädter Georg-Ludwigs-Gymnasiums. Dieses frühwerk zu veröffentlichen entschied sich George als ihm nach dem erfolg des JAHRS DER SEELE sein rang endgültig bewusst geworden war. Über die durchwachsene qualität der einzelnen gedichte machte sich George keine illusionen. Das macht die VORREDE deutlich in der er von seiner »getrübten freude« über das werk spricht und die leser vor einer möglichen »enttäuschung« warnt. DIE FIBEL sollte lediglich die anfänge eines grossen dichters dokumentieren: deren jugendwerke seien »die ungestalten puppen aus denen später die falter leuchtender gesänge fliegen«. Der buchtitel - lesebücher wurden früher fibeln genannt - verweist bescheiden auf die welt der schule und des übens. Es ist deshalb einfach unanständig aufgrund von texten aus der FIBEL über George als mensch oder über sein werk endgültige urteile zu fällen die eigentlich verurteilungen sind.
Viel stärker ins innerste Georgeschen empfinden führt aber die bemerkung dass sie - und jezt meint er nur noch die eigenen gedichte - erinnerungen seien »an die zeit unsrer reinsten begeisterung und unsrer vollen blühwilligkeit«. Da (und gleich anschliessend in den GELEITVERSEN) ist diese ernste verehrung seiner selbst als kind und jugendlicher - nicht mit narzissmus zu verwechseln - und aus ihr heraus müssen ihm auch die zeugnisse seines beginns mehr gewesen sein als blosse dokumente: bestimmt so viel wie in den lezten jahren die geliebten wunderkinder · die wiedergeburten der eigenen jugend.
Ein lezter gedanke aus der VORREDE soll hier notiert werden. Er ist für jene gedacht die Georges erste lyrische äusserungen etwas flach finden könnten: sie mögen »bedenken dass die jugend gerade die seltensten dinge die sie fühlt und denkt noch verschweigt«. Ob das für »die jugend« zutrifft sei dahingestellt. Aber George meint ja immer nur die jugend insofern sie ist wie er war: die seltensten dinge fühlend und denkend.
Nicht der erinnerung wert waren ihm die in der jugendzeit entstandenen satiren. Sie hatten die schülerzeitung »Rosen und Disteln« geradezu geprägt in der auch einige der FIBEL-gedichte hektografiert waren. Satiren passten aber dann nicht mehr zu Georges vorstellung von dichtung in der spott und kritik nicht im mittelpunkt stehen durften.
So kam also die FIBEL im januar 1901 bei Bondi heraus · zeitgleich mit dem öffentlichen TEPPICH (der erste vers dort ähnelt dem pendant in der FIBEL) in der gleichen bescheidenen ausführung. Und wieder mit einer widmung:
MEINEM VATER UND MEINER MUTTER
ALS SCHWACHER DANKES-ABTRAG
Hier wird die erinnerung mitschwingen dass die langen auslands-aufenthalte ohne die zuwendungen der eltern nicht möglich gewesen wären - ihm das elternhaus stets offenstand und er von vorwürfen verschont blieb. 1927 begann die gesamtausgabe mit der FIBEL als erstem band.
00 GELEITVERSE
im rohr : das schilfrohr (am ufer der Nahe) war in Georges kindheit der geliebte ort der freiheit und des fürsichseins schlechthin. Das ist am deutlichsten im lezten abschnitt von 052 · im vierten abschnitt von 7502 und in 4506 zu erkennen. In 101 wird ihm dort die muse begegnen.
gefugt : in dichterische form gebracht
fron : ein aufgezwungenes leiden (ursprünglich der frondienst des bauern für den grundherrn)
gewohn : gewöhnlich
Kamöne : aus den lateinischen klassikern bekannte · daher auf die schulzeit verweisende bezeichnung für die muse die schon so früh im grunde mit dem jungen dichter selbst verschmilzt.
Diese verse entstanden erst unmittelbar vor dem erscheinen der FIBEL und sind damit erheblich jünger als alle anderen texte auf die sie in fast allen strofenanfängen hindeuten. Es mag sein dass George ihnen einen »Geleitschutz« zu geben wünschte »da sie quasi wie Kinder dem (sic !) Schutz und der Anleitung bedürfen« (Wk 2017, 5). Die erste strofe zielt auf drei merkmale der kindheit: den fehlenden sinn für das fortschreiten der zeit · den wunsch zu den siegern zu gehören und die durch den morgentau symbolisierte reinheit. Es folgt eine erinnerung daran wie der junge künstler sich früh im dialog mit der landschaft (an der Nahe) befand. Dagegen standen die zweifel die daraus erwuchsen dass wort und vers dem jungen menschen kaum genügen der seinem traum doch eigentlich im leben und nicht nur in der dichtung nachjagen möchte. Dieses leben aber lässt den jungen nicht zufrieden sondern innerlich aufsässig sein. Er fühlt sich als ein »Verwünschter« und wut und erste »dunkle sehnsucht« finden ausdruck in tränen und in versen (die ansonsten vielleicht gar nicht entstanden wären?) die er selbst noch als ungenügend empfindet - auch weil ihm bewusst ist dass er sich von dichterischen vorbildern noch nicht gelöst hat und weil die wahrnehmung der ansätze eigener sprache ihm noch bangen zweifel bereiten. Diese eigene sprache entfaltet aber in den tröstenden bildern der lezten strofe ihre ganze schönheit und sorgt für die gewissheit dass die unsicherheit der anfänge nun weit zurückliegt.
01 DIE FIBEL 1886-87
0101 Ich wandelte auf öden düstren bahnen
Auch M ist sich sicher dass das »himmelsbild« in diesem sonett ganz irdisch war. Bemerkenswert ist das ganz in sich gekehrte und dann natürlich erfolglose Lieben. Denn die »tat« meint nicht den ersten schritt sondern das dichterische tun das schon hier in kausalen zusammenhang mit erotischem empfinden gestellt wird.
0102 DIE NAJADE
Die quellnymfe ersezt das himmelsbild und macht auf den sprecher einen wesentlich tieferen eindruck - mit tragischer konsequenz.
0103 Mir ist es wie Titanien ergangen:
Auch Titania ist ein mythisches wesen: eine elfenkönigin aus Shakespeares Sommernachtstraum die sich in ein eselsköpfiges wesen verliebt - ohne die lächerlichkeit dieser verliebtheit zu wahrzunehmen. Am ende bleibt auch beim sprecher ein beschämtsein über die eigene blindheit.
0104 ABENDBETRACHTUNG
Hier legt nicht die Geliebte sondern der gedanke an den tod dem liebesgenuss das hindernis in den weg.
0105 Vernunft ! du legtest deine kalten hände
liebe : hier die geliebte
M bezeichnet »die Auseinandersetzung zwischen Gefühl und Vernunft« als »eines der diese Altersstufe am meisten bewegenden Probleme«. Allerdings verrät er nicht ob er die niederlage der vernunft für zwangsläufig hält.
0106 Manchmal durchzuckt es mich wie heller strahl
Das wort Ms passt hier ebenso gut nur dass es nun um den unterschied von anspruch und vermögen geht. Die hohe wertschätzung des könnens findet sich freilich nicht immer in diesem alter.
0107 ERINNERUNG
Eine der typischen kindheitserinnerungen Georges. Allerdings verklärt sie etwas ins süssliche · vielleicht weil er sprachlich noch mustern folgt · vielleicht weil »die Schwere seines jetzigen Seins fühlbar« gemacht werden soll die in den vorangegangenen und folgenden gedichten im mittelpunkt stand · »auch wenn kein Wort auf die Gegensätzlichkeit von einst und jetzt hinweist.« (M) Es ist nicht bekannt ob diese klagen auf erlebtem beruhen. Das ernst werden bezeichnet hier das ende der kindheit.
George erprobt hier die strofenform des ritornells · eines dreizeilers mit einer waise (x) und hier stets mit dem reimschema axa.
0108 Wenn die blätter gelblich werden
0109 Wenn die augen vergebens verlangen
0110 HERZENSNACHT
Weniger konventionell als die beiden vorangegangenen übungen. Einen grammatischen fehler wie in den versen sieben und acht erlaubt sich George später nicht mehr.
0111 Warum schweigst du meine leier
Eine klage darüber dass klagen dem sprecher weniger gut gelingen als das »helle klingen« - von dem der hiermit endende erste teil der FIBEL freilich kein einziges beispiel gab. Die erwähnung der muse ist rein konventionell.
0112 Ihr lüfte die ihr mild vom himmel schwebet:
Drei terzinen (drei mit kettenreim zusammengefügte elfsilber) geben endlich die erste probe dieses »hellen klingens« das jezt alles ver«scheucht« was bislang nur zu klagen anlass gab …
0113 Schon künden heissere sonnenstrahlen an
… und so rasch zurückkehrt. Aber es ist doch nur die furcht vor der rückkehr der niedergeschlagenheit. Tatsächlich leidet nur die frühlingshafte natur unter dem noch einmal eiskalten nordwind.
0114 Du standest in der wolken wehen
Das gilt jezt nicht mehr denn nun sind auch die alten zweifel zurück. Neu ist aber doch die gewissheit dass der dichter-ruhm (hier noch recht kindlich als voraussetzung erotischer erfüllung gedacht) zulezt nicht ausbleiben wird. Der (lorbeer)zweig der (nicht unbedingt als teil des kranzes) diesen ruhm verkörpert wird lediglich verspätet austreiben. Dass ein menschliches wesen als eine fast göttliche lichtgestalt erscheinen kann wird George (ursprünglich vielleicht angeregt durch sakrale madonnen-darstellungen) beibehalten - als »armer im tiefen tal« wird er sich selbst bald nicht mehr darstellen (von anklängen in einigen Maximin-gedichten abgesehen).
0115 DIE SIRENE
Mit Odysseus hat der »pilot« - der steuermann - nicht viel gemeinsam und darf es auch nicht - soll er doch eher dem sprecher ähneln der hier gerade nicht vermag listenreich mit allem weiblichen fertigzuwerden. Die strofen sind wie in 0107 ritornelle · doch reimen sich alle waisen mit dem gleichen reimklang.
0116 Sei stolzer als die prunkenden pfauen
Die verben in der ersten strofe und den ersten versen der lezten sind nicht als imperative sondern als konjunktive gemeint: »seiest du« oder eigentlich »wärest du«. Das gedicht ist lediglich eine variation zu 0105.
0117 DER BLUMENELF
Elfen waren geflügelte kleine blütenbewohner · sie wurden wol durch Shakespeares Sommernachtstraum seit der zeit Goethes und besonders im neunzehnten jahrhundert populär und in der bildenden kunst ein beliebtes motiv - auch in illustrationen zu kinderbüchern. Wie einem kinderbuch entnommen wirkt auch Georges geschichtchen vom verliebten blumenelf. Es hätte gewiss ewigen schlaf in der vergessenheit gefunden wäre nicht der elf - in der zweiten strofe noch allem körperlichen abhold - im ersten anflug des begehrens ausgerechnet in die rosa alpenrose geplumpst - genauer: in ihren »schlund«. Ein untrüglicher beweis dafür dass George sich also fortan - von peinigenden »Sexualängsten« (2010, 261: der plural garantiert die vom markt goutierte maximale skandilisierung) getrieben - frauen nicht anders als bedrohliche · »den männlichen Körper verschlingende" wesen vorstellen konnte. Urheber des ganzen mythos ist natürlich der germanist Ernst Osterkamp. Ausgehend vom BLUMENELF habe George - so die these - seine zielsetzung als lyriker darauf fokussiert im laufe seines lebenswerks frauen immer mehr zu »domestizieren« - also ihnen die »sexuelle Bedrohlichkeit« zu nehmen und zulezt - im NEUEN REICH - »das Weibliche« gänzlich »auszulöschen« (vergleiche 2010, 258-62). Als gäbe es nun auch schon in der lyrik eine frauenquote die kein dichter unterschreiten darf.
Es mag nicht immer jede der wenigen und freilich allzu grellen farben ganz unpassend sein mit denen Osterkamp wie ein pop-artist sein simples gruselbild fertigt das er dem massenmarkt seit jahren als porträt Georges andreht. Aber ihm gerät die these zum zentralen dogma dem er jede einzelne interpretation unterordnet. In 6205 verschwindet eine geheimnisumwitterte frau - als zigeunerin wird sie »DIE FREMDE« genannt - im moor nach einem leidvollen leben als aussenseiterin. Osterkamp aber interessiert sich nur für eins: dass George »mit lässiger Gebärde die fremde Frau in den Schlund stößt«. Das gedicht ist ein ernstes plädoyer gegen rassismus und wer hier eine »lässige Gebärde« zu erkennen glaubt kann nicht viel verstanden haben. Vor allem gibt es im ganzen gedicht keinen »Schlund«. Sechs gedichtbände hatte George nach dem BLUMENELF bereits herausgegeben. Aber noch immer vergisst Osterkamp keine jugendsünde (wobei selbst dieses wort noch fehl am platz ist). Ihm bleibt George für immer der dichter des BLUMENELF. Weil das verführte kleine wesen im alpenrosen-schlund landete, vergilt Osterkamps George - ebenso nachtragend und unerbittlich wie sein erfinder - seitdem gleiches mit gleichem: und so wird einfach das moor zum »Schlund« umgewidmet - in Osterkamps willkür. Doch alles wichtige bleibt ungesehen und ungesagt. Indem er DIE FREMDE in sein BLUMENELF-Georgebild hineinzwang hat sich sein ganzes interesse an dem gedicht bereits erschöpft - und Osterkamp sich als germanist disqualifiziert.
Wer sich zu einem gedicht Georges äussern möchte ohne es richtig lesen zu wollen könnte zuvor wenigstens einmal M aufschlagen. Dort wären auch Osterkamp die augen geöffnet worden: der blumenelf fällt gar nicht in den schlund der alpenrose. Als hätte der junge George vorausgeahnt wer sich einmal mit dem BERGELF beschäftigen würde · kennzeichnete er berg-»schacht« und »schlund« mit demselben attribut »gähnend« als identisch. Zu erkennen dass auch diese maassnahme umsonst sein werde hätte freilich jeden seher überfordert.
Im fallen die gar »nicht weit« von ihm wachsende alpenrose küssend - nur Osterkamp fabuliert wie es ihm gerade passt von »einer weit unter ihm verorteten Alpenrose« (2010, 258) - die er also mit hinunterreisst in den viel tieferen »gähnenden« berg«schlund« stirbt der tapfere elf »in brennender lust« · kaum schlechter als es die sage von könig Attila berichtet. Die frage ist nicht abwegig ob der ja keineswegs lebensmüde elf sich nicht in lezter sekunde noch auf seine rettenden flügel besann · oder der grusel des »sichern verderbens« (für den die massen in den »erlebnisparks« unsummen zahlen) gewollt war und zur »brennenden lust« gar ebenso beitrug wie der nicht gerade zärtliche kuss der völlig überraschten blume. Sicher ist hingegen dass die stunde seines ungewissen todes auch die stunde einer geburt war: der zentralen these Osterkamps · der grundlage seines ganzen George-verständnisses · des »Georgeschen Schreckbilds der Frau als Schlund« (2010, 270). Einer these die auf nichts anderem beruht als dem banalen irrtum einer des lesens nicht immer mächtigen popular-germanistik. Es gibt bei George keine alpenrose mit schlund (anders als Attilas gespielin ist das blümchen schon über den blossen verdacht erhaben) · daher auch keine frau mit schlund · und folglich erst recht kein »Schreckbild der Frau«.
Wie viele andere dichter der weltlitteratur vor ihm · zumal christliche wie etwa Eichendorff · hat der achtzehnjährige schüler lediglich zum ausdruck gebracht dass es einen preis kostet sich von leidenschaften regieren zu lassen - indem er sich des biedermeierlichen blumenelfs seiner ältesten kinderbücher bediente und ihn (nicht einmal ohne witz) zum tragischen helden eines dramatischen geschehens transformierte. Die frau mit schlund und der mann mit sexualangst aber existieren nur bei Osterkamp - als seine projektionen: die »sexuelle Verlockung« der alpenrose habe den todessturz ausgelöst. Dabei kann man das gedicht zehnmal lesen: die alpenrose blüht zehnmal nur in aller unschuld. Es gibt kein augenzwinkern · kein laszives räkeln · und singen kann sie auch nicht. Ihr »rötliches kleid« zieht sie niemals aus - sie hätte darunter ja auch nichts zu bieten. George unternimmt sichtlich alles um die züchtige alpenrose gerade nicht als dämonische verführerin in misskredit zu bringen. Das ganze liebesdrama wird allein vom »blinden wahn« des jungen mannes verursacht - dem die schuldlose alpenrose ja schliesslich zum opfer fällt. Ihr schicksal nimmt Osterkamp genauso wenig zur kenntnis wie den untergang der in den tod getriebenen ziganen FREMDEN in 6205.
Die seriöse germanistik sollte die frage wessen vorstellungswelt in wahrheit misogyn sei noch einmal ganz neu aufwerfen.
0118 Wenn die gärten ganz verblassen
Eine auseinandersetzung mit dem jugendlichen hang zu melancholie und einem pessimismus den der erwachsene George weitgehend überwinden wird.
0119 DIE ROSE
Ein schon eigenständiges gedicht in ganz besonderer gestaltung. Die erste strofe ist als klage der rose aufzufassen auf die in der zweiten strofe eine verständnislose antwort erteilt wird: dass jeder blüte eine frucht folgt ist für eine rose (angesichts der wenig beeindruckenden hagebutten) nicht tröstlich. Der dritte sprecher hinter dem sich der Dichter selbst verbirgt vermag sich deshalb mit der rose zu identifizieren: ihn plagt das gefühl ebenfalls kaum vorzeigbare früchte hervorzubringen die hinter den sozusagen als blüte vorangegangenen »süssen träumen« weit zurückbleiben. Das eigene dichterische unvermögen wurde schon in 106 beklagt.
0120 Drunten zieht mit bunten wimpeln
Eines der besten gedichte der FIBEL: knapp in der sprache · dicht und lebendig. Es macht bewusst wie nah Georges blick auf Rhein oder Nahe dem Eichendorffs auf die Oder (oder auch den Neckar) kommen kann. Das nebeneinander von lebenslust und tod verliert durch die hinzunahme der »mühsal« des winzers seine herkömmlichkeit · gewinnt eine regionale färbung und damit authentizität. Hinzu kommt mit dem abschliessenden hinterfragen ein jugendlicher gestus.
0121-3 GRÄBER I-III
Es folgen drei nicht sonderlich gut zusammenpassende beispiele für friedhofspoesie: der ganz herkömmliche makabre totentanz · die fromm-biedere und sprachlich behäbige belehrung der hadernden mutter und zulezt die hübsche reflexion über den unterschied zwischen der grösse der liebe und der kleinheit des grabes.
0124 Es zuckt aus grauem wolkenzelt
Eine behandlung der frage ob eine überwundene liebe sich noch einmal in alter stärke erneuern kann.
0125 FRÜHE LIEBE
Eine ähnliche aber eindrucksvolle antwort auf dieselbe frage.
0126 Es heulet der dezemberwind
Wie in 0113 geht es um die frage der parallelität von menschlichem gefühl und natürlichem ablauf. Dort wurde sie befürchtet · hier wird sie geleugnet. Denn der »neue tageshimmel« wird nur die dezemberstürme beruhigen · nicht aber das in der eigenen brust empfundene »kampfgewimmel«.
0127 DES KRANKEN BITTE
Alter und tod hat natürlich auch der erwachsene George thematisiert. Immer hält er an dem gedanken fest dass ein sterben in der zurückgezogenheit wünschenswert sei (vergleiche etwa 4114 und 6124) - und wich auch selbst nicht davon ab.
0128 IKARUS
Der sprecher spricht sich selbst wie den abgestürzten oder abstürzenden Ikarus an wobei er seine »flügel« - also seine veranlagung dichten zu können - als ein geschenk des »geschicks« darstellt. Die abschliessende aufforderung ist nicht ironisch oder sarkastisch gemeint - was im fall des Ikarus auch wenig einfühlsam wäre. Der sprecher glaubt vielmehr daran dass für ihn noch hilfe möglich ist · erwartet sie aber allein von sich selbst. Das wird für Stefan George ein fester grundsatz bleiben. Auch von der muse oder dem engel wird er sich nicht helfen lassen - es sei denn sie seien als verdopplung seiner selbst zu erkennen.
02 ÜBERTRAGUNGEN 021-7
Die ÜBERTRAGUNGEN werden als teil des ersten buchs der FIBEL angesehen.
021 MENSCHEN UND KINDER
022 DAS GLOCKEN-KONZERT
023 LUKRETIA
024 DES KINDES ERSTER SCHMERZ
025 ZU EINER INDISCHEN WEISE
026 CHOR DER UNSICHTBAREN
027 CHOR
03 VON EINER REISE 1888-89 0301-12
Der titel des zweiten buchs der FIBEL bezieht sich auf die drei ersten auslandsreisen (nach London · in die Schweiz und nach Oberitalien · nach Paris) mit denen George gleich nach dem abitur begann und die durch zwei so kurze aufenthalte in Bingen getrennt waren dass George sie hier als eine einzige reise auffasst. M bemerkt es sei George damals lieber gewesen »zu hart und nicht flüssig« zu schreiben als »›poetisch‹ im damaligen Zeitgeschmack« zu erscheinen.
0301 DIE GLOCKEN
vergessen : hier keine alterserscheinung sondern wie bei Nietzsche eine vornehme tugend im sinne von grosszügigkeit angesichts vergangener fehler oder schuld anderer. Wer beispielsweise sein urteil über George ausschliesslich von der FIBEL herleitet verfügt über diese tugend nicht.
Ein nachdenken über die wirkung von glockengeläut auf den knaben (»Als ich schwach war«). Ute Oelmann hat daran erinnert dass Georges elternhaus neben der stadtkirche stand (SW1, 120). Das geläut symbolisiert den druck den er seitens der kirche auf sein gewissen ausgeübt fühlte. Damals konnte er noch nicht herausfinden ob dieser druck zu recht empfunden wurde oder ob er als »trug« einzuschätzen sei. Die reise hat ihn erwachsener gemacht und so geht er mit dem klang der glocken souveräner um. Er vermag nun selbst zu bestimmen was sie ihm bedeuten.
Das gedicht ist schon von ganz anderer qualität als die FIBEL-gedichte und bezeichnet ein neues verhältnis zur kirche von der er sich nicht ausdrücklich lossagt. Sich von ihr unter druck setzen zu lassen ist er aber nicht mehr bereit.
0302 Ich kam als der winter noch thronte
sänger : singvögel
einen langen sommermorgen : sein leben sieht der sprecher im stadium des frühen sommers.
Im april 1888 erreichte George London und blieb dort fünf monate. In dieser danksagung an England meint man im lezten vers eine kritische andeutung zu spüren: die reise habe »ihm das schon damals am meisten Ersehnte: innere Nähe zu Menschen nicht vermittelt.« (M)
0303 NOVEMBER-ROSE
totentag : Allerseelen
In dem dialog zwischen sprecher und antwortender rose kündigt sich eine neue sprache an. M nennt sie allerdings noch »besonders spröde« und ordnet die fünf gedichte bis 307 der im späten oktober 1888 angetretenen reise nach Montreux in die Schweiz zu. Zu der frage ob das gedicht auf den auch anderen jugendlichen nicht fremden gedanken an einen freitod hindeuten könnte äussert sich M nicht.
0304 DIE SCHMIEDE
Wie 0301 beruht dieses gedicht auf einer jugenderinnerung - nicht an den klang der glocken sondern einer schmiede deren lärm den jungen George in Darmstadt auf dem morgendlichen weg zum gymnasium quälte (M). Dem sprecher kommen die schläge des maschinenhammers vor als würden neue nägel gefertigt die das seiner seele in der schule umgelegte »zwangskleid« zusammenhalten. Aber wie in 0301 bekommt der klang nun eine neue bedeutung. Der lärm der auf der reise besuchten werkstatt wird in der lezten zeile ins positive gegenteil gewendet: nicht mehr am zwangskleid sondern an der »befreiung« wird hier geschmiedet.
0305 DER SEE
M bezieht das gedicht auf eine bootsfahrt auf dem Genfer see - etwa von Montreux in richtung Genf - die den blick links auf das französische und rechts auf das schweizerische ufer ermöglichte. Sonne und gebirge dessen spitze schneebeckt sind werden als fee und riesen ins märchenhafte gerückt.
0306 SEEFAHRT
ave-glocken : ein auch abends ertönendes läuten mit dem die katholischen gläubigen daran erinnert werden ein Ave Maria zu beten
Der sprecher beteiligt sich nicht an dem kindischen gelächter der »freunde« die sich über die frommen betenden lustig machen obwol er sich als ebenso wenig gläubig wie seine kameraden einschäzt. Sich auf kosten anderer - erst recht ihres religiösen empfindens - zu belustigen beruht auf einem mangel an innerer vornehmheit. Dem sprecher ist das versagen seiner gefährten peinlich.
Der ton des gedichts kommt stellenweise dem eines berichts nahe was Ms bemerkung bestätigt dass George schon damals nicht mehr im herkömmlichen sinn »poetisch« wirken wollte. Insbesondere ist der satzbau so einfach wie möglich gehalten.
0307 UNSER HERD
Ein solch reines genre-bild aus einer bauernstube kommt bei George selten vor. Wie schon dem vorigen gedicht liegt auch hier der respekt vor dem einfachen leben der ländlichen bevölkerung zugrunde. Erneut fallen die ganz nüchterne sprache und haltung auf: zum idyll soll weder die kirchen- noch die küchenszene entarten. Das gedicht entstand wol in Ponte Tresa an der schweizerisch-italienischen grenze · direkt am Luganer See.
0308 STIMMUNG
Das gedicht lässt das für George bezeichnende empfinden angesichts von menschenmassen erkennen. »Stimmung« ist nichts erstrebenswertes. Dabei übersteigen die heute geläufigen erscheinungen des industriellen tourismus das abendliche geschehen auf der Mailänder piazza del duomo bei weitem. George gehörte zu den menschen für die der tod den segen bedeutet das spätere nicht mehr erleben zu müssen: die steigerung der lautstärke ins unerträgliche die ein um das vielfache gesteigertes nichtssagendes trotzdem nicht mehr zu verbergen vermag.
0309 SONETT NACH PETRARCA
Im alter von dreizehn jahren war Georges interesse an Petarca erwacht wie erhaltene abschriften belegen. So beruht dieses gedicht auf einer vorlage aus Petrarcas Canzoniere. Die vorstellung des dritten himmels hatte Petrarca von Dante übernommen. Hier ist er der ort wo der sprecher der seele seiner geliebten im traum begegnet deren lebensreise »vor abend« zu ende gegangen ist. Sie macht ihm hoffnungen und entzieht sich unerwartet doch - wie so oft in einem traum.
0310 ERSTER FRÜHLINGSTAG
Von ende februar bis anfang april 1889 hielt sich George - von Montreux kommend - in Oberitalien auf · kehrte dann nach Bingen zurück um noch im april die für den zwanzigjährigen so entscheidende reise nach Paris anzutreten wo er bis august ein hotel im Quartier Latin bezog. Die erinnerung an die ersten - wol an einem der oberitalienischen seen verbrachten (M) - frühlingstage verblasst im norden rasch wieder wo der sprecher den kampf des frühlings gegen den winter von neuem erlebt. Als das laub die bäume schon grün färbt denkt der sprecher in einem der Pariser parks (M) darüber nach dass er auf die »grosse« liebe noch immer wartet und einige »kleine lieben« (M erinnert an 103) nur willkürlich herbeigezwungen waren.
0311 Die alte liebe noch?
Aber auch die kleinen lieben werden recht intensiv erlebt - wenn auch nicht immer auf dieselbe weise: »das heilige« der ersten geht bei den späteren schliesslich ganz verloren. M geht so weit zu behaupten dass es durch »erdhafte Sinnlichkeit« ersezt werde. So unverblümt drückt er sich nicht immer aus.
0312 KEIM-MONAT
Das kann nur daran liegen dass M sich vom lezten gedicht eindeutig bestätigt fühlen muss. In der tat genügen ein blick ein atemhauch und erst recht eine leichte berührung um im sprecher körperliche erregung auszulösen. Der keim-monat (der »germinal« vom einundzwanzigsten märz bis zum neunzehnten april im republikanischen kalender von 1789) bietet allerdings nicht mehr als die klimatische bedingung der möglichkeit eines keimens. Die vergangenheit - immerhin ja auch die zeit als in der liebe noch das heilige empfunden wurde - wird demgegenüber als zeit des todesschlafs verspottet. Die ungewohnten übertreibungen wecken den eindruck dass wenigstens dem jungen George selbstironie auch im gedicht bisweilen noch möglich war. M bleibt nüchtern und weist auf die notwendigkeit hin eine angemessene überleitung zu den ZEICHNUNGEN IN GRAU zu schaffen - wo »die Sinnlichkeit der Liebe die entscheidende rolle spielt«.
04 ZEICHNUNGEN IN GRAU 1889 041-9
Im sommerlichen Paris hatte sich George mit Baudelaire beschäftigt und unter diesem eindruck nach der heimkehr im oktober seine grisaillen - oder auch im gegenteil »stark farbig« gehaltene gedichtfolge »auf grau getöntem Papier« (so jedenfalls M) - wie auch die erste der LEGENDEN (051) in der an das spanische angelehnten lingua romana begonnen. Das war eigentlich keine neue geheimsprache - sie sollte nur gut klingen und sogar für jeden verständlich sein (der die romanischen sprachen beherrscht). Diese texte (041 bis 045) wurden anschliessend ins deutsche übertragen und können erst dabei ihren merkwürdig ungelenken ton erhalten haben. M nennt sie »expressionistisch in Inhalt und Ausdrucksweise« (wobei er ja - eigentlich kein germanist - auf das blosse »Schlagwort« keinen wert legt).
Der erste niederschlag der direkt anschliessenden weiterreise nach Spanien im spätsommer findet sich in den HYMNEN (104) und dort sind dann tatsächlich statt der »ungestalten puppen« ohne jeden übergang auf einmal die ganz andersartigen leuchtenden falter zu beobachten von denen die VORREDE sprach.
Maik Bozza hat die ZEICHNUNGEN eingehender als bis dahin üblich untersucht (der Werkkommentar 2017 beispielsweise kommentiert hier · wo eine hilfestellung nun wirklich einmal erforderlich gewesen wäre · leider gar nichts und schweigt zu allem) und dabei auf die in 046 bis 048 (die 1901 noch den abschluss der gruppe bildeten) erkennbare wendung gegen Baudelaire hingewiesen: besonders in dem eher »vitalistischen« (2016, 91) als dekadenten 046 (wo George Baudelaires Sonnenuntergang einen -aufgang entgegensezt) und dem festhalten an einem überzeitlichen klassizistischen schönheitsbegriff in 048.
041 FRIEDE
Das denken wird der rastlosen jagd zugeordnet die bei tageslicht stattfindet. Dagegen steht das sinnen beim ungestörten abendlichen alleinsein. Mit der konzentration auf das von einer fensterscheibe zurückgeworfene lampenlicht (eine strassenlaterne ist wol eher nicht gemeint) sind quälende gedanken eigentlich schon überwunden. Hinter dem wunsch die knie zu beugen und zu beten klingt steckt eine sehnsucht nach der kindheit · als der zu beginn angesprochene drang jagen zu müssen noch nicht empfunden wurde. Diese wehmut tritt ähnlich in 045 auf. Bozza erkennt in dem gedicht bereits die zeichen einer »Sehnsucht nach der Rückkehr hinter die ›modernité‹« als folge einer erschöpfung durch »Geschwindigkeit und Massen« (2016, 93).
042 GELBE ROSE
M sieht hier nichts als die an eine kurze begegnung anknüpfende nächtliche vorstellung einer frau die »einer indischen geheimnisvollen Göttinstatue« gleiche. Das gedicht schwebt aber genau in der mitte zwischen blumen- und frauenbild. Auch eine gefüllte rose verfügt über ein auge das lange »dichtbeschattet« verschlossen bleibt und erst zulezt · bei vollständiger öffnung der blüte kurz vor dem verblühen oder »sterben« sichtbar wird. Gelbe teerosen wurden aus dem fernen osten eingeführt und spielten im neunzehnten jahrhundert gerade in Frankreich eine grosse rolle in der rosenzucht. Wegen ihrer frostempfindlichkeit waren sie nur für einen »warmen luftkreis« im gewächshaus geeignet. Das anspruchsvolle und damals luxuriöse gewächs eignet sich natürlich als bild für eine entsprechende dame.
043 DAS BILD
larven : masken. Hier eher erinnerungen an gesichter die in ihrer undurchschaubarkeit masken gleichkommen.
Das gedicht kreist um die erfahrung dass sich nichts willkürlich ins vergessen stossen lässt und selbst das ungewollt vergessene zurückkehren kann um »sein recht« einzufordern.
044 PRIESTER
Eine übung in der verkürzenden schreibweise: weisen · liefern für verhaltensweisen · ausliefern. Dazu gehört auch die auslassung des verbs am anfang der zweiten strofe.
»Priester« werden hier prostituierte genannt die es wie priester (oder besser als priester) vermögen das »lächeln der seligen« hervorzurufen · allerdings nur indem sie sich »selber zum opfer« bringen. Im grunde scheint das aber für den mann in ähnlicher weise zu gelten der sich durch sein verhalten sozusagen ebenfalls aufgibt - ohne sich dessen bewusst zu sein. Beide haben in der nacht ihre »freuden« erlebt und unterscheiden sich eher darin dass - wenig überraschend - ausweislich der mimik nur er völlige befriedigung erfuhr während sie vielleicht von mehr als bloss körperlichem genuss träumt (oder für die freunde der misogynie-these vermutlich die pure unersättlichkeit verkörpert).
In der dritten LEGENDE 053 werden kirche und faszination des »leibes« ganz ähnlich gegeneinander gestellt - und mit vergleichbarem ausgang: die macht der frommen brüder wird durchbrochen. Und hier nun sind die neuen »priester« jene die ihre leiber zelebrieren.
Im morgennebel gehen mann und frau eilig davon: beide haben ihre gründe nicht miteinander gesehen werden zu wollen. Der sprecher versagt sich angesichts des jugendlichen alters beider eine moralische verurteilung. Auf eine ästhetische verzichtet er nicht: er glaubt anzeichen von hässlichkeit zu erkennen die er auf »orgien« zurückführt. Gerade unter beachtung des anschliessenden gedichts scheint es sich um eine projektion des religiös erzogenen zu handeln. Vielleicht sind diese worte aber auch gar nicht ganz ernst zu nehmen klingen sie doch wie ein zitat oder gar eine pflichtübung.
Jedenfalls behält die verurteilung nicht das lezte wort: eine gewisse faszination geht von dem paar wol doch aus. Dass »haltung und gang« erkennbar jugendlich sind stellt die behauptete hässlichkeit deutlich in frage die sich darin erschöpft dass lediglich der blick oder gesichtsausdruck jene spuren sexueller erfahrung (»orgien«) verrät die George in der tat als ausweis von gewöhnlichkeit nicht schäzte (vergleiche auch den »blick« des jungen in 7609). Dafür spricht auch der erste vers der zweiten strofe. »Des lasters majestät« bedeutet dass diese unschönen spuren das vorrecht allein dieser begehrlichkeit sind und ansonsten - bei dem von George bevorzugten »scheuen« ausdruck - nicht auftreten können. Andererseits lässt sich nicht leugnen dass »majestät« ganz ohne eine gewisse würde kaum denkbar ist · zumindest aber auf kraft schliessen lässt. In einer früheren handschrift findet sich für »ohne klugen rückhalt« die variante »ohne klüglichen rückhalt«. Damit lag die betonung noch deutlicher auf dem kalkül · dem bürgerlichen gegenspieler echter leidenschaft: ein hinweis dass den beiden jungen leuten die ihr begehren ohne kalkül ausleben durchaus sympathie entgegengebracht wird.
Der unentschlossene · ja widersprüchliche standpunkt des sprechers ist nicht die einzige merkwürdigkeit des gedichts. Am ende der lektüre wird man die überschrift als irreführend empfinden da eine priesterin doch undenkbar wäre. Hinzu kommt dass die oben vorgetragene metaforische deutung des begriffs nicht unbedingt zwingend wirkt. Die rechtslage im kaiserreich hätte allerdings angesichts eines derartigen priesterlichen rendez-vous zu so schwerwiegenden konsequenzen geführt dass George keine andere möglichkeit gesehen haben dürfte als die überschrift zulezt selbst zu entschärfen indem er flugs einen der beiden mit neuer geschlechts-identität ausstattete - was leicht als billiger überraschungs-effekt misszuverstehen war. Nur bei dieser lesart ergeben die lezten vier verse - ohnehin durch zwei punkte deutlich abgetrennt - überhaupt erst sinn. Das könnte als zeichen zu verstehen sein dass sie nicht zum kern des gedichts gehören und nur angefügt sind um das eigentliche gedicht überhaupt zu ermöglichen. Dieses eigentliche gedicht endet dann wirkungsvoll mit der rechtfertigung der beiden »jugendlich«en die PRIESTER zu einem der ersten grundlegenden ethischen lehrwerke Georges überhaupt macht.
045 GIFT DER NACHT
der strafe / hässliche falten nicht kennt : nicht im sinne eines nicht-wissens. Vielmehr soll gesagt sein dass der sprecher als jugendlicher von den in der kirchlichen morallehre angedrohten folgen abweichenden sexualverhaltens (wie etwa vorzeitiges altern und hässlich-werden) nicht betroffen war.
Auch hier bezeichnet die »weise Lasterreiche« eine prostituierte. Ein treffen mit ihr ohne rücksicht auf die in 044 ausgeführten folgen war dem sprecher offensichtlich eine zeitlang erwünscht. Was er am tag oder eher am langen abend - er kehrt ja erst gegen mitternacht in sein zimmer zurück - erlebte (und nun in der nacht wie »gift« wirkt) bleibt ungesagt. Es scheint eine verstörende oder enttäuschende erfahrung gewesen zu sein die ein an eine regression erinnerndes verhalten auslöst: er träumt sich zurück in die unschuld der kindheit als sowol »wilde gelüste« wie auch deren hier als »strafe« bezeichneten konsequenzen ausserhalb seiner erfahrungswelt lagen. Dass er unter kirchlichem einfluss diese naivität noch lange bewahrte soll erklären warum er - obwol längst kein knabe mehr - beinahe in sein »unheil« gestürzt wäre.
046 EIN SONNENAUFGANG
Eine genaue beobachtung der nach ihrem aufgang immer kraftvoller · schliesslich fast bedrohlich werdenden wintersonne - vielleicht noch (im anschluss an 045) vom bett aus gesehen. Angekündigt wird sie wie eine attraktion in der zirkusmanege: erst als krönung eines langen satzes folgt ihre nennung.
M schreibt dem gedicht die bedeutung eines wendepunkts zu. Im sonnenaufgang sieht er ein bild für »die ein Dominieren des Weiblichen überwältigende Kraft des männlichen Lichtprinzips« die George »zum ersten Mal« verspürt habe · unabhängig von Bachofen. George habe bislang erwartet »dass ihm die ersehnte ›grosse‹ Leidenschaft durch eine das Männliche überwältigende Macht des Weiblichen offenbart werden würde« und »von nun an die Allkraft der Liebe als in ihm selbst verkörpert und von ihm ausstrahlend« verspürt. Doch hat der sonnenaufgang als bild für derlei wendepunkte seine tücken: folgt ihm doch stets der sichere untergang auch wenn George hier mit der mittagssonne abbricht als gäbe es kein danach. Schon in 049 ist das männliche licht kaum noch ein glimmen.
047 WECHSEL
Schliesst an 044 an: indem es den dort nur proklamierten »wechsel« nun umsezt. Die bejahung des leibes (im vorgriff auf 053 wo der begriff eine hauptrolle spielt) erfolgt vergleichbar mit 044 eher zögernd schrittweise. Wie dort (»priester«) wird auch hier ein begriff (»betete«) vom sakralen in den neuen erotischen zusammenhang verschoben.
Seinen ausführungen zu 046 entsprechend sieht M in diesem gedicht den ersten beleg dafür dass George es nunmehr in die macht des mannes legt ob und wann ein erotisches begehren entsteht. Es muss also nicht mehr beim »ersten Sehen« unwillkürlich ausgelöst werden. Der Werkkommentar will die frau nur als »Bild für Georges Verhältnis zur Muttersprache« auffassen (14) denn George überlegte ja damals das dichten in deutscher sprache aufzugeben.
048 EINER SKLAVIN
M trägt nicht viel zur erhellung der dunklen zeilen bei und von den sechshundert seiten des Werkkommentars 2017 wird den ZEICHNUNGEN IN GRAU ohnehin keine einzige geopfert. Doch Bozza 2016 öffnet einen zugang.
Ein bild von lehm : in zwei früheren handschriften sogar »von kot« um die absurde verehrung des »verklärten« götzen (götzenbilder wurden in frühen kulturen aus tonhaltigem lehm gebrannt) noch stärker abzuwerten der an die stelle des eigentlichen göttlichen (des »abwesenden heiligen«) · nämlich der gottgleichen idee des schönen (also eines unveränderlichen über der zeit stehenden) getreten ist. Der götze bezieht sich auf eine von Baudelaire (vergleiche Bozza 2016, 84ff.) vertretene dynamischere oder gebrochenere vorstellung des schönen als einem weniger reinen und mehr vermischten wo es nur für augenblicke blitzartig beleuchtet (»des augenblicks flamme«) wird (und nach ansicht des sprechers im grunde nur schatten wirft).
Das einst verworfene opfer : In der parallelkonstruktion der ersten zweimal drei zeilen nimmt die sechste auf die dritte bezug. Das einst verworfene opfer meint das mit der götzenverehrung verbundene menschen- oder jedenfalls brandopfer. Dadurch wird das scheinbar neue ideal als in wahrheit rückschrittlich - als wiederkehr des in der menschheitsgeschichte längst überwundenen - gebrandmarkt.
ruf und widerruf : rede und gegenrede
Aus künstlichem himmel : meint vielleicht doch nicht Baudelaires artifizielles paradies sondern eher den himmel der kunst (wo der sprecher der idee des schönen nahe ist)
Das gedicht enthält die vorstellung eines (allerdings denkbar einseitigen) gesprächs mit einem gegenüber das als sklavin bezeichnet wird: entweder weil der sprecher ihr befehle erteilt (die gerade auf das nichtzustandekommen eines gesprächs abzielen) und schweigenden gehorsam verlangt · oder weil die sklavin (wie sie etwa im Symposion auftritt) gerade keinen anteil nimmt an der unter Freien entwickelten platonischen ideenlehre (und dadurch eher der abgelehnten schönheitslehre zuzuordnen ist. Möglicherweise soll sie als sklavin sogar als zeitgenossin des götzen einzuordnen sein. In 1Kön 11,7 ermöglicht Salomo seinen ausländischen liebes-sklavinnen die verehrung des moabitischen götzen Kemosch). Das ihr abverlangte schweigen das sich der sprecher selbst ebenso auferlegt zielt auf die verweigerung von anerkennung und verehrung · aber auch schlechthin auf jegliche auseinandersetzung mit dem verabscheuten neuen.
049 IN DER GALERIE
Ein erlebnis in einer bildergalerie - der »welt der farben«. Aber im eintreten verlässt die frau den raum ohne die der erstrebte kunstgenuss nun plötzlich nicht mehr möglich ist: in jedem bild sucht das lyrische ich eigentlich nur sie - in der er eine mögliche verbündete gegen die unwissende stumpf dreinschauende und leer plaudernde »menge« erblickt hat mit der zusammen er »eine einzige mauer von auserlesnem« errichtet hätte. Die suche nach einem ersatz wird das vorherrschende thema der nächsten gedichtbände sein. M scheint die sich entziehende gar als eine vorahnung von Ida Coblenz aufzufassen: »Gedankliche Vorwegnahmen sind für Jugendschöpfungen aller echten Dichter geradezu charakteristisch.« Die germanistik des Kreises war einfach liebenswert.
IN DER GALERIE hätte auch einen weniger poetischen titel tragen können: VON DER UNENTBEHRLICHKEIT DER FRAU. 1901 fehlte es noch in der FIBEL. 1927 sorgte George dafür dass es aufgenommen wurde und als krönender abschluss des eigentlich lyrischen teils glänzen durfte. Das war der George der gleichzeitig sein leztes werk · DAS NEUE REICH zusammengestellt hatte - das »Reich ohne Frauen« in dem »die Erlösung von der Moderne mit der Erlösung von Weiblichkeit identisch« sei (Osterkamp 2010, 245). Dort habe George »systematisch jede Erwähnung von Frauen und jede Anspielung auf Weibliches ausgeschlossen« · also sein programm »der Auslöschung der Weiblichkeit« (ebd.) zum abschluss gebracht. Es ist von bösartiger raffinesse wie Osterkamp mit begriffen wie »systematisch« und »Auslöschung« George in die nähe des faschistischen Holocausts zu rücken versucht. Dass George gerade nicht »systematisch« irgendeine »Auslöschung« betrieb vermag eben die nachträgliche veröffentlichung von IN DER GALERIE im jahr 1927 zweifelsfrei zu belegen.
05 LEGENDEN 051-3
051 LEGENDEN I ERKENNTNIS
siehe: Fünf jugendbilder
052 LEGENDEN II FRÜHLINGSWENDE
siehe: Fünf jugendbilder
053 LEGENDEN III DER SCHÜLER
siehe: Fünf jugendbilder
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