Dass seit 1846 die eisenbahnbrücke Venedig mit dem festland verband war für John Ruskin noch kein grund gewesen die Serenissima anders als auf dem traditionellen weg zu besuchen. Selbst Gustav von Aschenbach weigert sich noch Venedig über die "Hintertür" - über den Bahnhof - zu betreten. Eine verhängnisvolle entscheidung: ohne den eigensinn seines gondoliere wäre es zu seinem "Tod in Venedig" gar nicht gekommen. Als George im märz 1891 für eine woche Venedig besuchte hatten sich vorbehalte gegen die bahn überlebt. Und bürgerliche dünkel oder gar romantische sentimentalitäten waren ihm immer fremd. Das beweisen gerade auch die beiden in Venedig entstandenen gedichte 207 und 208.
Aber die hoffnung das ziel zu erreichen nehme in den PILGERFAHRTEN deutlich ab und deshalb seien sie wesentlich düsterer geworden als der erste zyklus · meint M der daran glaubt dass George auch schatten noch nicht eingetretener vorgänge habe wahrnehmen können - »vorausgeworfene« schatten also - und in betracht zieht dass die unglücklich verlaufene spätere begegnung mit Hofmannsthal für diese düsternis mitverantwortlich sein konnte. Ihm jedenfalls gilt die widmung in der öffentlichen ausgabe von 1899 und dort findet sich wiederum eine aufschrift:
ALSO BRACH ICH AUF/ UND EIN FREMDLING WARD ICH/ UND ICH SUCHTE EINEN/ DER MIT MIR TRAUERTE/ UND KEINER WAR
Der privatdruck erschien 1891 wieder mit einhundert exemplaren in edel-minimalistischer ausstattung.
Von den PILGERFAHRTEN wurden in anthologien aufgenommen:
Wolters: 202 · 212 · 216 · 222
Böhringer: aufschrift · 202 · 208
v. Schirnding: 208
Klett: 202
Osterkamp: 202 · 207 · 208 · 212 · 216 · 222
Es könnte eine weile dauern bis einem die PILGERFAHRTEN ans herz wachsen. Viele davon sind aber den HYMNEN kaum unterlegen.
siedlergang: der ausflug (nicht der aufbruch zu einer grossen pilgerfahrt) eines einsiedlers also eines menschen der für sich das alleinsein und die absonderung von anderen als lebensform gewählt hat. In der geschichte meist um sich gott · hier um sich der kunst zu widmen wenn man im siedler den Dichter sieht. Die nicht bürgerliche lebensform ist neben seinen nicht bürgerlichen werten und zielen das wesentliche an einem pilger wie er in den PILGERFAHRTEN verstanden wird.
geissel: geflochtener lederriemen mit stiel. Die zufügung von schmerzen durch selbstgeisselung war in mittelalterlichen klöstern ausdruck der bereitschaft zu busse und askese. Hier sind die eisigen winde gemeint die den einsiedler den winter über in die selbst gewählte isolation zwangen so dass er hier mit frommen asketen gleichgesezt wird.
klause: die bescheidene unterkunft eines einsiedlers
rain: hier grenzstreifen · böschung
schwälen: das schwelen des brennbaren zunders · hier metapher für seinen eigenen zustand
kimme: hier die linie die hügel und himmel trennt
gehrt: nach etwas gehren wie: etwas begehren
Die HYMNEN endeten im herbst und die PILGERFAHRTEN beginnen mit der ersten frühlingssonne. Der ungeliebte winter wird also übersprungen. Er brachte geisseln aus wind und eis die dem einsiedel nicht aufzubrechen erlaubten. Beim ersten sonnenstrahl aber verlässt er die klause und dieser strahl hat ihn nicht betrogen: die luft ist schon lau. Im monolog betont er das erlebnis der (vielleicht nicht zufällig französischen) farben in denen der von der sonne beschienene schnee funkelt und dagegen erscheint ihm nun die lange zeit in der klause recht einschläfernd. Er ist sozusagen hungrig nach sinnlichen reizen · daher euforisiert ihn was er beim erreichen des ihm bereits bekannten tales erblickt: mädchen mit purpurroten schleifen beim tanz. Sein fuss auf dem rain symbolisiert das hin- und-hergerissensein denn er weiss natürlich auch dass es ihm als einsiedler nicht zusteht solch einen tanz mitzumachen. Deshalb hasst er diese frauen ebenso wie er darauf brennt sie zum tanz zu greifen. David 1967 sieht in der »Versuchung« das eigentliche thema der PILGERFAHRTEN (58).
»Regressive Fantasien von Gewaltausbrüchen kompensatorischer Art« konstatiert der Werkkommentar zu dieser zeile (2017, 58). Der gelehrte befund soll wol eher beweisen dass der verfasser schon einmal in einem psychologie-lehrbuch geblättert hat. »Gewaltausbrüche« aber gibt es allenfalls in dessen »Fantasien«. Im vers von George · dem der tägliche konsum von videospielen noch fremd war · findet sich von gewalt nun aber wirklich gar nichts · so wünschenswert das zur dämonisierung Georges auch gewesen wäre.
Im gleichen moment sieht der einsiedel in seiner vorstellung auf der hügellinie wie auf treppen edle lichtgestalten schreiten die er sich nach eigener schönheitsvorstellung formte. Er erinnert sich wie er damals die dagegen eher geringe schönheit wirklicher mädchen verachtete und dies auch mit einer höhnischen frage und vielleicht auch einem lachen zum ausdruck brachte. Dass er diesen mädchen bereits früher im »alten tale« begegnet war hatte ja die dritte strophe bereits angedeutet und von ihnen wie magisch angezogen wenn auch halb unbewusst wird er nun diesen weg für seinen »gang« gewählt haben. Nun lacht er über seine damaligen ansprüche die ihm jezt übertrieben und unangebracht vorkommen. Womöglich ist auch gemeint dass er damals im hohn davon sprach er müsse lachen. Dass ihn die tanzenden jezt so reizen nennt er unter verwendung einer undichterisch-hässlichen klammer ihre rache dafür. Sein buchstäblich ausgedörrter sinn und das bedauern seiner einsamkeit lassen ihn jezt jedes noch so blasse gesicht · eine beliebige braue oder wimper oder einen geschmückten arm anziehend erscheinen (was ihn in Georges augen · so wie man George kennt · eigentlich vollkommen disqualifiziert). In diesem dilemma und diesem moralische abstieg - nicht zufällig tanzen die mädchen in einem tal - besteht das »strenge ende« seines ausflugs das er beim aufbruch nicht bedachte. Wie er sich nun tatsächlich entscheidet bleibt zunächst offen.
Die schwierige zwanzigste zeile deutet M - wie auch immer man das grammatisch nachvollziehen mag - dahingehend dass des einsiedels stimme keine der fernen »erträumten Gestalten« erreichen könne.
Die beiden lezten strofen übernimmt wieder ein sprecher der sich offenbar anderentags fragt wie die neuerlich zu treffende entscheidung ausfallen wird wenn der einsiedler beim tauen der eisblumen am fenster erneut aufbricht. Dabei wird klar erkennbar dass dieser sprecher ein mitmachen beim »lauten« feiern als schwäche ablehnt. Er hält es aber auch nicht für ausgeschlossen dass der einsiedler »noch einmal« zur »stillen« klause zurückkehrt zu seinen »treuen pergamenten« - wohl den manuskripten seiner dichtungen die der sprecher bemerkenswerter weise mit dem begriff »leben« verbindet - sie haben ja auch nichts zu tun mit der »toten weisheit« der gelehrten patres in 053. Unfassbar wie George die herkömmliche verbindung von treue und frauen verweigert und das adjektiv eigenwillig und provozierend dann lieber zu den pergamenten zieht !
Was die gabe sei die ihm die pergamente brächten?: das labsal des »traums«. Gestern ist er also zurückgekehrt weil er bereits wieder sehnsucht nach seinen schriften hatte · doch verrät der sprecher nicht ob er sich nicht zuvor dem tanz mit den frauen hingab. Die abschliessende frage klingt doch etwas skeptisch.
Alles läuft zulezt auf ein für George zentrales wort hinaus: den traum. Das bedeutet mehr als ein banales einschlafen. Es ist auch der traum von der dichter-existenz und der grossen kunst · der alternative zu den vergnügungen mit den roten frauen und der lebensform der mehrheit.
Während in 102 die entscheidung gegen das sinnenfreudige leben noch ohne zu zweifeln fällt · zeigt 201 einen wesentlich schwächer gewordenen dichter. Ihm ist mit klarem verstand sehr wol bewusst welchen abstieg es bedeutet den blick von dem hohen ideal (den übrigens nicht zwingend als frauen aufzufassenden lichtgestalten) abzuwenden und sich mit den frauen gemein zu machen deren in der ersten begeisterung bewunderter vermeintlicher purpur - als »greller« purpur aber insgeheim schon gleich zu beginn an nuttenschminke erinnernd - sich bald als ein ordinäres rot herausstellt. Aber nur der sprecher bezieht eindeutig position dagegen. Das im SCHÜLER 053 wie selbstverständlich aufgestellte verbot sich von sinnlicher leidenschaft erschüttern zu lassen scheint nun etwas brüchig zu werden - damit auch das beim schüler noch feste vertrauen in die allmacht des rationalen willens. In SIEDLERGANG kann man lernen was das bild wert ist das gern von George gezeichnet wird: eines unnahbar distanzierten übermenschen der es geliebt habe in herrscherliche pose zu erstarren. Hier - schon im ersten gedicht der PILGERFAHRTEN - ist er noch nicht einmal ein keuscher pilger. Auch dieser religiöse begriff wird blasfemisch ironisiert und die tendenz der HYMNEN insofern fortgesezt.
Natürlich ist es auch nicht gerade die regel dass George sich wie in diesem gedicht als schwach und anfällig darstellt (wobei er dem siedler freilich mit dem sprecher sofort ein zweites und linientreues alter ego gegenüberstellt) - und dies mit voller absicht. Die seltene konstellation hat den sonst scharfsinnigen M womöglich dazu gebracht sich in einen merkwürdigen widerspruch zu verstricken. Anscheinend aus purer gewohnheit George oder seine varianten in schutz zu nehmen bewertet er den einsiedler zustimmend indem er ihm einen fortschritt in seiner entwicklung zugesteht: er habe »durch den Gram vergeblichen Suchens« nun »gelernt, dass die volle, von ihm erträumte Schönheit im Leben nicht gefunden werden kann.« Wir haben den einsiedler zuvor aber nie als einen erfolglos suchenden gesehen. Vielmehr konnte er den ganzen winter hindurch die klause nicht verlassen und in den HYMNEN kam es nicht vor dass eine suche an fehlender schönheit oder zu hohen ansprüchen scheiterte. Dass M trotzdem einen anschluss an die nur mittelschönen aber lebendigen frauen offenbar nicht befürwortet scheint mir dann eine inkonsequenz zu sein wie sie ihm sonst eigentlich kaum unterläuft. Offensichtlich haben wir um M zu retten oder ihn richtig zu verstehen dem einsiedler den von M konstatierten lernerfolg zuzugestehen ohne daraus abzuleiten dass er sich folglich im leben mit weniger zufrieden geben müsse. Nie hat sich George für mittelmässiges ausgesprochen und nie war auch nur eines seiner gedichte als ratgeber für ein gelingendes mittelmässiges leben zu verstehen der zur selbstbescheidung aufrief (und das auch noch in schönheits-angelegenheiten).
Das würde eine neuerliche und verschärfte - wenn nicht sogar endgültige - abwendung vom profanen leben bedeuten (der albtraum aller sonntagspredigenden radioratgeberinnen) - und eine entsprechende hinwendung zu dem wofür die pergamente stehen.
SIEDLERGANG ist also ganz und gar nicht eine aufwertung des lauten und grellen »lebens« sondern im gegenteil eine warnung davor den wert der pergamente und des »traums« gering zu schätzen. Die vielleicht ohnehin nur kurzfristige und durch die besonderen umstände des langen winters auch ein wenig entschuldigte empfänglichkeit des siedlers für die doch so billigen lebens-reize hat überhaupt nichts mit einem dilemma oder widerspruch der Georgeschen konzeption zu tun sondern beweist nur das gegenüber der SCHÜLER-position gereifte tiefere lebens-verständnis. Und schon in 102 hatte der dichter nur »heut« und nicht jeden tag »den griffel zu führen«. Ein fanatischer ideologe der askese ist George nicht.
Noch wichtiger als in 201 ist hier der tauwind denn er sorgt für das tragische ende der mädchen die vom kirchgang und der ersten kommunion heimkehren und noch einmal dem eis vertrauen. Der einem pfiff ähnelnde ton mit dem das eis bricht ist ebenso auf ihn zurückzuführen wie das aufflackern der lampions oder lampen die die kinder tragen. In gedanken sind sie noch beim gottesdienst doch sieht man schon dieselben unterschiede wie bei den erwachsenen. Es gebe alte philister und junge · schrieb Eichendorff. Die jungen hier denken an das »naherflehte« · die geschenke an die sie beim beten dachten. Die weniger verführbaren sind noch ganz vom religiösen gehalt der gerade vernommenen »lehren« ergriffen. Die unterschwellige blasfemie der kleinen ballade liegt in dem triumf der schwarzen knaben über das christentum wenn sie die kleinen »Himmelsbräute« (M) nun zu den ihren machen während deren ohnmächtiger gott nicht einmal den treuen unter ihnen schutz bietet und der sprecher dabei seltsam unberührt bleibt. David 1967 betont die »eisige Nüchternheit« die keine angst thematisiert und kein mitleid andeutet - und spricht von einem pessimistischen atheismus (72). Dann würde ich die pointe in dem sinnlosen appell der lezten zeile erblicken: das glockenläuten wäre von vornherein umsonst.
Laut M entstand die schauerliche fantasie wol bei einer zugfahrt 1891 durch »die Geest bei Bremen« als George die brüder Peñafiel zu ihrem schiff begleitete. Eindrücke der teichlandschaft mischten sich mit eigenen religiös gefärbten kindheitserinnerungen. Damals scheint er mit dem gedanken gespielt zu haben mit diesen freunden Deutschland zu verlassen und nach Mexiko auszuwandern: wie diese ballade ausdruck seiner tiefen krise.
harm: leid · schmerz wie in harmlos
fahre: verkürzend für gefahr
angelus: das tägliche gebet der katholiken an Maria · beginnend mit der nennung des verkündigenden engels
madonna von ebenholz: eine aus schwarzem ebenholz geschnizte marienfigur
Wol Georges erstes gedicht das bezug auf seine Vertraute Isi Coblenz nimmt. In deren elternhaus - dem stattlichsten haus Bingens - habe es · schreibt M · die hier auf die fortdauer der kalten jahreszeit weisenden offene kamine gegeben · nicht jedoch in dem Georges. Isi Coblenz war von Georges gedichten weit mehr als von ihm selbst fasziniert den sie ja als unheimlich empfand während er wol eine zeitlang glaubte in die schöne und etwas kapriziöse dame verliebt zu sein. Das gedicht macht die verbundenheit ebenso deutlich wie die distanz durch die beschränkung körperlichen austauschs auf ihr mitleidiges streichen über die haare. Der grund ihres mitleids kann in der vorangehenden zeile gesehen werden: selbst in dem von ihm dank ihrer nähe empfundenen freudenhimmel bleibt er doch ein sklave des (selbst auferlegten) leidens. Weil sie die nicht gerade unkomplizierte situation so klaglos erträgt beeindruckt ihn ihr »erhabner stolz« so sehr dass er bei ihr · »vor« ihr bleibt auch angesichts der gefahr die dadurch für sein dichter-projekt entsteht. Anders als 201 endet dieses gedicht aber doch noch mit einem eindeutigen wenn auch recht eigenwilligen bekenntnis zur kunst: wie die betenden wenn sie beim Angelus-gebet zur Gottesmutter sprechen mit einem stillen grauen die vor ihnen stehende figur einer schwarzen Madonna ansehen fühlt er sich vor ihr. Die immense aussagekraft dieses vergleichs kannst du nur ermessen wenn du daran denkst dass in der lebenszeit Georges die überzeugung von der grundsätzlichen fremdheit und unvereinbarkeit menschlicher rassen (hautfarben) weitgehend absolute gültigkeit besass. Das hier genannte unwillkürliche natürliche grauen empfanden noch viele Deutsche beim einmarsch dunkelhäutiger französischer soldaten am ende des weltkriegs. Das verhältnis des sprechers zu der frau muss unabänderlich so distanziert bleiben wie das verhältnis eines weissen mannes zu einer schwarzen und dazu noch heiligen frau: die körperliche vereinigung ist von anfang an völlig ausgeschlossen. Denn beide gehören ganz verschiedenen wesenskategorien an.
Das gedicht ist eine glänzende charakterisierung des verhältnisses zwischen George und Isi Coblenz weil die gegenseitige wertschätzung und das bewusstsein der fremdheit im gleichgewicht stehen und das treffende bild der betenden vor der Madonna nicht anders als genial genannt werden kann.
Die extreme verkürzung des sprachlichen ausdrucks wird hier bis zur grenze der verständlichkeit eingesezt. Das gedicht erschliesst sich am besten von dem verwendeten bild her. Wer die beete im garten bebauen möchte braucht geduld und muss warten bis der atem des wärmenden windes den anbau ermöglicht. Dieser »odem« feiert seinen höhepunkt - den anblick reifender frücht und ihre ernte - erst nachdem der juni beendet ist. Kein »wähnen« (von wahn: irregeleitetes denken) kann solch naturgemässen ablauf beschleunigen. In der liebesbeziehung zu einer frau ist es nicht anders. Zu weinen oder sich viele gedanken zu machen bringt nichts. Die frage in der dritten strofe ist mehrdeutig. Der schleier bezieht sich wol eher auf den einen klaren blick nicht zulassenden tränenschleier des sprechers der sich selbst anredet und folgerichtig noch einmal auffordert das weinen einzustellen. Dann wäre es vielleicht möglich sie - so möchte ich einfügen - richtig oder besser zu sehen. Doch fordert der sprecher sich nicht dazu auf seine erwartung aufzugeben.
Möglicherweise lässt das gedicht auf Georges frauenbild schliessen. Demnach würde die frau eher einem naturhaften organismus ähneln der gesetzen unterliegt die auch von ihr selbst nicht zu beeinflussen sind. Dass sie dann noch als selbstbestimmte person zu verstehen sein kann ist nicht so sicher. Mit ihr in einen dialog zu treten wird wol nicht als sehr fruchtbar angesehen. M möchte das gedicht sicher zu recht nicht auf Isi Coblenz beziehen und lässt es offen ob überhaupt eine bestimmte frau den anlass dazu gab.
heischet: verlangt nach
Die tatsächlich gemeinte bezugsperson dieses gedichts glaubt auch M nicht zu kennen. Ihr kindesfrohes lachen erinnert natürlich an das mädchen in 103. Sie redet davon dass jugendliche sich nach enger und leidenschaftlicher bindung sehnen. Doch obwol der sprecher ihr auf schritt und tritt folgt gehen die tage herum ohne dass sie ihren worten taten folgen liesse. Freilich mag sie ihrerseits auf ein wort von ihm gewartet haben wie es die regeln der zeit wol auch verlangten. Er aber darf ja bekanntlich nicht … und nennt sie später folgerichtig die »verschmähte«. Sie redet singt und lacht · und entfacht nur schon damit so viel »glut und hast« dass der sprecher fast erschrickt. Allerdings dürfte dann sein »gelassenes« bei-ihr-sein wol nur gespielt sein. Echt wäre es wenn man in erwägung zieht dass glut und hast nicht bei ihm sondern bei vielen anderen entfacht werden. Auch das könnte sehr wol das leiden des sprechers ausgelöst haben zumal wenn dadurch eine rivalität entstand oder einfacher wenn ihm durch das ausbleiben der glut sein anderssein schmerzlich bewusst gemacht wird.
Aber auch sie verhält sich gelassen: all ihre bewegungen bleiben sanft - die unschöne verdopplung zeigt wie ihn das nervt. Da beide ihre leidenschaft verbergen geht die beziehung auseinander bevor sie begonnen hat. Gleiches gilt wenn beide gar keine leidenschaft füreinander entwickelten. Jedenfalls ist dem sprecher nun die ähnlichkeit beider klar geworden und er »lobt« die verschmähte nun wo keine gefahr mehr von ihr ausgeht oder wo sie von einem anderen verschmäht wurde und deshalb so allein bleibt wie er selbst - was ein tiefes und echtes gefühl der nähe zu ihr auslösen konnte - als schwester auch wenn dieser an«ruf« ihr möglicherweise nicht weit genug oder zu weit geht. Und wenn er nun von ihr scheidet (ob er dazu tatsächlich ein pferd benötigt wie M unterstellt oder ob »huf« nicht eher bildlich gemeint ist sollte unerheblich sein) ohne sich noch einmal umzuwenden: dann soll das unausgesprochene oder unerfüllte dieser beziehung als ein beiden gemeinsames rätsel so etwas wie ein »verlöbnis« zwischen beiden (das ist weit mehr als nichts) sein (»sei« bezieht sich auf das rätsel und nicht auf die frau). Ähnlich wie in 114 wendet George damit ein auseinandergehen noch ins tröstliche und nimmt ihm das bedrückende.
Und wie in 114 unterstellt er dem Gegenüber dass es ihn überhaupt bewusst wahrgenommen hat. Nichts zwingt nämlich zu der gewissheit dass sie tatsächlich etwas für ihn empfand. Fast könnte man beide gedichtausgänge etwas spitzfindig nennen wenn man nicht lieber doch bewundern möchte wie souverän George trotz seiner jugend das unschöne zu vermeiden versteht und die haltung bewahrt. Das ist eine lebenskunst die gerade ein mensch wie George für sich entwickeln musste. Später haben viele davon gesprochen wie sie durch seine gedichte erst erzogen und zu bewussten und auch glücklichen menschen wurden. Selbst anhand dieses unscheinbaren gedichts lässt sich das nachvollziehen.
Das gedicht spielt für Osterkamps George-interpretation eine fast schon zentrale rolle (vgl. 2010, 262) doch scheint er die ganz bewusst angelegte mehrdeutigkeit zu ignorieren. Anders gesagt: seine verdächtig alternativlose auffassung dieses gedichts ist einfach nur platt und erfasst dessen eigentliche kunst gar nicht. Aber so geht es fast immer wenn ein interpret lyrische texte nur als beweismittel für eine bereits feststehende these aufschlägt. Gerade der abschluss des gedichts mit seinen beiden lezten · seinen fünf lezten worten lässt im besten aller möglichen ergebnisse enden was bei schwieriger ausgangslage fast unlösbar schien. Selbst wenn hinter der rede von der »verschmähten« tatsächlich so etwas wie eine »Triumphgeste« des sich aufgrund seiner sexuellen verweigerung moralisch überlegen fühlenden mannes stecken sollte (was allein schon sprachlich dem stets taktvollen und gar nicht kämpferischen ton des gedichts und noch weniger seiner tiefen menschlichkeit nicht angemessen wäre) müsste man doch wenigstens so viel grösse haben anzuerkennen was dann eigentlich jedem ins auge fallen müsste: dass jegliches auskosten dieses triumfs peinlich vermieden und stattdessen ein versöhnliches und die frau ehrendes friedensangebot vorgelegt wird. Das würde allerdings den genuss der eigenen »ethischen Superioriät« (262 und gleich nochmal 263) über den gerade mühsam entlarvten misogynen George so sehr schmälern dass die eigene »Triumphgeste« nicht mehr angebracht schiene.
kolonne: von lat. colonna · säule und hier die besonders schlanke gusseiserne stütze im gewächshaus - damals meist in antikisierender form ausgeführt
aus feuchter drachen krallen: hinweis auf den norden · man denke an die bedeutung von drachen und drachenkämpfen in der germanischen sagenwelt.
ohne weissen tadel: sozusagen makellos wie eine gelbe rose ohne flecken oder das bei vielen gelben rosen zu beobachtende verblassen
beklömmen: um die überhöhte distanz und unantastbarkeit der dame zu verbildlichen ist hier gemeint dass schon ein paar tautropfen nicht zum adel der rose passen.
Die ersten zeilen spielen auf die Münchner gewächshäuser an. Im stadtzentrum im Alten Botanischen Garten gab es damals den 1854 nach dem vorbild des Londoner Crystal Palace errichteten Glaspalast. Gewächshäuser dieses ausmasses die ganz auf die steinernen wände verzichteten boten das von George deutlich betonte neuartige und im frühesten frühjahr besonders angenehme empfinden von licht und sonne. Die gartenanlagen wurde erst 1909 in den Nymphenburger schlosspark verlegt wo sich bereits ältere orangerien befanden.
Wahrscheinlich wurden in diesen gewächshäusern auch die besonders frostempfindlichen gelben teerosen vorgezogen und so schon früh im jahr zur blüte gebracht. Das qualitätsmerkmal der einheitlich gelben und möglichst nicht nach weiss hin verblassenden farbe der besten sorten wird angesprochen. Tautropfen würden besonders unter sonneneinstrahlung unerwünschte flecken hinterlassen.
Nach der schmerzhaften begegnung mit der stachligen rose zieht es den sprecher spontan zum duft der unscheinbaren aber dafür ungefährlichen veilchen. Draussen ist es aber für ihre blüte noch »zu früh« und in den gewächshäusern werden sie natürlich nicht angebaut. Nur spärlich sind sie dort als unkraut zu finden. Zudem stellt sich heraus dass der sprecher eigentlich doch nicht vom duft der teerose loskommt. Ihn nennt er »freunden duft« und offensichtlich hat er etwa durch mitnahme einiger blütenblätter in einem tuch diesen duft für sich konservieren können. Dies ermöglicht den genuss des schönen ohne die sonst damit verbundenen risiken auf sich nehmen zu müssen.
Ich bin mir nicht sicher ob sich George tatsächlich der abgegriffenen metaforik noch einmal im ernst bedient und ob sich dann hinter der rose eine ähnlich edle aber auch wehrhaft reagierende frau verbirgt die für den sprecher noch »zu früh« kommt · für die er sich also noch zu jung fühlt oder die für ihn noch unerreichbar ist: für diesen von der »mildelosen« die keine tränen vergiesst verursachten schmerz stünde dann der stich der »nadel« also des stachels. Auch die von George eher sparsam verwendeten drei punkte und die grossschreibung von »IHR« sprechen für diese deutung die auch M vertritt. Seine ausführungen kranken aber an der unmöglichkeit dass im norden wo M das verwundende erlebnis als ursache der »flucht« stattfinden lässt die rosen schon blühen sollen · die veilchen aber noch nicht. Dann wäre das rosenerlebnis ins vorjahr zu legen. Möglicherweise streut George für den jedenfalls nach der FIBEL die vermeidung alles abgegriffenenen ein hohes gebot war aber auch nur eine falsche · nur für den unbedarften leser auf eine frau deutende spur die M wieder einmal nicht korrigieren möchte weil sie in seinen augen zu diesem kunstwerk gehört. Oder hat das gedicht viel eher eine poetologische bedeutung - etwa dahingehend dass hohe künstlerische ansprüche auch nach misserfolgen nicht einfach zu populären oder leichter zu erreichenden formen hin umgelenkt werden können?
ruhmloser fant: hier ein jugendlicher vielleicht sogar aus einfachen verhältnissen
Hier kommt Osterkamps nächster kronzeuge für das dogma von Georges misogynie: »Was Georges gedicht am Markte melden will, ist in Wahrheit die ›schmach‹ aller frauen: deren Triebgebundenheit«. (2010, 263). Das wäre ein widerspruch in sich. Denn für den klatsch am markt eignen sich niemals alltägliche und gesetzmässigkeiten entsprechend verlaufene vorgänge sondern nur besonderheiten und unerhörtes. Die meldung dass eine frau sich so verhielt wie man es ohnehin von frauen kennt und erwartet wäre keine schlagzeile wert.
Dass Georges frühe gedichte entstanden um »am Markte« - der metonymie für die öffentlichkeit schlechthin - etwas zu »melden« hat allerdings erheblichen neuigkeitswert. Wie sich das angebliche mitteilungsbedürfnis aber mit der von George künstlich verordneten kleinstauflage von 100 teuren nobel-exemplaren vereinbaren lässt ist eine frage die selbst der unbedarfteste Osterkamp-leser nicht übersehen und auch der klügste wol kaum beantworten kann.
Osterkamp irrt erst recht wenn er diese reiche Venezianerin eine »Femme fatale« nennt. Sie ist so ziemlich das gegenteil. Keinen mann versucht sie zu verführen · nur einen greis - gemeint ist vermutlich ihr eigener mann - lässt sie an sich heran (ich meine als stütze beim ausstieg aus der gondel) und sie gibt sich den anschein als gelte ihr einziges interesse der religion. So provoziert man wirklich keine schlagzeilen und skandale. Tatsächlich zählen für sie reichtum und luxus · gezogen aus handel und menschlicher kälte. Wol versteht sie sich zu inszenieren und die blicke auf sich zu lenken. Falls George es geniessen mochte diese bigotte frühneuzeitliche bourgeoise sich demütigen zu lassen wäre das nicht unverständlich · jedoch kein ausdruck von misogynie. Vor allem kostet er erneut die schwäche der dame nicht aus: Er lässt sie nun sogar grösse gewinnen indem sie das geschehene nicht zu leugnen · zu vertuschen oder gar als ihr angetane gewalttat darzustellen sucht (so modern ist sie nicht) sondern sogar seine veröffentlichung ausgerechnet »am markte« beauftragt. Damit nimmt sie die verantwortung ganz auf sich · verbietet sich selbst die rückkehr in die welt des kommerzes und geldes und gewinnt stattdessen einen inneren adel den ihr kein sammt und parfümöl je verschafften während ihr liebhaber vermutlich ins nichts zurücksinkt aus dem er kam.
Aber nicht nur deshalb kann von der »ethischen Superiorität des Mannes« (Osterkamp 2010, 263) die zu erweisen auch hier schon wieder Georges absicht gewesen sein soll keine rede sein. Denn Osterkamp ignoriert dass hier keinerlei anzeichen Georges angebliche überzeugung stützen dass »es immer die Frau ist die das sexuelle Angebot macht« (262). Die dame aus der gondel macht im gedicht niemandem ein angebot. Schon dass sie der stütze des »greisen Edlen« bedarf kommt ihr wie eine niederlage vor. »Des greisen Edlen« ist als apokoinou gestaltet · lässt sich als genitivattribut nach vorn und hinten beziehen und somit auch als »sieg des greisen Edlen« lesen. Den grobschlächtigen krieger freilich der nur munition für seine kampagne sucht interessiert solch feine kunst nicht.
Wie es zum one-night-stand mit dem unbekannten jüngling kam scheint George gar nicht wichtig zu sein. Vermutlich hatte ein hübscher bursche erproben wollen ob er das eis nicht schmelzen kann - wol wissend dass sie ja auch sonst dem schönen nicht abgeneigt ist · vielleicht ahnend wonach sie sich angesichts des alters ihres mannes sehnte. Denn da die frau sogar genug zeit hatte um vorher das gemach zu verhängen scheint er wol im einvernehmen gehandelt zu haben.
Sicher ist aber dass der jüngling nach vollzogener mannestat doch nicht weniger als die frau als ein - wenn man es sagen darf - befleckter dasteht: Wo sieht Osterkamp hier die »ethische Superiorität des Mannes«? Und warum ist ihm die von George durch den merkwürdigen auftrag der dame ganz eindeutig gewollt herbeigeführte · nicht wegzudiskutierende »ethische Superiorität« dieser frau keine halbe zeile wert?
Was zumindest der junge George von männern hält hat er ohnehin längst klargemacht: in FRÜHLINGSWENDE 052 waren sie dermassen abstossend ungehobelt dass es den knaben nur so grauste und in 116 wurde dem infanten dazu gratuliert nicht »zum finstern mann« werden zu müssen. In persona auftreten durfte keiner von ihnen. Und auch hier lautet die botschaft: die jünglinge sind vorzuziehen. Um »am Markte« vermeldet zu werden sind die botschaften in Georges gedichten dieser schaffensepoche wol gerade nicht gedacht.
Allenfalls mag man in 207 erkennen dass selbst einer denkbar auf distanz bedachten dame auf dauer nicht gelingt worin nur der Dichter offenbar - mit wie viel oder wenig anstrengung auch immer - zu reüssieren fähig ist. Dann muss aber immer noch 201 ausgeblendet oder wie von Osterkamp mit flapsiger bemerkung einfach beiseite gewischt werden (263): bevor mit dem finger auf die »niedrig und gebrochen« liegende gewiesen wird (und selbst das tut George gar nicht) drehte sich doch ein ganzes gedicht - das erste und längste im zyklus - um die schwer zu beherrschende eigene anfälligkeit.
Ethisch korrekter geht es kaum noch und deshalb sei vorgeschlagen Osterkamps schlagwort ein wenig abzuwandeln und statt von der »ethischen Superiorität des Mannes« lieber von Georges ethischer - entsorgen wir wenigstens einmal Osterkamps hier besonders überflüssiges albern-prätentiöses germanisten-«deutsch« - überlegenheit zu sprechen. Der wäre damit sicher auch einverstanden.
faun: halb mensch halb ziegenbock ist der faun ähnlich dem griechischen satyr: ein natur- oder waldgeist und fruchtbarkeitsgott · immer etwas ungezügelt und gern menschen erschreckend. Heute würde man ihm wegen seiner exhibitionistischen neigung das leben schwer machen. Wenn ihm das erschrecken gelingt lacht er gern einmal. Das wort erinnert natürlich sofort an Mallarmés gedicht L’Après-midi d’un Faune von 1876 und hier in 208 bringt es eine spur von erotik und bedrohlichkeit ins spiel: das mädchen das einen faun glaubt hören zu können gibt damit etwas vom ziel seines sehnens preis.
Der sprecherin ist ihre sehnsucht stärker bewusst als der Venezianerin. Wie diese versucht sie ihre beherrschung zu bewahren - in den zwei ersten versen · vielleicht der ganzen ersten strofe - aber trotzdem werden gleich anschliessend die mit erotik verbundenen motive des flötenspiels und des fauns genannt. Der in der zweiten strofe in gedanken Angesprochene hat aber offenbar nie von ihr notiz genommen. Umso mehr wünscht sie sich in der stark verkürzenden vierten strophe dass »er« wenigstens ahnen könnte welche gaben ihre lippe ihm zu bieten hätte: so viel lust wie der betörend duftende oleander und ebenso die verhalteneren freude die eher dem duft des jasmins gleichen. Sie ist sich bewusst was sie im liebesspiel zu bieten hat - und dass sie aber auch im gespräch nicht abfällt.
Ein unschuldslamm ist dieses mädchen nicht und so wirkt das wiederholte »ich darf nicht« doch eher nur kokett. Das gedicht ist das porträt einer selbstbewussten jungen frau und zeichnet verständnisvoll ihr hin-und-her-gerissensein zwischen bürgerlicher erziehung und ihrem wunsch sich in einer liebesbeziehung ganz hinzugeben. Sie ist weder hexe noch femme fatale oder madonna · für Osterkamps kreuzzug unbrauchbar und deshalb von ihm genauso ignoriert wie von dem jungen mann am roten turm.
Die mittlere strofe erschliesst sich vielleicht nicht sofort. Unter hinweis darauf dass sie nicht aus unbedeutender familie stammt spielt sie auf das an was sie sich ursprünglich für ihr leben vorgenommen hat: zumindest wol dem namen der familie zur ehre zu gereichen. Dieses ziel scheint ihr jezt nicht mehr so wichtig: sie leugnet es. Stattdessen wird der ausbruch aus den moralischen bindungen - dafür das bild vom weggerissenen tuch - für sie denkbar. Wol weiss sie dass dafür im falle der entdeckung der mann - wol ähnlich wie in 207 ein nicht standesgemässer - mit seinem leben zu zahlen hätte was ihr ein vorzeitiges und damit langes witwentum einbrächte. Auch das zweite GESICHTE-gedicht wertet die frau moralisch auf: bleibt sie doch trotz des ungünstigen kalküls ihrer liebe treu · zeigt grösse und geradezu tragische opferbereitschaft und gibt das gerede über ihren angstgetriebenen und misogynen autor der lächerlichkeit preis.
Um eine form von verführung geht es auch hier.
wie feile kiese: plural von kies · wie billige (wohlfeile) kieselsteine. Ein hinweis auf den umfang der geschenke die die reichen in ihrer angst dem herrscher zur beschwichtigung anbieten (ähnliches in 7113).
Der horde zu folgen ist nun wirklich das lezte was Stefan George sich genehmigt hätte. Zu recht sezt M das gedicht in beziehung zum BRAND DES TEMPELS und zur kindheit im Nahe-schilfreich ohne sich dabei eindeutig festzulegen oder in hinblick auf den BRAND die erheblichen unterschiede herauszuarbeiten. Jedenfalls mahnt sich hier ein eroberer und alleinherrscher angesichts der von angst und unterwürfigkeit geprägten gesten der besiegten nicht im rausch der macht die masstäbe und werte seiner jugend zu vergessen und seinen stolz aufs spiel zu setzen: das damals vorgestellte und erst noch zu erstreitende reich sollte keines der willkür und der herrscherlaunen · der demütigung und speichelleckerei sein. Keine ausrede (vorlezte zeile) sollte rechtfertigen wenn der herrscher aus mangel an selbstkontrolle seine würde verliert wie es zuvor die eindrucksvollen bilder in der fünften strophe andeuteten.
Das gedicht ist eines der besten beispiele für selbstreflexion · haltung und anspruch an sich wie sie auch im späteren Kreis gefordert waren und den jungen gelehrt wurden.
Wie man haltung notfalls auch mit hilfe von illusion und selbsttäuschung bewahrt zeigt dieses gedicht. Diese haltung droht erst in 212 zu zerbrechen.
wüsten: hier einfach für unbebautes wildes gelände
härene karden: mit haaren besezte also stachlige disteln. Zusammen mit den lianen ein bild für die beschwernisse dieser fahrt die noch einmal der suche nach einer frau gilt.
der kindlichen meister pinsel: entweder ist eine erinnerung an seit der eigenen kindheit vertraute gemälde gemeint oder die erinnerung an solche kunstwerke zu denen Stefan George ein ungewöhnlich vertrautes verhältnis hatte so dass er diese meister als »kindliche« in besonders ehrender weise bezeichnet. Jedenfalls ist eine emotionale nähe gemeint. zeitlose: herbstzeitlose
manna: der ausdruck soll die erinnerung an die Israeliten wecken die während der vierzigjährigen wanderung von Ägypten in ihr verheissenes land beim durchqueren der Sinai-wüste von himmels-tau lebten - dem manna. Der sprecher sezt sich damit den Israeliten gleich die den beistand ihres gottes hinter sich wussten und deshalb den festen glauben an das erreichen ihres ziels besassen.
Ähnlich wie schon der ausgang von 208 zeigen auch hier die lezten verse dass Trakls gedichte ohne George eigentlich nicht denkbar wären. Hätte Trakl doch nicht nur die bilder · farben und temporawechsel von George übernommen sondern auch von dessen stärke und willenskraft zu lernen vermocht. Selbst in der schönen melancholie dieser verse hält der ausblick auf neue ziele die düsternis im zaum. Aber M nennt die suche nach der gefährtin »zugleich eine Flucht vor sich selbst«.
Interessant ist die eigenwillige zeitstruktur. Im nachhinein erkennt man dass sich der sprecher im vergegenwärtigenden präsens an zwei kurze zeitabschnitte erinnert in denen er sich wiederum an vorangegangenes erinnerte. Der erste in der vom tageslicht (oder vom sommer?) schon verlassenen stadt (die grandiose erste zeile ist eine von Georges schönsten überhaupt) als er daran dachte wie er zuvor in anderen städten - selbst in kirchen (!) - nach der Ersehnten vergeblich spähte · anschliessend in der sechsten zeile die zweite erinnerung wie er sich an die vom anblick der scheinbar etwas verheissenden zinnen ausgelösten hoffnungen auf dem weg zu dieser stadt erinnerte. Dann in der zweiten strofe eine dritte erinnerung: an den entschluss zum aufbruch und die beschwerliche wanderung bis zum erklimmen der höhe von wo aus der blosse blick auf neue ziele die ganze zurückliegende vergeblichkeit vergessen machte (alles im präsens).
Zulezt in distanzierterem präteritum die äusserst verkürzte schilderung des abends und des herbstlichen verlaufs bis zum einsetzen des ersten rauhreifs oder schneefalls wodurch man erst erkennt wie weit das zunächst erinnerte bereits zurücklag.
Kein wort über das erreichen oder verfehlen der vom thuja-berg aus betrachteten ziele. Dennoch hat der hinweis auf den alles bedeckenden schnee etwas versöhnliches und beruhigendes zumal dieser schnee mit der bezeichnung »manna« als ein himmelsgeschenk gewertet wird.
Auf drei daktylische verse folgt stets ein vierter in trochäen. Ähnlich unausgewogen deutet der inhalt auf ein übergangsstadium. Wenn die erste strofe als eine variation zu 201 aufgefasst wird hat die strahlkraft der roten frauen offenbar abgenommen. Jezt werden die erträumten töchter wieder eindeutig bevorzugt. Die metaphern »pfauen« und »lerchen« zeigen wol die extreme der traum-töchter doch denke ich bei lezteren mehr an die »pergamente« als an die »lichtgestalten« auf dem treppenbogen denen hier eher die pfauen entsprechen die ihrerseits nun die »irdischen« töchter eindeutig ausstechen. Offenbar neigt der sprecher aber inzwischen dazu die lerchen gegenüber den pfauen zu bevorzugen was man als tendenz zu einer verständlicheren oder einfacheren sprache auffassen könnte. Doch ist die entscheidung für die besser »fasslichen töne« offenbar noch nicht endgültig gefallen: dies erfolgt erst im lezten gedicht der PILGERFAHRTEN. In den drei BÜCHERN werden tatsächlich gedichte zu finden sein die als eine umsetzung dieser idee verstanden werden können.
der ost · der süd: verkürzung von osten und süden.
täuscher: kann sowol als form von täuschen wie auch enttäuschen aufgefasst werden. M verweist darauf dass Stefan George zwar in Paris · nicht aber bei reisen nach spanien und italien und auch nicht in Wien und Berlin gleichgesinnte fand und die entsprechenden fahrten dorthin diesbezüglich unbefriedigend verliefen.
Die aufforderung an sich selbst mahnt dazu nicht zu klagen sondern vielmehr zu ertragen und sogar zu suchen (wenigstens im sinn von: herausfinden) was in der der kunst entgegengesezten und vom neid regierten profanen welt hoch geschäzt (also zu den gütern gezählt) wird. Das nicht mehr beklagte sondern ertragene leid kann schliesslich mittels der kunst (dem »lied«) besiegt werden. Das meine nicht · schreibt David · dass »die Kunst tröste oder heile«. Es gehe eher um ein vergessen der leiden. (1967, 67)
Die eigenwillige interpunktion - der punkt wird von der vierten in die dritte zeile verschoben - hat einen guten grund. Der die zweite und dritte zeile füllende nebensatz kann dadurch von der vierten zeile ebenso deutlich getrennt werden wie er es von der ersten durch das ausrufezeichen am ende der ersten bereits ist. So ist der nebensatz genau gleichermassen der ersten wie der vierten zeile als jewiligem hauptsatz zuzuordnen - die konstruktion einer apokoinou. »Klage nicht · was immer in der welt auch hochgeschäzt werden mag« gilt genau ebenso wie »was immer in der welt auch hochgeschäzt werden mag · nimm es zur kenntnis und ertrage dass es so ist«. Von dieser ästhetizistischen tugend«lehre« von der überlegenheit der kunst über die profane welt fühlt sich ein vom sprecher »er« genannter nun aber getäuscht und ist jezt zu erschöpft um das opfer der verachtung jener welt in der er doch lebt und die er aushalten soll noch länger zu erbringen. In diesem moment der schwäche begräbt er die zeichen des pilgers - also seines dichter- und aussenseitertums. Aus der pilgerfahrt soll nun eine fahrt »von fröhlicher art« werden. Wie die anderen scheint er sich damit zu einem durchschnittlichen leben zu bekennen · mit leichtem genuss an stelle des aussenseiter-leids das ihn offenbar überfordert hat.
Ein gedicht in dem sich der sprecher doppelt oder teilt: in einen alten den der neue als zeichen der bereits gewonnenen distanz »er« nennt: er ist schon nicht mehr »ich«. Aber wirklich überwunden ist »er« eben doch nicht - darin liegt die pointe.
»Er« begräbt unter einer eiche die zeichen des dichterischen pilgers ode besser des pilgernden dichters · mantel und stab. Für einen moment scheint es dass damit eine fahrt »von fröhlicher art« anbricht. Der das dichtertum aufgegeben hat wird »ich« genannt - aber die auslöschung war nicht konsequent genug. Mit tränen und stöhnen macht »er« dem »ich« noch immer das leben schwer. Und »ich« denkt deshalb darüber nach auch noch das lezte relikt des dichters - die leier - zu zerstören. Ob »ich« das durchsezt ist fraglich denn immerhin wird die leier nicht »seine« sondern »meine« genannt - als könne das ich von seiner dichter-existenz eben doch nicht lassen. In der tat macht schon das folgende gedicht klar dass die leier allenfalls ein wenig rost anzusetzen drohte.
bronnen: Hier quellen wie sie gerade im frühjahr nach der schneeschmelze hervorbrechen. Zusammen mit dem zweiten vers der zweiten strophe ergibt sich ein doppeltes pars pro toto für den frühling.
keimt: Gemeint sind die im winter schon erkennbaren blattknospen.
Der in 212 »er« genannte wird hier direkt angesprochen. Erneut wird eingangs zur überwindung des trauerns aufgerufen doch wird der aufruf sogleich konterkariert durch das eingeständnis dass das leid des angesprochenen so tief sei dass jeglicher trost sinnlos wäre - wie ein hohn erschiene. Die frage nach dem sinn solchen leidens - zumal in einer vielleicht schon bald abzusehenden frühlingshaften und aufbruch bejahenden umgebung - wird in der zweiten strophe dennoch gestellt. Entgegen dem in der ersten strofe gesagten wird in der dritten doch ein versuch des tröstens unternommen: durch den verweis auf die natur wo selbst ein wintersturm nicht in frage stellen kann dass sich die rose zulezt doch wieder entfalten und das korn wieder reifen wird. Und in der vierten durch die überlegung dass selbst mittels frostkühler finger doch eine art lust (M sagt: »der Freude am Formen«) entstehe - wenn sie in die saiten greifen. Und nach dem doppelten versuch des trostes - die beiden punkte deuten einen in gang gesezten prozess an - bekennt sich das ich doch wieder zu der laute: damit ihr klangdraht nicht einroste sollten wenigstens »verjährte fahrten« besungen werden - um der lähmenden wirkung der gegenwart dadurch auszuweichen. Damit ist entschieden dass 212 wo die leier noch zerstört werden sollte nur der ausdruck kurzfristiger schwäche war. An der dichtkunst wird also doch kein weg vorbeiführen · die »lehre« wonach das lied das leid zu besiegen habe ist wieder in gültigkeit und die »verjährten fahrten« werden in 218 bis 220 erfolgreich zum thema gemacht.
M legt das gedicht der muse in den mund. Doch wenn man sich erinnert wie die muse schon in den HYMNEN überflüssig gemacht wurde ist es nicht vorstellbar dass sie nun als eine so wichtige ratgeberin auferstehung feiern soll. Es ist der Dichter selbst der sich genau das klarmacht was ihm ansonsten die traditionelle muse eingeben müsste. So gesehen liegt M nicht weit daneben.
wahren auen: die au - also die wiese - verweist auf einen lebensfreundlichen ort des wohlfühlens · der fruchtbarkeit und abwesenheit von not. Zweifellos bezeichnet das bild der verbotenen auen im anschluss an 213 die sfäre der gegenwart. Angesichts der nun erfolgenden thematisierung einer traumfrau muss aber auch daran gedacht werden dass dieses bild zum ausdruck bringt wie schwierig sich die suche nach einem männlichen gefährten gestaltet. Gerade das adjektiv gewinnt damit eine ganz unmittelbare und naheliegende bedeutung. - Anders als die »wahren auen« ist das »blaue wiesental« teil nur des traumbildes und schon durch die romantische blaue farbe als ein unwirkliches markiert.
gerüchten: eine form von »gerüchen«.
weidenflocken: die im wind fliegenden zarten weidensamen. Das aus ihnen gefertigte (ver-)»bergende« kleid (auf die gewänder beziehe ich das relativpronomen) dürfte also doch eine gewisse leichtigkeit wenn nicht transparenz gehabt haben.
Sich dem vergangenen zuzuwenden lautet das soeben aufgestellte programm. 214 stellt einen übergang dazu dar · die ersten beiden verse scheinen sich sogar noch davon zu distanzieren (allerdings merkt man zulezt deutlich dass eben doch von einem vergangenen erlebnis die rede war). Als alternative zu den dem sprecher noch verschlossenen »wahren auen« wird deshalb zunächst nicht das nicht mehr wirkliche sondern das nie wirkliche herangezogen: ein traumbild zu dem aber von anfang an erhebliche vorbehalte geäussert werden. Wer etwas nur »kostet« hält sich alle möglichkeiten offen - insbesondere die des abbruchs und rückzugs. Da hilft es wenig wenn von pracht und farben die rede ist und der frau trotz (ver)bergender gewänder sogar eine vorgeblich erotische komponente verliehen wird. Ihr steifes schreiten und der erhobene finger geben ihr dennoch etwas unnahbares und was das letztendliche untertauchen dieser blutleeren jugendstil-nymphe im sprecher auslöst bleibt unklar: es scheint als bedeute es ihm im grunde rein gar nichts. Ihren beobachter hat sie wohl ignoriert (aus gutem grund) oder nicht bemerkt - und der wollte auch nichts von ihr · wusste er doch schon zu beginn dass der prachtvolle anblick »verderbnisvoll« sei. Ein romantiker der sich dann trotzdem hingibt ist George nicht. Dass die beiden in seiner vorstellung »ein paar« waren ist purer hohn: Denn wie wenige sekunden mag dieser blick auf die wasserfrau gewährt haben? Und keineswegs möchte ich den boshaft nennen der unterstellt dass sie wohl genau wie zuvor die reiher nur einfach instinktsicher die flucht ergriff vor dem fremden eindringling - ein wunder wäre es nicht. Es spricht für Georges manchmal doch durchaus angedeutete selbstironie dass er diese deutung zulässt. Wer ernstlich unter sexualangst leidet hätte diese souveränität nicht aufgebracht. Die kurze kostprobe war ihm gerade genug. Es ist ein amüsantes gedicht: selbst im traumbild kommt wirklich gar keine erotik auf. Und anders als noch in 210 ist die frau hier nur noch eine beobachtete · keine erstrebte mehr.
Aber war es wirklich der fremde der die reiher verschreckte? In 102 näherten sich die vögel dem dichter angstlos - und auch hier in 214 ist es wol eher die dame vor der sie flüchten - ähnlich wie in 217 schmetterlinge und palmen vor einer ähnlichen herrin zurückzucken. Starke und herrschaftliche Frauen finden bei George eben wenig gnade durch die natur auch wenn sie ihn selbst für eine kurze weile zu faszinieren vermochten.
mittelthron: im dom der hauptaltar.
harz und santelholz: glimmendes weihrauchharz und sandelholz. Auch in 214 spielten düfte eine rolle und wurden dort sogar berauschend genannt. M möchte nichts davon wissen dass drogen im spiel seien. Doch stehen in beiden gedichten die düfte im zusammenhang mit recht euphorischen erlebnissen die M selbst jedesmal als nur vorgestellte auffasst. Das erinnert an WEIHE 101 und um eine art zweiter weihe handelt es sich hier doch auch · nur dass durch den zeremoniellen ablauf im dom die feierlichkeit verstärkt wird während andererseits niemand erwähnt wird der die weihe vornimmt oder den segen spricht. Die autarkie scheint überhaupt das eigentliche thema zu sein.
Anfangs wie eine variation zu 214 denn es geht noch einmal um die erinnerung an eine traumfrau. (Zur zeitlichen einordnung erinnere dich etwa an die aufbruchsituation »ins ferne« am ende von 053.) Diesmal wird sie in doppelter gestalt vorgestellt: zunächst als subjektive idee - in tagträumen ersonnen und »braut« genannt - und insofern ganz und gar geschöpf des sprechers. Dann ihre reale entsprechung die dem sprecher deshalb als bote (George sagt nicht »botin«) vorkommt und in den quartetten des sonetts direkt angesprochen wird. Das zwiegestaltige wesen erfährt aber im vergleich mit der in 214 genannten eine gleich mehrfache abwertung: es wird eigentlich gar nichts mehr über sie gesagt. Es gibt keine bewegung keine geste keine kleidung und schon gar keine »pracht« die irgendeine noch so kurze bemerkung verdient hätten. Kein wunder dass schon zu beginn der zweiten strophe die »gier nach ihr« vorbei ist. In den terzetten ist sie bereits vergessen. Auch wenn die faszination etwas länger als nur einen tag währte - weil »einen tag« hier »eines tages« meint sonst wäre die gier ja nicht »langsam« erstickt - verdient die in der zweiten strophe genannte »entsagung« diesen begriff eigentlich nicht. Ein zweiter blickkontakt - mehr war’s ja nie - wäre bereits keine »gute fügung« mehr und würde nur den fast schon wiedergewonnenen »frieden« stören. Eine person eigenen ursprungs ist dieser merkwürdige bote nicht - falls mensch von fleisch und blut aber eigentlich geschlechtslos gesichtslos und eben nur als abbild der erdachten idee von interesse · für eine denkbar kurze zeit weil ihr nichts fremdes und nichts ihn erschütterndes zu eigen sein kann. Schon drängt sich der verdacht auf das gedicht könnte als poetologisches am besten verstanden werden.
Im zyklus spielt es eine grosse rolle dass die erinnerung an dieses strohfeuer einen so grossen entschluss bewirkt haben soll: die »neue ausfahrt« · dazu die suche nach dem gerade erst abgelegten mantel und hut des pilgers und schliesslich der feierliche segen der ihm für die wieder aufgenommene reise am dom-altar zuteil wird · besser: den er sich zuteil werden lässt. Und so wie die zuvor genannte begegnung mit dem boten nur die begegnung mit der verkörperung der eigenen idee war · so lässt der pilger auch in dem obskuren salbungs-ritual kein fremdes öl und keinen fremden priester an sich heran. Das eigne blut tut’s auch zumal es nun dank der überwindung der seit langem anhaltenden krise bereits zu sieden begonnen hat. Die bedeutung des inneren feuers hat Stefan George ja immer wieder hervorgehoben.
Eine merkwürdigkeit ist in beiden quartetten die direkte anrede an den boten obwol der ja schon längst nicht mehr anwesend sein kann. Deshalb würde es sinn machen in dem boten gar keinen leibhaftigen menschen sondern die muse zu erkennen die für den geweihten Dichter sozusagen jederzeit präsent und ansprechbar ist. (Ähnlich in 114 · dritte strophe. In 114 könnte man den dort ebenfalls »bote« genannten autofahrer als boten der muse auffassen die dort noch einen höheren stellenwert hat.) 215 wo sie nun selbst nur noch bote ist stellt dann eine weitere variation ihrer abwertung dar: angeblich schon von anfang an war sie nur abbild der vom Dichter ersonnenen »braut« · für einen moment faszinierend aber dann überwunden und nicht mehr erforderlich für den der in einem symbolischen bild seine weihe ein zweites mal zelebriert - in religiöser überhöhung doch nunmehr noch eindeutiger ganz aus eigener kraft als in 101.
rüstern: ulmen. Das bekannte ulmensterben begann erst dreissig jahre nach der entstehungszeit des gedichts.
Die erste strofe aus drei finalen nebensätzen umreisst welche zielsetzung zum aufbruchs-entschluss führte und zeigt dabei deutliche Nietzsche-anklänge. Doch Nietzsches vorstellung von dem einsamen aber heiteren filosofen weit oben in eisigen höhen wird ironisch gebrochen: noch in den banalen niederungen eines nächtlichen moors stehen sozusagen schon auf den ersten metern so viele hindernisse bereit dass der sich eigentlich auf dem ihm angemessenen und daher »guten wege« befindliche wanderer ins wanken · ja in völlige verwirrung gerät und das metrum in den daktylus wechselt. Natürlich ist die moor-szene nur ein spiel mit literarischer tradition - geeignet zugleich wegen des kontrasts zu Nietzsches sturmhöhen. Im grunde aber steckt hinter der moorlilie ein »verführender engel« (das lilienweiss symbolisiert gerade nicht mehr die traditionelle reinheit und unschuld) und der ambitionierte aufbruch gerät aus sehr menschlichen gründen ins stocken.
Das gedicht deutet die Nietzsche-kritik von 7104 bereits an. Für fantasien vom übermenschen ist in Georges humanismus kein platz. In 215 schien noch das hohelied des autonomen gesetzgebers angestimmt zu werden. Das gegenstück folgt jedoch auf dem fusse - wie es noch oft vorkommen wird.
reseden: reseda odorata · eine wegen des dufts in den gärten des neunzehnten und frühen zwanzigsten jahrhunderts verbreitete schmuckpflanze. In der lyrik der jahrzehnte um die jahrhundertwende oft genannt.
Wenn nun die dichter-existenz doch wieder aufgenommen werden soll ist ein poetologisches gedicht durchaus naheliegend. Die königin des gartens zu sein beansprucht muss erfahren dass sich nicht alles wie gewünscht unterwirft: schmetterlinge palmen und besonders die blumen. Wer nur schön ist und nicht nützen muss gehört einer anderen sfäre an und hat sich fremdem anspruch nicht zu fügen. Daraus erwächst der »stolz« der ästhetizistischen kunst - und die »verdrossen«heit derer die sie nicht instrumentalisieren können.
Die drei verjährten fahrten sind zweifellos ein höhepunkt in den PILGERFAHRTEN. Ganz nebenbei könnte das erste gedicht übrigens manche wortreiche analyse zum niedergang der kirchen ersetzen (so wie es jede hoffnung nimmt er könne rückgängig gemacht werden).
wallten: das alte verb »wallen« holt Stefan George aus den »wallfahrten« zurück und führt es wieder in die deutsche sprache ein · ein bei ihm häufig zu beobachtendes verfahren. Im JAHR DER SEELE wird die überschrift WALLER IM SCHNEE 52 einen nach heil (wenn auch nicht dem der seele) suchenden pilger meinen.
Unsrer sünden leichte mäler: die kaum erkennbaren anzeichen oder abzeichen jugendlicher missetaten.
In 213 wurde die rückwendung zu den bereits »verjährten fahrten« als mittel zur überbrückung der krise erwogen. Kein neues mittel - du kennst ähnliches ja von den HYMNEN her (dort in 113). Nun endlich wird das thema angepackt. Diesmal aber geht die erinnerung viel weiter zurück - bis in die kindheit der echte pilgerfahrten zu einem »gnadenort« nicht fremd waren (nach M hat Stefan George hier an das erlebnis einer wallfahrt nach Walldürrn gedacht). Das religiöse empfinden der kindheit wird wie so oft zart verklärt und diese verklärung nur mit einem hauch ironie ebenso zart gebrochen doch nicht überwunden. Das wäre auch gar nicht zu wünschen: denn dieses empfinden war »ernst« und ihre nicht der rede werten verfehlungen wurden durch die kinder übertrieben dargestellt (»gemehrt«) um die notwendige erfordernis der wallfahrten zu unterstreichen oder - wie M einfühlsam schreibt - »Vergebung voll geniessen zu können«.. Entsprechend echt waren die bereitschaft die mühen der langen wege zu ertragen und die rührung wenn endlich die türme der wallfahrtskirche sichtbar wurden. Diesen kindern war religion etwas anderes als eine abfolge toter rituale: ein erlebnis.
Deshalb ist es nur folgerichtig dass die »hehren« also achtungswürdigen und uneigennützigen geistlichen leiter der wallfahrt bei den jugendlichen anerkennung und moralische autorität besassen. Der siebente vers weist darauf hin denn der plural des folgenden verbs verbietet es die »führung« als apposition zu »hoffnung« zu verstehen. Beide sind gleichberechtigte glieder einer aufzählung.
Der anblick einer mariengestalt hatte für diese jungen helden noch gar keinen reiz. In ihrer reinen frömmigkeit bevorzugten sie deshalb sich vor einem kruzifix auf den harten steinboden zu werfen.
218 ist weit mehr als eine sentimentale kindheitserinnerung: ein sehr ernst zu nehmendes gedicht weil es verstehen lässt unter welchen voraussetzungen ein knabe - ein bestimmter und seltener typus - zu etwas selbst Heiligmässigem (auf zeit) und jedem erwachsenen Überlegenen werden kann. Im zyklus kommt es jezt wo die zweifel und schwächen überwunden werden sollen auf die erinnerte eigene ernste begeisterung und heilsgewissheit an. Wie sehr der wunsch darauf zielt ein dem hier erinnerten gemeinsamen begeisterten handeln ähnliches zu erneuern deutet nicht nur die eingangs zitierte widmung (die den begriff der begeisterung enthält) sondern auch das die PILGERFAHRTEN krönende und abschliessende 221 an.
betont die schwierigkeit einen solchen knaben oder von ihm wenigstens eine art souvenir · ein hinterlassenes und damit einen beweis seiner existenz finden zu können.
taxushag: eine eibenhecke
sammetkoller: hier ein kindliches kleidungsstück.
saffian: feines ziegenleder.
Der palast wurde offenbar wegen eines vulkanausbruchs verlassen der für giftige gase und eine graue aschenschicht gesorgt hat. Tatsächlich liegt nach M die erinnerung an den besuch der sommerresidenz der spanischen könige in Aranjuez im sommer 1889 zugrunde und die von 104 her bekannte hitze mag die sehr lebendige (wie das vergegenwärtigende präsens zeigt) vorstellung vom vulkanausbruch geweckt haben - in ihm werden vergangenheit und gegenwart zusammengeführt. In der barocken parkanlage gibt es tatsächlich jenen inselgarten in dem der knabe zuflucht gesucht haben könnte und den er geliebt haben müsste kann er doch kaum ein anderer als der junge Stefan George gewesen sein. Und jeder hat wol auch das bild des infanten in 116 vor augen wo sich der Dichter ähnlich wie hier in das leben eines einsamen knaben hineindachte der ebenfalls nicht erwachsen werden musste.
farren: veraltet für farne
Eisblumen an fensterscheiben kennt eine in zentralbeheizten räumen aufgewachsene jugend nicht mehr. Das motiv tauchte schon in 201 auf - dort am fenster der klause. Hier werden sie mit den ersten morgendlichen sonnenstrahlen am fenster des zugabteils sichtbar. Die bahn fuhr durch eine weite schneelandschaft und die nacht über durch die alpen in den süden und angeblich machte die vorfreude den trennungsschmerz schnell vergessen. Aber der beginn der zweiten strophe deutet doch unangenehme gedanken an die das frühe einschlafen verhindern - er scheint in ein eingeständnis zu münden. Das betrachten der eisblumen wirkt wie eine willkommene ablenkung.
M erzählt dass George nicht wollte dass jene die ihn zum bahnsteig begleiteten dort bis zur zugabfahrt blieben. Böhringer zeigt im Ewigen Augenblick dass George sich lieber gar nicht verabschiedete (1965, 53). Die belastung durch solche situationen spürt man auch hier. Es ist bezeichnend dass das gedicht die ankunft im süden nicht mehr thematisiert: es blickt mehr zurück als voraus. Daraus resultiert seine melancholie. Ohnehin sind eisblumen geradezu ein sinnbild der vergänglichkeit.
Vermutlich war es Georges bahnfahrt von Montreux über Ponte Tresa nach Mailand im februar 1889 die den anlass zu dem gedicht gab (Z 10).
sprock: spröde
sonnen: hier singular genitiv
Dass es im spätherbst noch einmal ein sichaufbäumen des sterbenden lebens gibt so dass selbst sprödes holz sich für einen moment verjüngt und lezte sonnenstrahlen ein kurzlebiges farben-feuerwerk erzeugen ist ein wenig optimistisches bild. Aber wer sagt dass es sich um ein bild handelt? Die vision des aufbruchs am ende der PILGERFAHRTEN - ihr stolzer trotz ist unglaublich hörbar durch den hebungsprall und senkungsausfall am anfang der drittlezten zeile - erscheint vor dem hintergrund des niedergangs der natur um so strahlender. Die concessio gesteht ein: es ist wie ein märchen. Niemand kann erklären von wo und warum das blaue »kind« sich näherte. Unser verzücktsein ist eine mischung aus wahnsinn und glück. Wir glauben es selbst nicht recht und bewegen uns nur zagend .. aber wir lassen einander und unsere vision nicht los.
Fast könnte man übersehen dass diese tief antibürgerliche utopie nichts als einen wunsch beschreibt · so wahr ist wie das trügerische aufleben der natur - aber auch ganz genau so schön. Dazu stünde nicht im widerspruch wenn David recht hat der in dem kind den siebzehnjährigen Hofmannsthal zu erkennen glaubt (63f.) - dem der ganze band ja gewidmet ist und mit dem es die hier besungene innigkeit auf dauer ja eben gerade nicht gab.
So mag man lange darüber nachdenken ob die PILGERFAHRTEN nun ihr ziel erreicht oder wenigstens einen abschluss gefunden haben. Währenddessen werden einem die künstliche geschlechtslosigkeit des blauen gefährten und die verwendung des immer rätselhaften begriffs »geschwister« - mit irreführender assoziation an Hänsel und Gretel - ein lächeln ins gesicht treiben: die tendenz der gedichte von 201 bis 219 spricht eine zu eindeutige sprache.
Die spange - das ist wol der ALGABAL als das verbindungsstück zwischen den PILGERFAHRTEN und der späteren dichtung. Für die zukunft ins auge gefasst ist demnach ein kühler nüchterner stil (das variiert einen bereits in 211 angedeuteten gedanken) und man denkt an die drei BÜCHER und vielleicht sogar bereits an den STERN ohne dass damit behauptet werden soll George habe 1891 schon genau gewusst was er 1914 veröffentlichen werde. Doch steht ihm das »eisen« noch nicht zur verfügung und deshalb muss er für den ALGABAL noch mit gold und edelstein vorlieb nehmen. Die pointe liegt darin dass das gemeinhin als wertvoll erachtete hier keineswegs als das erstrebenswerte gilt und und nur aushilfsweise in kauf genommen wird. Auch dies ist eine antibürgerliche volte.
Wenn Osterkamp Georges NEUES REICH als »Reich ohne Frauen« beklagt sollte er auch einmal nachzählen wie wenige männer das ohnehin dünn besiedelte alte reich des jungen George bevölkern. Das ist Osterkamp freilich keine überschrift wert. In den HYMNEN sticht die vitale wandergefährtin mit ihrer EINLADUNG den passiven hospodar allemal aus der sich nur bedienen lässt und stumm wie ein fisch bleibt. Ein mann hat im ganzen zyklus nämlich gar nichts zu sagen (und die drei minderjährigen sind jedesmal schnell wieder verschwunden).
In den PILGERFAHRTEN ist das im lezten George-band tatsächlich schwächer vertretene geschlecht dank der roten frauen und der faszinierenden Isi-Coblenz-dublette am kamin und der verschmähten · schliesslich der gebrochenen doch eigentlich aufrechten venezianerin und der einfühlsam skizzierten am tor · der frau mit dem finger · der eintagsfliege und schliesslich der verdrossenen herrin im blumeneden so klar in der überzahl dass im ganzen zyklus kein einziger mann auch nur einen stehplatz findet - der ruhmlose fant wäre sicher noch ein fall fürs jugendgericht doch ist Georges dame nicht so modern und würdelos alle schuld auf den mann zu schieben und ihn vor den kadi zu zerren.
Und keine dieser frauen ist hexe oder Madonna und furchteinflössender oder entsexualisierter oder domestizierter als das statistische bevölkerungsmittel. Osterkamp musste bis in die FIBEL zurückblättern um wenigstens in den allerersten jugendgedichten ein paar solcher extreme auszugraben (2010, 258). In keinem vers erkennt man den »unüberwindbaren Ekel gegenüber dem Frauenkörper« (2010, 247) der angeblich Georges feder im BRAND DES TEMPELS 924 führt und dann doch - wenn in George so unüberwindbar verankert - hier in den PILGERFAHRTEN nicht fehlen dürfte.
Osterkamps schauergeschichten dürfen getrost ins unterste regalfach wandern - am besten zu Raulff und den anderen journalisten: die skandalisierende sprache ist ihr gemeinsames merkmal.
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