56 TRAURIGE TÄNZE 5601-32
Viele der in drei gruppen eingeteilten (01-16 · 17-25 · 26-32) dreistrofigen vierzeiler entstanden 1895 · dem jahr als Ida Coblenz mit dem kaufmann Leopold Auerbach eine unglückliche und kurzlebige ehe eingang. Die freundschaftliche beziehung mit George wurde erst im folgejahr aufgegeben.
5601 Des erntemondes ungestüme flammen
Warum sind wintertage trüber? Es ist eben so und das erklären oder daran etwas ändern zu wollen wird sinnlos sein - so wenig wie die »ungestümen flammen« einer liebe die ihr höchstes stadium durchschritten hat noch künstlich erhalten werden können. Eine zeit »kurzer trennung« hat die veränderung erst richtig wahrnehmbar gemacht. Geblieben ist die erinnerung die - nicht mehr erfüllbare maasstäbe setzend - weiter«wirkt«: und alles nur noch trüber erscheinen lässt. Hier ist es sie der das neue erst langsam bewusst wird · die es nicht versteht und darüber ärgerlich wird. Sie lässt sich nicht einreden dass ihre erste enttäuschung sich doch eigentlich schon gelegt habe. Er aber kann wirklich nicht mehr so weinen wie früher wenn sie ihm fern war. Ida Coblenz wird hinter dem namen Lilia verborgen und die bezeichnung »kind« gilt wie so oft bei George einem jungen menschen auch wenn das alter eines kindes überschritten ist. Denn ihm ähnelt sie in ihrem nichtverstehen und dem trotzigen verhalten tatsächlich.
5602 Der raum mit sammetblumigen tapeten
Es ist kein streitendes paar: eben gingen sie noch arm in arm spazieren und immer noch haben sie sich etwas zu sagen. Nun in ihrem elternhaus - in Bingen · die schon etwas altmodischen tapeten sind von Ida Coblenz selbst bezeugt - findet am kaminfeuer und unter dem portrait einer verstorbenen vorfahrin das gespräch über den tod statt der auch ein erlösender sein kann. Die von eisblumen bedeckten fenster erlauben keine sicht ins freie. Der blick gilt ohnehin den zuckend sich umschlingenden flammen und das lezte wort heisst »treue«. Man spürt trotzdem eher trauer als hoffnung. Denn er glaubt nicht einmal mehr dass ihm die musen noch jemals günstig gesinnt sein könnten - und fragt ob »auch« in ihr alles wie erloschen sei. Da ist ihre antwort gar nicht mehr so wichtig. Und ihre würde behalten beide.
5603 Es lacht in dem steigenden jahr dir
Eppich und ehrenpreis : aus efeu und dem blau blühenden Grossen Ehrenpreis (veronica teucrium) können kränze geflochten werden.
Die ernte ist noch nicht eingefahren und deshalb wird das jahr auf dem land auch nach der sonnwende als »steigend« empfunden. Und doch hat die vegetation ihren höhepunkt bereits überschritten und ist die melancholie der herbstes schon zu ahnen. Das viermalige »noch« - möglich durch identische reime - unterstreicht das bevorstehende ende . . und weil es unabänderlich ist wirkt auch die resignative haltung des sprechers verständlich: die leidenschaftslosigkeit der beziehung erscheint ähnlich naturgegeben. Glücklich zu sein kann man natürlich nicht versprechen. Aber hier soll wenigstens haltung demonstriert werden und deshalb wird besser geschwiegen als sinnlos geklagt. So endet das abklingende verhältnis zu Ida Coblenz undramatisch und naturhaft langsam · nach 5602 wenigstens doch beruhigender. Hingegen wird in 5607 diese haltung wieder aufgegeben und ein sofortiger abbruch gefordert.
5604 Gib ein lied mir wieder
bilder seltne hohe : zwei nachgestellte adjektive
Hier wird die muse nochmals wachgeküsst - aber nur scheinbar. Denn angesprochen wird sie nur im ersten und dritten vers - und ist dann rasch vergessen. Im zweiten vers aber bezieht sich »deiner« auf die freudentage des sprechers. George bleibt der linie treu: seine muse ist von ihm selbst meist kaum zu unterscheiden. Und wenn er nicht einmal zu reimen fähig ist vermag sie ihm auch keine zu schenken. Der bitte kann also nicht folge geleistet werden. In den beiden nächsten gedichten geht es folgerichtig um die lieder anderer.
5605 Das lied das jener bettler dudelt
Schwach und ohnmächtig sind sie deren lieder hier gleich ob von dudelsack drehorgel oder pfeife begleitet für das sinn- und folgenlose stehen: der bettler · die blinde · kinder. In dieser reihe sieht sich auch der sprecher. Sein lob bleibt unbeachtet wie sein blick und alle seine bemühungen die mit einem bach verglichen werden der umsonst eine weite strecke zurücklegte. Das liegt daran dass ihre gefühle so oberflächlich geworden sind wie ein achtlos dahingepfiffenes kinderlied. Schlimmer! Denn die beiden lezten zeilen bilden die correctio: wenn das lied der kinder sogar nur den »übergang« verkörpert zu noch »stillern / Gefühlen« dann können diese nur die reine kälte sein. Gemeint sind damit nicht ihre sondern seine gefühle. Sie kann ihn nur »lieben« wenn seine gefühle für sie sich weitgehend abgeschwächt haben. Dass das gedicht mit dem verb »liebst« endet ist deshalb kein zeichen der hoffnung sondern reiner sarkasmus der George eigentlich fremd ist wenn es nicht gerade um Ida Coblenz geht. Das eigentlich bemerkenswerte ist aber die hellsichtigkeit mit der das ende der beziehung durchschaut wird - auch wenn alle verantwortung dafür bei ihr zu liegen scheint.
5606 Drei weisen kennt vom dorf der blöde knabe
Das motiv der drei lieder wird variiert: nun ist es nur einer der sie vorträgt aber erneut liefern die vergleiche ein gerade hier kaum zu übertreffendes maass an poetischem gehalt obwol alles wieder auf wirklich bittersten spott hinausläuft. Das erste ist so körperlos dass es mit einem hauch verglichen wird mit dem sich fromme vorväter · dem grab schon nahe · an gott wandten. Das zweite könnte vor langer zeit jungen mädchen dazu getaugt haben weihevoll ihre jungfräuliche tugendhaftigkeit zu zelebrieren. Das dritte klingt ganz anders: drohend und gewalttätig · wie eine männliche antwort auf das ätherische geschmachte. Aber die altertümliche und manchmal geheimnisvoll düstere schönheit der vorstellungen - die am spinnrad und auf den »abendstrassen« singenden mägde · die »himmel-blaue« messerscheide · der über geschlechterfolgen liegende fluch und die böses bedeutenden sterne über nächtlichen dächern - fängt alles bedrückende der individuellen beziehung auf.
5607 Stätte von quälenden lüsten
firn : der altschnee der etwa auf den alpengipfeln sogar den sommer übersteht.
Die selbstanrede die das gesamte gedicht durchzieht erfolgt nur im zweiten vers im plural. Auch das traditionelle bild von der schiffsfahrt die für den lebensweg steht prägt das gesamte gedicht. Der sprecher ermahnt sich gleich zweimal · am ende der ersten und der dritten strophe · dem strengen befehl seiner ernsten bestimmung zu folgen und die fahrt wieder aufzunehmen nachdem sie durch ein unglück unterbrochen wurde das mit einer selbsttäuschung einherging: der schiffbrüchige liess sich von sonne und lüsten so verführen (man denkt fast an die Odyssee) dass die küste an der er strandete als etwas zu ihm gehöriges oder ihm angemessenes missverstanden wurde so dass er sie hier »deine« nennt. Noch im laufenden »sinkenden« jahr könne der aufbruch gelingen - das ist auch eine absage an 5603 wo er im noch »steigenden« jahr glaubte sich in jenem garten mit wenn auch bescheidneren ansprüchen einrichten zu sollen von dem er jezt nur noch »fort« will . . wenn er die nötige stärke erlangt (M sieht »ruder« als metonymie für den arm) und sich nicht vom anblick schneebedeckter bergspitzen (M erinnert treffend an das landschaftserlebnis auf einem der oberitalienischen seen) beeindrucken lässt die für das unbegreifliche stehen.
5608 Die wachen auen lockten wonnesam ·
Die wachen auen : die nach dem winter nun erwachten wiesen. Hier als symbol für fruchtbarkeit und lebens-erneuerung und das lockend neue im leben · im gegensatz zu dem mit gittertor und eiben-hecken umgrenzten garten mit seinen veilchen.
wonnesam : eine altertümlich und abgegriffen wirkende minnesang-reminiszenz. Man kann sie als augenzwinkerndes zeichen verstehen den natureingang nicht allzu ernst zu nehmen. Auch das einzig anwesende und verstehende vögelchen war ein aus dem minnesang geläufiges motiv.
jährig : dem brauch folgend sollte innerhalb eines jahres nach der verlobung die hochzeit stattfinden. Wenn sie sich im frühjahr dafür geschmückt hat und der bräutigam im sommer noch immer ausgeblieben ist wird ihr anschliessender tod verständlich. Sie fühlt sich erst nur beschämt und errötet - um schliesslich zu erschrecken als die von ihrem stolz geforderte konsequenz ihr immer deutlicher bewusst wird.
fest der schnitter : nach abschluss der heuernte · also im frühsommer · haben die schnitter zeit zum feiern
fromm : hier ein adjektiv das nicht die religiöse gesinnung sondern die treue haltung der freundin ehren soll. In den epochen der empfindsamkeit und des biedermeier war es gebräuchlich mit dem schmuck auch eine haarsträhne geliebter verstorbener aufzubewahren.
schlanke anmut : George hat es nicht geschäzt sich mit beleibten menschen zu umgeben. Anmut ist eigentlich nur in verbindung mit der bewegung eher zarter gliedmaassen denkbar und spielt für die heute verbreiteten schönheitsvorstellungen gar keine rolle mehr. Hier ist »schlanke anmut« pars pro toto für die verstorbene und bezeichnet also das was sie schlechthin ausmachte. Noch in 9512 - dem lezten gedicht des lezten bandes - sind schlank und zart die wesentlichen körperlichen eigenschaften.
schrein : schrank oder truhe
schlichtes gras : traditionell wird eine üppige bepflanzung des grabs von selbstmördern als unangemessen erachtet. Hier zugleich eine bittere erinnerung an die einst so blühenden auenwiesen in der ersten zeile.
Nicht der bräutigam sondern die freundin ist der held des gedichts und die freundesliebe erweist sich als viel tiefer und echter als die alle sehnsucht nur enttäuschende geschlechtsliebe. M formuliert in aller vorsicht dass der schluss zulässig sei wonach George sich hier (wo ja ein lyrisches ich fehlt) mit der braut identifiziert. Da lohnt sich noch einmal ein blick zurück auf die unmittelbar vorangegangene lezte strofe von 5607. Bekanntlich war die reihenfolge in Georges zyklen nie dem zufall überlassen.
5609 Da kaum noch sand im stundenglase läuft
ried : feuchtgebiet · etwa ein moor (was als zeichen einer gefährdung verstanden werden kann)
Hingegen ist hier eine selbstansprache möglich: das sterben des jugendlichen lebens-wanderers soll dem lyrischen ich zum vorbild dienen. Die abgelaufene sanduhr ist aber - das ergibt den reiz - gerade nicht wie traditionell üblich unbedingt als symbol für das bald beendete leben des sprechers aufzufassen. Sie deutet jedoch den ernst seiner situation an.
Dann aber geht es nur noch um den jungen mann der anstatt erwachsen und unansehnlich zu werden durch nichts davon abzubringen war aus dem leben zu scheiden auch wenn damit die ganze ernte seines viel versprechenden lebens verloren gehen und ein freundeskreis betroffen zurückbleiben würde. Wie bei der jungen braut im vorigen gedicht mildert die erinnerung an seine schönheit kaum die erschütterung über den frühen tod - im bild des schmetterlings ist beides veranschaulicht.
Das gedicht wirkt wie eine unheimliche vorausdeutung auf den tod von Hans Anton der damals noch gar nicht geboren war und aus dem leben schied als er ungefähr so alt war wie George bei der veröffentlichung des bandes.
5610 Trauervolle nacht !
In dieser nacht stirbt nicht noch einmal ein mensch. Der tod der liebe aber wird wie ein menschlicher inszeniert. Im haus weint man um sie - so wie der sprecher weint als er aus dem hause stürzt. Damit ist die trennung vollzogen. Die verantwortung dafür übernimmt in diesem gedicht der sprecher und sie lastet so schwer dass immer der erste und der dritte vers nur unrein reimen. Was aber hat er sich denn gewünscht? Das ende der liebe - »weil sie ihm nicht die ersehnte Erfüllung gebracht hat« (M) - oder ihre vertiefung?
5611 Wir werden nicht mehr starr und bleich
feil : wohlfeil · zu geringem preis verkäuflich (also verzichtbar)
Das heute stille und beinahe unsichtbare erdulden von liebesleid wird den viel mehr nach aussen tretenden und geradezu wie ein kampf ausgefochtenen liebeshändeln früherer tage entgegengesezt. Am Ende sind wol nicht »Güter der Liebe« (M) gemeint denn »ihre« kann sich nur auf »Sie« beziehen: also auf jene ritter und fürsten bei denen der kampf um eheliche verbindungen stets auch ein kampf um macht und land war. - Das gedicht lebt wesentlich von dem ungewöhnlichen reimspiel.
5612 Ich weiss du trittst zu mir ins haus
säulen : antikisierender hinweis etwa auf eine festhalle
milder spruch : dem zunächst etwas unsicheren ratsuchenden wird eine antwort erteilt die er als woltuend empfindet
weiterzug : meint eine bloss räumliche trennung etwa wie bei der entlassung aus ärztlicher behandlung so dass der lebensweg (also meistens bildung und persönliche entwicklung) weitergeführt werden kann. Allerdings hofft ein den arzt aufsuchender sehr wol auf heilung während der gast des gedichts nicht in der erwartung eines persönlichen vorteils das haus betritt.
Weil es nicht mehr um herkömmliche liebe geht fällt alles klagen weg. Hier deutet sich die grundform des Kreises schon an der ja weniger eine gruppe als eine anzahl von beziehungen zwischen George und Einzelnen darstellte. Wie im Kreis gibt es einen »weiterzug«: der weiterziehende ist nun gestärkt für seine weitere entwicklung denn er hat trost erfahren und das leid hinter sich gelassen während sich die massen auf lauten partys nur betrinken.
5613 Dies leid und diese last: zu bannen
pein : eigentlich nur ein schmerz. Aber es kann eben auch »peinlichkeit« mitschwingen.
Wie ein gegenstück zum vorigen gedicht: denn wenn das ich dort noch zu helfen vermochte erscheint es hier wie ein selbst der hilfe bedürftiges. Merkwürdiger weise spielt 5613 in den biografien keine rolle · kann es doch wie ein schlüssel aufgefasst werden. M nennt es »eine Zusammenfassung der Symptome des Unerfülltseins«. In der tat wird zulezt alles auf einen nenner gebracht: das »weh der leere« mit sich ganz allein zu sein. Zuvor aber werden »leid« und »last« im einzelnen genannt: der verzicht auf das was schon »mein« zu sein schien und nun nur noch als »schein« besteht · die selbsttäuschung durch schliesslich doch vergebliches abstreiten · das »sich sträuben« gegen das unabwendbare · die »pein« auf der eine »schwere« so lastet dass er sie zu tragen müde geworden ist.
5614 Nicht ist weise bis zur lezten frist
Lass : verlasse (imperativ)
fleucht : ursprünglich »fleugt« · eine alte form von »fliegt« und daher dem nebel angemessen
»Jedes Handeln unter Zwang erschien dem Dichter würdelos.« (M) Das gilt erst recht für abschied und aufbruch und sezt die stärke der selbstbeherrschung voraus. Es hat also mehr würde den park beizeiten zu verlassen als ihn bis zum lezten augenblick zu geniessen und dann vom wintereinbruch verscheucht zu werden. So haben die zugvögel den weg ans mittelmeer bereits angetreten und die müden blumen beginnen schon im herbst zu welken. Motive aus NACH DER LESE werden aufgegriffen: an 5101 erinnern die imperative und das flechten des kranzes · hier aber durch einen bewunderten freund (»scheu« wird stets nur männlichen wesen zugeordnet) der ehrfürchtig und stark zugleich ist · an 5104 wo sich gemeinsamkeit in der geste der verschränkten arme ausdrückte die nun beim aufbruch gelöst werden. Und aus den »strahlenspuren« dort wird nun der scheidestrahl · der lezte sonnenstrahl nach dem das bleiben nicht mehr möglich wäre.
5615 Keins wie dein feines ohr
Sicher eine reine selbstansprache die drei eigenschaften hervorhebt: die fähigkeit das eigene innere mit grosser empfindlichkeit zu erfassen · die fähigkeit in allem von der bestimmung auferlegten auch das tröstende zu erkennen und so einen inneren frieden zu finden · die fähigkeit den kummer zu beherrschen (zu »besprechen«: wie mit einem zauberspruch zu heilen) der »uns« (nicht: dir) beim verlust von etwas leidenschaftlich geliebtem entsteht. Weil das ohne ein tiefes vertrauen undenkbar wäre nennt er sich fromm (auch wenn es nicht das vertrauen in gott sondern einen günstigen stern oder in die eigene kraft bedeutet).
5616 Mir ist kein weg zu steil zu weit
kluft : in der romantischen lyrik oft für eine gefährliche schlucht
kreuzen : sich (ähnlich wie Jesus) das kreuz tragend (in richtung des friedhofs) bewegen
Im JAHR DER SEELE wird die eigene seele bisweilen direkt angesprochen und hier »mein geleit« genannt weil sie alles und auch den lezten als eine art via dolorosa vorgestellten weg furchtlos mitmachen würde. Schliesslich steht die sühne (als inschrift auf grabsteinen in versalien) am ende auch jedem anderen bevor. Würdelos darf sterben nicht erfolgen und deshalb wird nicht zornig gehadert · und zerknirschte reue wird verweigert. Nur die wehmut lässt das auge ein wenig feucht werden. Es bleibt die sorge um die nachfolge. Wird sich der EINE finden lassen der allein geeignet wäre die dichtkunst so zu betreiben dass ihn der sprecher annehmen könnte?
Er wird sich natürlich nicht finden lassen - weshalb hier nicht ein todeswunsch sondern lediglich eine vorstellung gestaltet wurde: allein um zu zeigen dass kein »geleit« mehr vertrauen verdient als die seele (oder mit anderen worten: dass es ein anderes geleit gar nicht gibt). Auch eignet sich das szenario des gräberfelds als abschluss der ersten gruppe von sechzehn gedichten zumal gleich anschliessend von einem solchen aus - wenngleich mit üppigerem bewuchs - die nächste gruppe beginnen wird.
5617 Die stürme stieben über brache flächen
friedensföhren : nicht fichten sondern eigentlich kiefern. M denkt an alle koniferen wie sie auf friedhöfen beliebt sind weil sie in ihrem immerwährenden grün für die hier gemeinte ruhige atmosfäre sorgen. Er sieht in der mahnenden stimme die eines menschen der früher zu dem sprecher - M spricht vom »Dichter« - in enger beziehung stand und wol den ganzen friedhof als symbol früherer erlebnisse.
Es ist die zeit in der ein winterliches unwetter - so schrecklich als ob ferne götter zürnen - schon nicht mehr darüber hinwegtäuschen kann dass die vom schnee noch immer fast erstickte landschaft sich für das ihr angetane rächen wird. Auch das christusbild auf dem friedhof wird bald den »lenz« sehen und so bittet der sprecher - in der ahnung die neue jahreszeit nicht mehr selbst erleben - die frühlingssonne zu grüssen. Einem alten versprechen folgend klagt er nicht darüber · so wenig wie er je vor dem kruzifix weinte: das wäre ohne die inbrunst des glaubens »leer« gewesen. Wie im vorigen gedicht geht es um die angemessene haltung angesichts des todes - und um ein bekenntnis zum diesseits. Mit diesem gedicht aber hat ein zyklus begonnen der wiederum mit einem wintergedicht enden wird (5625).
5618 Geführt vom sang der leis sich schlang ·
Sehr gern wird George vorgehalten sich unermüdlich als eine dämonische herrschergestalt stilisiert zu haben. Das gedicht zeigt dagegen den sprecher als einen zerrissenen zweifler der sich nach einem spaziergang am ufer - erneut im späten winter - nichts mehr wünscht als ein ende der einsamkeit. Hier ist seine starke und bejahende seite die den frühling »schon« freudig vorwegnimmt noch nicht bestimmend und wird deshalb als »du« angesprochen (wogegen M in dem »du« der ersten strofen den »Begleiter oder die Begleiterin« zu erkennen glaubt). Das »ich« aber kann sich von den welken resten der vergangenheit »noch« nicht lösen · denkt an schmerzliche hindernisse und fühlt sich unsicher angesichts des nebelhaft unklaren das mögliche ziele noch nicht sichtbar macht. Wenn im april die primeln am uferrand blühen und das schilf austreibt soll ein helfer an seiner seite gehen.
Für Norbert Hummelt ist das gedicht »seit langem eines der schönsten und liebsten Gedichte Georges« (Jb 10, 24). Das ist nicht selbstverständlich · zitiert er doch selbst Gottfried Benns wort von den »fast einfältigen reimen« (ebd., 28). Einfältig sind die paarreime zwar nicht - aber schön doch eigentlich auch nicht (und das wird durch den noch so wolüberlegten binnenreim der ersten zeile nicht besser). Umso mehr muss das gedicht andere qualitäten haben.
5619 Entflieht auf leichten kähnen
Dieser begleiter ist ganz offensichtlich ausgeblieben. Die wonnen des bevorstehenden sommers allein zu geniessen würde dem lyrischen ich - es redet sich im plural an - »neues leid« bringen. Sie
sollen deshalb keine verzückung auslösen. Die flucht vor den sommerlichen attraktionen in die stille trauer wird schon jezt im frühjahr den tränenfluss mildern.
5620 Langsame stunden überm fluss ·
Den geradezu impressionistischen unschärfen des landschaftsbilds in der ersten entsprechen die unsicherheiten der stimmung in der dritten strofe. Schon zu beginn vergehen die gemeinsamen stunden nicht gerade wie im flug. Zulezt wird der eindruck nahegelegt dass das glück in eher unerreichbare ferne gerückt ist. Der bezug auf Ida Coblenz und Bingen ist wahrscheinlich.
5621 Der hügel wo wir wandeln liegt im schatten
bietet : gebietet
rain : grünstreifen oder böschung am rand eines ackers · in der tat oft mit sträuchern und wiesenblumen bewachsen
Das verb »webt« verleiht dem noch in der abendsonne liegenden hügel eine lebendigere aura (während der andere hügel im schatten schon »liegt«). Aber die zeit des ausschauens nach entfernteren zielen ist schon vorbei. Die mit der dämmerung zunehmende stille lässt entfernte geräusche stärker hervortreten während die geringere sichtbarkeit die aufnahmebereitschaft für woltuende gerüche stärkt. Die beiden miteinander beschäftigten nachtfalter (ihre leichtigkeit wird durch die metafer des scherzes zusätzlich unterstrichen) bilden den hintergrund vor dem sich die zumindest innere einsamkeit des sprechers erst schmerzlich hervorhebt und durch den abendlichen duft doch ins melancholische gedämpft wird. Fast schon mehr Trakl als George.
5622 Flammende wälder am bergesgrat ·
schlummer in klärender haft : in den fässern des winzerkellers gewinnt wein seine klarheit
seim : dichterisches wort für nektar · honig oder im weitesten sinn etwas woltuendes. Hier ist entweder der traubensaft oder das sonnenlicht gemeint.
In 5619 hatte sich das lyrische ich dazu bestimmt im frühling die flucht in die »stille trauer« anzutreten und so den genüssen zu entsagen die der sommer sonst bietet. Die dritte strofe macht nun darauf aufmerksam dass niemandem der »genuss« der frucht möglich ist der seine aufmerksamkeit nicht auch schon den knospen zuwandte - dem in der jugend eine liebesbeziehung verwehrt wurde. Vom frühling bis zum herbst wäre damit das ganze leben an ihm freudlos vorbeigezogen. Das besondere an diesem gedicht ist nun dass dafür in deutlich anklagendem ton - mit verstörend hartem enjambement - eine dritte seite verantwortlich gemacht wird: aber nicht ein stern · schicksal oder auch nur der Unglückliche selbst . . »man« kommt im ganzen buch nur zweimal vor und das stakkato macht hörbar dass auf diese frage keine poetisch gestaltete antwort möglich ist.
Die beiden ersten strofen dagegen liefern in reichen symbolen einen eindruck dieser genüsse wie sie einem anders gearteten - dem hier auch die anrede gilt - selbstverständlich sind (wobei eine selbstanrede im vierten vers nicht ganz auszuschliessen ist). Dass es sich um einen dichter handelt dem schon recht früh ganze gedichtzyklen gelangen - so könnte man »strauss und kranz« deuten - ist ebenso denkbar wie die anrede an Ida Coblenz die ja von ihrer schon erwähnten ersten hochzeit (im april 1895 · also tatsächlich »lang eh die traube quoll«) einen brautstrauss und haarschmuck mitbringen konnte. Fest steht dass diese mit »du« angesprochene person eine andere ist als die mit der dritten person gut getarnte der lezten strofe die aber dem sprecher viel näher steht.
5623 Der abend schwül · der morgen fahl und nüchtern
Recht verrucht ist sie - die seele. Auf lange nächte in schwüler luft folgen ernüchterte morgen und ihr trübes schmerzliches leben bleibt an gleise gebunden die durch ihre bestimmung festgelegt sind. Niemand würde für sie bürgen · der zugang zu den angesehenen kreisen bliebe ihr verwehrt. Und keine andere würde sich zu ihr hinunterbeugen - sie ist so andersartig. Wie ein dieb wird sie manchmal ergriffen oder ein anderes mal zur umkehr gezwungen so dass sie dem sprecher »seine« beute nicht bringen und dessen auftrag nicht erfüllen kann. Mehr als eine art gebet oder zauberspruch aufzusagen bleibt ihr nicht. Dann wäre sie erlöst - sollte das Erbetene nahen: »die Verleiblichung des Traumgefährten« (M). Aber sie murmelt diese worte immer wieder schon seit langer zeit.
M entfacht zu diesem gedicht ein feuerwerk der ablenkungen · erzählt von windstillen abenden am Rhein · von Hadrian von Plato und Dante. Und dann verrät er doch noch etwas von belang: die beute - das ist »vielleicht eine andre Seele«. Warum wird sie »schlimm« genannt? Weil sie ja auch der »feindlichen Umwelt« entstammt · meint M. Der George von 1897 sieht seinen platz jedenfalls nicht mehr im bürgertum. - Karlauf (2007) schenkt dem gedicht keine beachtung.
5624 Ob schwerer nebel in den wäldern hängt:
Ob : hier wie »wenn auch«
Hier geht es um das verhalten wenn orientierung verlorengeht: erst nur im nebel · dann in winterlicher landschaft · ja selbst wenn ziel und leitstern verlöschen.
Deswegen gibt sich das lyrische ich einige ratschläge. Die im nebel »bleichen bilder« der bäume sollten ihn nicht ängstigen wenn er versucht unbefangen mit ihnen zu sprechen.
M sieht in ihnen »Schatten früherer Erlebnisse« aber nur bäume könnten sich »schon regen« zumal ja die winde kurz bevorstehen. Und wie »gras und furche« im frost steinhart zu werden wäre falsch: ein besseres vorbild bieten die winterwinde die mit den welk gewordenen und wie in gram gebeugten einsamen bäumen leiden. Sich in der seelischen krise von der fixierung auf das eigene ich zu lösen könnte vor der müdigkeit und dem sturz von der böschung bewahren.
Nadja Küchenmeister spricht von einem »gewissen Lebenshilfe-Gestus« in manchen gedichten Georges. Freilich verliert der durch die selbstansprache seinen sonst vielleicht als unangenehm empfundenen ton. Wichtiger aber ist dass sich der leser dieses gedichts schon nach der ersten strofe wie »an der Hand genommen« und daher »doch seltsam gestärkt und getröstet« fühle (Jb 10, 87).
5625 Da vieles wankt und blasst und sinkt und splittert
M nennt das lied »die in klang aufgegangene seele«. Es verstummt im winter aber die erinnerungen an vergangene erlebnisse und alte wunden brechen immer wieder auf so wie es auch im winter heftige wetterwechsel gibt. Das lied versucht nur wahrzunehmen was anlass für hoffnung bietet: im trauerzug die leuchtenden fackeln und nicht die gebeugten gäste · in den dabei erklingenden schweren melodien die vielleicht etwas freudigeren töne · in der asche des vergangenen ein einziger heller funken. Auch dieses gedicht ist also wie das vorige durch ein bemühen um rettung und bewahrung geprägt. Es schliesst einen zyklus der mit einem wintergedicht begann (5617).
5626 Zu traurigem behuf
behuf : zweck
todesvogel : (wald)kauz
wüstenei : wüstenartige gegend
schacht : bildlicher ausdruck für die dunkelheit
Es beginnt ein lezter zyklus aus nur dreihebigen und beinahe spröde wirkenden versen. Dargestellt wird ein tag der nicht tag sein darf. Alle stunden sind so gleichermaassen grau dass nicht einmal am sonst teils besonnten · teils im schatten liegenden hügel der ablauf von tageszeiten erkennbar ist und in dieser dunkelheit sogar die käuzchen rufen. Der baum (in einer trauer-form mit stark hängenden ästen) und der ton erzeugen ein gefühl unentrinnbarer trostlosigkeit.
5627 Ob deine augen dich trogen
Eine sinnestäuschung die den sprecher in gefahr zu bringen droht dient hier als bild für eine verstörende selbsttäuschung. Um zu prüfen ob die herabgebrochenen äste von den wellen tatsächlich flussaufwärts getrieben werden steigt er selbst in den wirbelnden fluss. In warnendem ton fordert er sich schliesslich selbst auf das »spiel« abzubrechen für das er womöglich einen zu hohen preis bezahlen muss. Dazu verweist er darauf dass die wellen doch bereits wieder flussabwärts strömen.
5628 Ihr tratet zu dem herde
Es ist gar nicht so entscheidend ob in dem herd noch reste von glut gefunden wurden oder nur der »schein« davon oder ob wirklich »alle glut verstarb«. Der mond - er strahlt ja selbst nicht aus lebendiger eigener kraft und macht daher nur »leichenfarbenes« licht - sieht keinen sinn darin das aufflammen einer erloschenen liebe oder begeisterung zu erwarten und beschränkt sich auf das trösten - aber nur in einer gebärde. Der harte wechsel zu trochäen und die apodiktische knappheit seines »rates« klingen eher wie ein befehl. 5625 endete noch mit eher gegenteiliger tendenz.
Ein bekanntes und allgemein geschäztes und wiederholt gedeutetes gedicht.
5629 Wie in der gruft die alte
gruft : M stellt sich eine krypta vor. In den weitgehend unterirdischen dunklen raum fällt nur ein lichtstrahl aus einem ganz oben liegenden runden fenster · und zwar auf eine monstranz - ein prunkgefäss für eine reliquie das dadurch in glanz erstrahlen kann. Sie wird feurig genannte weil sie von einem vergoldeten strahlenkranz umgeben ist der die sonne symbolisiert. Beispielsweise in den fuss einer solchen monstranz waren oft ein oder zwei erd- oder himmelsgloben eingearbeitet. Hier sind sie mit vergoldeten bändern geschmückt. Das weisse lamm ist ein symbol Christi.
Der andere gegenstand in der krypta ist die »ampel« genannte alte hängelampe - in katholischen kirchen als »ewiges licht« die anwesenheit Christi symbolisierend und oft mit der monstranz kombiniert. Sie bezieht ihr »lebendiges« also eigenes licht das in der ostermesse entzündet und erst am gründonnerstag gelöscht wird von einem öllämpchen oder einer kerze. Es wird durch einen roten lampenschirm aus glas gedämpft der im gedicht »karfunkel« heisst um ihn dem roten edelstein gleichzusetzen. Dieses licht strahlt ein wenig ab auf grabplatten oder grabdenkmäler aus basaltstein.
Das gedicht wirft die frage auf ob eine glut - ein bei George geradezu zentraler begriff der mal liebe und mal eher begeisterung meint - aus sich selbst heraus entsteht oder im wesentlichen doch abhängig ist von einer von aussen kommenden entfachung. Die monstranz könnte ohne das fensterlicht nicht glänzen - ohne ihr gold aber auch nicht. Die ampel scheint aus sich selbst heraus zu leuchten - aber ihre lichtquelle bedarf ja zu ihrer entzündung ebenso eines von aussen kommenden eingriffs. Die lezte zeile hiess noch in der druckvorlage: »Es ist von fremder flamme.«
Andererseits wäre ihr licht ohne den ihr eigenen »karfunkel« nicht der rede wert.
Für die konzeption des künftigen Kreises ist das gedicht also von modellhafter bedeutung.
5630 Die jagd hat sich verzogen
von wannen? : woher? (veraltet)
hief : ein auf dem jagdhorn geblasener laut
In geradezu romantischem ton scheint es noch einmal um eine mögliche sinnestäuschung zu gehen · und düsterer als in 5627 lässt sich eine damit verbundene gefährdung ahnen. Ein jäger ist etwas zurückgeblieben · seine waffe nicht mehr gespannt · er aber vernimmt einen laut der weder von den jagdhunden noch von dem müde gewordenen wild herrührt · sich auch vom fernen echo der jagdhörner abhebt und ein gefühl der beklommenheit auslöst. Er scheint zu spüren dass er den laut den er zulezt »stimme« nennt nicht ignorieren darf. Vergeblich legt er das ohr auf den boden ohne dadurch sicherheit zu erlangen ob von ihm ein entgegengehen erwartet wird oder ob der ton näherkommt. Offenbar handelt es sich um eine stimme aus dem eigenen inneren. Schliesslich deutet er den laut als ruf.
Aber es wäre banal und völlig unwahrscheinlich diesen ruf als aufforderung zu verstehen sich der menge der jäger und treiber und ihrem blutigen geschäft wieder anzuschliessen. Er kann nur dazu ermutigen den weg in die absonderung fortzusetzen der zuerst gar nicht bewusst angetreten wurde und deshalb als verirrung erschien. Es scheint dass sich alles um eine berufung · die erfüllung der eigenen bestimmung dreht und eine gefährdung vielmehr darin läge sich der stimme zu entziehen.
5631 Es winkte der abendhauch
Als die seele zulezt erfährt dass jene andere seele eine ganz ähnliche »trübste stunde« durchlebte ist dies für sie eine »erlösende« erfahrung - weil sie zwar kein glück begründet aber wenigstens eine art schmerzens-gemeinschaft. Es wäre naheliegend das gedicht als versuch aufzufassen die abgebrochene beziehung zu Ida Coblenz ohne beschönigung doch so versöhnlich wie möglich zu bewerten und damit zu dem noch wesentlich hoffnungsvolleren lezten gedicht überzuleiten.
5632 Willst du noch länger auf den kahlen böden
Es ist vielleicht die seele selbst die das lezte wort in »ihrem« buch erhält weshalb hier auch die für den lezten zyklus charakteristische dreihebigkeit aufgegeben wird. Dass die erwartungen sich unter den herbstlichen umständen nicht verwirklichen lassen führt zu der aufforderung sich mit erinnerungen zu begnügen falls der sprecher sie hinter dem »schattenschleier« seines gedächtnisses wenigstens noch in einer gewissen unschärfe auffindet. Dann könnte im frühling ein befreiender wind die düstersten tage vergessen lassen während die erlebnisse an die man lieber zurückdenkt wie blumen an einem quell erblühen werden der jezt noch ausgetrocknet daliegt und so tot erscheint wie jener »totgesagte« park in dem anderen herbstgedicht zu beginn des JAHRS DER SEELE.
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