4 DIE BÜCHER DER HIRTEN- UND PREISGEDICHTE · 
DER SAGEN UND SÄNGE 
UND DER HÄNGENDEN GÄRTEN 

41  HIRTENGEDICHTE 4101-14

42  PREISGEDICHTE 4201-11 

43  SAGEN 4301-11
44  SÄNGE EINES FAHRENDEN SPIELMANNS 4401-14
45  DAS BUCH DER HÄNGENDEN GÄRTEN 4501-31 

 

Die drei BÜCHER erschienen auf 1894 datiert in einem band ende 1895 mit einer auflage von nunmehr 200 exemplaren und waren drei befreundeten dichtern gewidmet : Paul Gérardy · Waclav Lieder und Karl Wolfskehl. Die öffentliche ausgabe kam 1898 bei Bondi heraus (datiert auf 1899). In den anthologien sind aus ihnen vertreten bei

Wolters: 4101 · 4104 · 4107 · 4108 · 4110 · 4111 · 4301 · 4303 · 4307 · 4308 · 4414 · 4506 · 4531

Böhringer: 4101 · 4107 · 4112 · 4201 · 4211 · 4310 · 4403 · 4406 · 4408 · 4414 · 4508 · 4518

v. Schirnding: 4107 · 4406 · 4408 · 4506 · 4518 · 4524

Klett: 4104 · 4107 · 4108 · 4112 · 4310 · 4406 · 4408 · 4508 · 4520 · 4524 · 4531

Die vorrede zur öffentlichen ausgabe war schon 1894 in den BfdK erschienen und nennt die drei BÜCHER »spiegelungen einer vorübergehend in andere zeiten und örtlichkeiten geflohenen seele«. Doch gehe es nicht um bilder geschichtlicher abschnitte sondern um das »persönliche und heutige«. Jedem BUCH ist aber eine »von unsren drei grossen bildungswelten« zugeordnet.

Auch wenn George die bedeutung der geschichtlichen einkleidungen herunterspielt so lässt sich doch nicht leugnen dass es um viel mehr als um blosses kolorit geht: nämlich bekenntnisse für und gegen diese »bildungswelten«. Die islamisch-arabische welt wirkt faszinierend in ihrer sinnlichkeit aber sie ist auch die durch den harem symbolisierte welt der despotie und der weichheit gegenüber genüssen. In den HÄNGENDEN GÄRTEN geht es um eine orgie der gewalt · um drogenrausch und noch eine orgie · um heimlichen liebesgenuss und masslose leidenschaftlichkeit die doch nur lähmt · um dekadenz die schliesslich in der selbstauflösung endet. Das ist alles andere als ein bekenntnis zu dieser welt. Wie einen gegenpol dazu zeichnen die SAGEN UND SÄNGEN das christliche mittelalter als eine welt naiver gläubigkeit · der bevormundung und des liebesverzichts. Das entstehende bürgertum gerät ins blickfeld und kommt nicht gut dabei weg. Einige gedichte drehen sich im grunde um Georges eigenes verhältnis zum katholischen glauben und zeigen ein modernes und wenig mittelalterliches denken.  Hier lässt sich gut erkennen was George meinte als er vom »persönlichen und heutigen« als dem eigentlichen gehalt der BÜCHER sprach.

Auch in diesem zweiten BUCH ist die darstellung der epoche alles andere als einseitig oder gar lieblos. Aber nur das erste - das BUCH DER HIRTEN- UND PREISGEDICHTE - lässt eine welt entstehen die uneingeschränkte bewunderung verdienen soll : die griechische antike. Sie wird durchaus nicht idealisiert. Es gibt bittere abschiede · menschliches leid und tragische lebensverläufe. Aber diese welt bringt persönlichkeiten hervor und ermöglicht ein leben in stolz.

 

41  HIRTENGEDICHTE 4104-14

Das gilt jedenfalls für die HIRTENGEDICHTE. Um persönlichkeiten geht es auch in den anschliessenden PREISGEDICHTEN · doch entstammen sie der umgebung Georges. Sie bekommen griechisch klingende pseudonyme und dass sie der gerade erst in so günstiges licht gesezten griechischen antike zugeordnet werden ist teil des preisens. 

In den ersten drei HIRTENGEDICHTEN spricht jeweils dieselbe frau. Jugend und alter bilden den gegensatz der folgenden drei gedichte und auf den antibürgerlichen HERRN DER INSEL folgen vier weitere preislieder für bewundernswerte oder umjubelte meist jugendliche helden. Im gegensatz dazu stehen wiederum die drei schlussgedichte : ruhm und hochstimmung verblassen und weichen schliesslich einem mit stolz ertragenen einsam-werden. 

4101 JAHRESTAG

schwester: der ausdruck verweist lediglich auf eine gefühlsmässige nähe zwischen beiden frauen. 

bräutigam: jede der beiden frauen sah in dem verstorbenen ihren künftigen bräutigam.

Weder aus der zweimal genannten farbe des tons noch aus der vegetation soll eindeutig auf einen bestimmten schauplatz geschlossen werden. Wichtig ist allein dass das wasserholen an einem gefassten brunnen und danach an einer natürlichen quelle eine denkbar archaische situation darstellt. Für die beiden frauen dient der gemeinsame weg jedes jahr der erinnerung an den mann den beide liebten und der vor mindestens sieben jahren verstarb. Dass sie denselben liebten mögen die beiden damals bei ihrem gespräch am brunnen gar nicht erkannt haben dem jede nur entnahm dass ihr bräutigam am selben tag wie der bräutigam der anderen verstarb. Doch begründete das von ihnen nicht durchschaute datum gewissermassen wie ein schicksalhaftes zeichen ihre schwesternschaft. Schultz spricht von einer »Enthüllung verjährten Betrugs« (1967, 94) - die enthüllung findet allerdings wol nur für den modernen leser statt der den profanen hintergrund des scheinbaren zufalls durchschaut anstatt ihn wie die beiden noch im mythischen verhafteten frauen naiv hinzunehmen - und verweist auf die metrische hebung auf »einer« im vorletzten vers. Das ist durchaus naheliegend zumal hinter diesem bräutigam ja eigentlich die frau steckt (siehe unten - und Algabal schon in 3207 zweifel an der ernsthaftigkeit weiblicher liebe äusserte). Zu der besonders edlen und entschieden gegen die moderne gerichteten ausstrahlung dieser neun zeilen trägt neben der geschlossenen form (die lezte zeile wiederholt das krug-motiv der ersten) und der statik des sich wiederholenden und jede entwicklung ausschliessenden geschehens bei dass leidenschaften wie schmerz oder eifersucht vollkommen beherrscht werden. Scheinbar deutet nichts darauf hin dass die beiden frauen in der treue ihrer liebe unsicher geworden wären.

Allerdings wurde durch den tod des merkwürdigen partners auch keine der beiden liebenden aus der bahn geworfen. Anders gesagt: auch ohne das andere geschlecht scheint das leben nicht wertlos geworden zu sein. Ganz offensichtlich hat dieser jahrestag des gesprächs zumindest für die sprecherin seine bedeutung als der beginn einer freundschaft - es geht ja gar nicht um den jahrestag des todes. Das aufsuchen der nicht wie der brunnen innerhalb der siedlung gelegenen quelle eignet sich als ritual der freundschaft weil dort anders als am brunnen keine soziale kontrolle stattfindet. An der quelle können sich die beiden »frauen« unbeobachtet nahe sein. Die quelle dient als symbol der privatheit dieser beziehung. Ihr aufsuchen eignet sich aber auch als ritual der erinnerung angesichts der die menschlichen verhältnisse symbolisierenden drei bäume. Ob das den beiden frauen unmittelbar bewusst ist lässt sich vielleicht gar nicht entscheiden.

Ute Oelmann schliesst aus dem plural (»nos fiancés nous étaient morts«) in einer von Rassenfosse bearbeiteten und veröffentlichten übersetzung Georges dass »es sich nicht um ein und denselben bräutigam handelt« (SW III, 117). Diese schlussfolgerung ist keineswegs zwingend. Vers 6 gibt ja lediglich wieder wie die sieben jahre zuvor aus dem mund der jeweils anderen empfangene mitteilung verstanden wurde : der einen frau starb ihr bräutigam und der anderen ebenso. Würde es sich aber tatsächlich um zwei bräutigame handeln wäre das symbol der drei bäume sinnlos und das gedicht hätte seine pointe und tiefe raffinesse verloren.

Die vorrede sprach von den »spiegelungen einer seele« in diesen gedichten. Als Algabal sich spiegelte (3206) erblickte er sich fast als ein mädchen. Um spiegelungen dieser art könnte es sich auch bei den drei ersten gedichten in diesem zyklus handeln. 

4102 ERKENNTAG

Serena: die freundliche (was hier soviel wie die einer freundin gleiche meint). Ein lateinischer name der aber keine mythologische bedeutung hat. 

Diese freundschaft erhöhte das leben der sprecherin zweifellos mehr als ihre beziehung zu dem nun verstorbenen heiratsschwindler. Beides verhält sich zueinander wie eine im raureif erstarrte zu einer im frühling ergrünenden landschaft (was die dadurch überraschte sprecherin nicht sofort erkannte). Ein blick auf die (etwa beim eintauchen oder herausnehmen des kruges) gewellte wasseroberfläche des brunnens liess das künftige verhältnis der beiden zuerst erahnen. Zu beginn war es noch von vorsicht geprägt. Als grössere sicherheit hinzutrat nannte die sprecherin die freundin »Serena« (ähnlich wie George die meisten Kreis-mitglieder umbenannte). Der ERKENNTAG bezeichnet aber in erster linie den augenblick als beide den sie verbindenden glauben feststellten von ihrem jeweiligen schicksal (hier mit den beiden sternbildern Schwan und Leier angedeutet) zu einem - und wie die sprecherin wol glaubt : vor allem gemeinsamen - leben für die kunst ausersehen zu sein. Dieser glaube an »das schöne wunder« bildet das gemeinsame »tiefste geheimnis«. George hat hier lediglich den aus den beiden ersten gedichtbänden bekannten wunsch ins weibliche gespiegelt. 

4103 LOOSTAG

haus und geschlecht: verdoppelnder ausdruck (hendiadyoin) für die eigene (wol vornehme) familie

Der optimistische ton im zweiten gedicht des trios beruhte wol auf wunschdenken und selbsttäuschung. Nun geht es bereits um die sorge der sprecherin vor einer lösung der »engen eintracht«. Diese lösung könnte den gedichttitel erklären. Allerdings kannte sich George im volksglauben und somit auch bei den bauernregeln gut aus. Dort geben lostage hinweise auf künftige entwicklungen des wetters. Anzeichen eines erst künftig eintretenden ereignisses bringt  auch dieser tag an dem sich die "schwester" mehrmals "gen westen" dreht (vielleicht sogar ein anklang an bauernregeln in denen himmelsrichtungen bisweilen eine rolle spielen).

Eine schöne pointe ist zulezt das kluge »uns« anstelle eines vielleicht eher zu erwartenden »mir«. Was die schwester »froh« macht bedeutet für die sprecherin ein »leid« und wäre das ende der gemeinsamkeit. Ein kompromiss wird nicht in erwägung gezogen. Eine hoffnung dass sich die sprecherin täuscht und vom westen her doch kein jüngling naht dürfte nicht allzu berechtigt sein. Auch hat sich die stets schweigsame Serena nie ausdrücklich zu der freundschaft bekannt : sie dürfte unter dem tod des bräutigams mehr gelitten haben und blüht erst jezt am rebenzaun wieder auf. 

Sieben jahre nach dem entstehen der drei tage-gedichte begann die freundschaft mit dem achtzehnjährigen Friedrich Gundelfinger der am selben gymnasium das abitur ablegte wie George zehn jahre zuvor. Da er sich George unterordnete und von ihm zu »Gundolf« umbenennen liess (die behördliche anerkennung konnte er schliesslich durchsetzen) gilt er als dessen erster jünger. Nach einem jahr duzten sich die beiden sogar und unternahmen gemeinsame reisen. Gundolf wurde Georges sekretär und sein haus am Heidelberger Schlossberg wurde eine zeitlang zum zentrum des frühen Kreises. George hielt Gundolf für einen begabten dichter. Zehn jahre lang übertrugen sie gemeinsam Shakespeare-werke. Gundolf sah sich zu recht vor allem als wissenschaftler und habilitierte sich mit einer arbeit über Shakespeare. Er wurde 1911 privatdozent - die antrittsvorlesung ging über Hölderlin - und im krieg professor für neuere deutsche literatur in Heidelberg. Seine durch ein grosses werk über Goethe und die enge beziehung zu George entstandene popularität und anziehungskraft auf studenten waren ebenso aussergewöhnlich wie seine legendäre arbeitswut. »Der hatte gedanken, so viele, wie von hier bis ans meer. Kaum hatte er einen strumpf angezogen, so sass er schon am tisch und schrieb« sagt der Meister im EWIGEN AUGENBLICK (Böhringer 1965, 29) über ihn · selbst im nachhinein noch liebevoll und anerkennend. Die trennung erfolgte durch Gundolfs heiratspläne die George - der seine affären (Gundolf war sogar vater einer unehelichen tochter) ertragen hatte - nicht guthiess. Gundolf verkraftete es nie dass George sich nicht mehr erweichen liess und starb schon 1931. LOOSTAG lässt bereits erkennen dass es bei George kein zurück geben würde (auch hatte Gundolf ohnehin ein bestimmtes alter erreicht und George mit Max Kommerell und Johann Anton gleichwertigen ersatz gefunden). »Von Dir falle ich nicht ab, auch wenn Du mich verwirfst« endete ein lezter brief an George den er bis zu seinem tod als seinen meister bezeichnete. Nur bei Robert Böhringer machte George eine ausnahme. 

4104 DER TAG DES HIRTEN

Das kann George: reinstes glück dichterisch gestalten ohne langeweile oder gar verdruss zu wecken. Eines der eindrucksvollsten gedichte Georges. Alles notwendige dazu hat M in unübertrefflichen formulierungen festgehalten die zunächst erkennen lassen wie sehr er dieses gedicht als eine grosse hymne auf eine bestimmte altersstufe empfunden hat. Die von dem hirten betretene waldschlucht ähnele »der Morgenbachschlucht bei Bingen, die der Dichter gern aufsuchte«: eine für M typische formulierung. Er sieht natürlich auch dass die schlucht hier völlig typisiert geschildert ist und sich deshalb von hundert anderen schluchten überhaupt nicht unterscheidet. Gemeint ist vielmehr dass in dem hirten George selbst zu erkennen sei. Es ist der aus der FRÜHLINGSWENDE 052 bekannte knabe der sich der bestimmung durch erwachsene so gut es geht entzieht: nur dass er hier nicht das interesse an waffen verweigert sondern die herde vernachlässigt und sich nicht an den waldsee sondern in eine waldschlucht zurückzieht.

Der hirt sei so jung dass er »noch kein Erlebnis mit einem andern menschlichen Wesen gehabt hat« (er war also bislang nicht verliebt). Er fühle »noch kein Sehnen oder Begehren, die auf ein bestimmtes Ziel deuten« (ist im gedicht allerdings doch schon »voll neuer ahnung« und kein kind mehr) und sei vielmehr ganz »von der Gegenwart erfüllt« und »noch nicht von Gedanken an Zukunft beschwert«. In diesem kurzen lebensabschnitt bedarf er nicht mehr und noch nicht irgendeines menschen und genügt sich in der freiheit von menschlichen kontakten gänzlich selbst. Anders als der bereits dekadente Algabal bedarf er nicht der aufwendig gestalteten künstlichen sensationen der UNTERWELT. Autarkie und glückseligkeit · klassische merkmale des göttlichen · treten bei George nicht am ende eines lebenswegs als ergebnis langer arbeit an sich selbst in erscheinung sondern wenn überhaupt im dritten jahrsiebent. Dass dieser junge sich schliesslich selbst krönt weckt nicht ablehnung sondern ist nur folgerichtig. Die vergöttlichung Maximins musste eigentlich niemanden wundern.

Dass er bei aller freude an der schönheit des goldes kein interesse für dessen materiellen wert zeigt und erst recht nicht daran denkt es sich anzueignen und sich zu bereichern hat aber nichts mit seiner jugend zu tun - er ist eben kein bürger. Und dass er in den muscheln anzeichen seines »glücks« zu erkennen glaubt ist kein hinweis auf aberglauben sondern auf seine grundsätzliche selbstbejahung und die abwesenheit lähmender selbstzweifel. Das erzieherische gedicht umreisst einen vorbildhaften typus. In der identifikation mit ihm gewinnst du jenes »gefühl gross und wert zu sein« das George schon durch seine blosse anwesenheit jugendlichen vermittelte denen er den zugang erlaubte (vgl. Hans Brasch 1970, 25, der 1911 mit neunzehn jahren über Morwitz zu George kam und 1934 im ägyptischen exil - auch er war jude - erinnerungen daran aufschrieb).

Zulezt aber gewinnt er konturen die in 052 allenfalls zart angedeutet waren. Dass der junge sich mit (in seiner jugendlichen »Naturreligion« als heilig empfundenem) laub bekränzt - erklärt M - sei bei George immer ein zeichen für ein »Sich-über-den-Alltag-Erheben« wie in der antike oder dann wieder bei Dante. Der gegensatz des alltags aber ist das fest. Gefeiert werde oben auf dem gipfel mit dem sonnenuntergang »der Weiterzug des Gestirns« : natürlich lehnt M genau wie George jede »romantische« sentimentalität - auch etwa beim anblick der lezten sonnenstrahlen - ab. Streng weist er auch darauf hin dass George keineswegs feierwütig war : vielmehr habe der Dichter den werktag als die grundlage des lebens bejaht und »Jüngere nicht mehr zu sich gelassen, weil sie ihren weg im alltäglichen leben nicht fanden, was er als Zeichen innerer Schwäche ansah«. 

Der sonnenuntergang weckt in dem hirten nicht sentimentale sondern religiöse empfindungen die ihn zum gebet und schliesslich zu seinem lied bewegen. Das gedicht habe sein ziel also in der erklärung des »Entstehens von Dichtung aus einem religiösen, hymnischen Überschwang« (und geht damit über 052 deutlich hinaus). Das ist nichts anderes als Georges auffassung vom wesen der dichtkunst die bei ihm deshalb bekanntlich stets ernst und manchmal feierlich klingt. Typisch George ist aber auch : so wenig ihn die ganze jubelnde frühlings-natur wirklich ergreift (denn »er aber lächelte für sich«) so wird auch die unterwerfung unter das religiöse rasch überwunden oder eigentlich sogar stolz verweigert. Kaum hat es seine funktion der initialzündung erfüllt . .  da »krönt« sich der betende dichter-hirte schon selbst. Auch im hirten steckt etwas von dem priester Algabal. Aber er ist keine kopie - und jünger.

4105 FLURGOTTES TRAUER

born : quelle (in deren wasser sich der flurgott spiegelt). In 4106 sind das gewässer und die quelle identisch so dass vielleicht auch hier die stelle gemeint ist wo eine quelle unter der wasseroberfläche den see speist.

klagen sprechen : klagen ist substantiv.

Zum Herrn der Ernte : nach M (und SW III, 118, unter hinweis auf Baudelaires »La Muse malade« in Georges umdichtung) Pan zu dessen gefolge M den flurgott zählt

Als singender flötenspieler sei auch der flurgott ein künstler und sein lied »Symbol für die aus Sehnen geborene Dichtkunst«. Denn anders als der junge hirte ist sich der flurgott »seiner Einsamkeit bewusst«. M erklärt das zulezt resignative verhalten des flurgotts wenig überraschend mit seiner aus dem blick auf das wasser erwachsenen erkenntnis dass er in seiner unansehnlichkeit »für immer von den Menschen« nach denen er sich sehnt getrennt sei. 

Es erscheint aber nicht naheliegend den hässlichen flurgott als alter ego des jungen George und überhaupt so vorrangig als künstler zu nehmen. Denn alt ist der flurgott vor allem und wenn er wie alle alten männer am liebsten angelt und ansonsten die stille des häuschens am waldrand geniesst oder den herabrieselnden blütenblättern des weissdorns nachschaut umweht ihn nicht gerade die aura des besonderen. Und um das aufgeben seiner kunst mit der es ohnehin nicht mehr weit her war - er spricht geringschätzig von seiner pfeife und nennt sein spiel nur noch an zweiter stelle (nach dem angeln!) - in dem moment des verlusts aller hoffnung geht es mehr als um deren entstehung. Dieses gedicht als ein vor allem poetologisches aufzufassen führt in die irre.

Es provoziert mit der absolutsetzung von jugendlicher schönheit gegen die mit dem ewigen leben ein traditionell Erstrebenswertes geradezu wertlos erscheint - (nur dafür wird der alte als gott vorgestellt). So kann die existenz dieses unsterblichen greises der gegen sein verlachtwerden nicht protestiert sondern es vielmehr als offenbar berechtigt duldend hinnimmt - denn nicht gegen die mädchen sondern den für die vergänglichkeit der schönheit verantwortlichen gott richten sich die klagen - nur tragisch genannt werden. Da ihm die sinnlosigkeit dieses klagens sicherlich bewusst ist macht er sich durchaus nicht lächerlich. Er wird seine ankündigung nicht ernst gemeint haben - und wir sehen nicht dass er tatsächlich klagt. Sonst wäre er nichts als eine komische figur. Dass er nach dem deprimierenden erlebnis und schlimmer · der daraus folgenden erkenntnis noch scherzen kann gibt ihm vielmehr seine würde zurück. 

Es ist weder gerecht noch (im christlichen sinn) human dass äussere schönheit über die akzeptanz von menschen entscheidet. George zeigt hier wie sehr er sich dessen bewusst ist - und sich doch dazu bekennt und auch die bitteren konsequenzen hinnimmt. Der angelnde rentner wird eben einsam bleiben. 4113 wird diese haltung bekräftigen. Man kann sich über solche ergebenheit empören oder sie auch weise nennen. Sie ist jedenfalls bezeichnend für Georges denken - und das ist griechisch und tragisch. Nie wird er nach gleichheit und gerechtigkeit schreien. Gleich das anschliessende gedicht kann als blosse variation aufgefasst werden - die von der hier gezeigten position in nichts abrückt und sie eher noch unerbittlicher wiederholt. 

4106 ZWIEGESPRÄCH IM SCHILFE

Kann ein gott mit der selbsttötung drohen? Das wäre nicht die entscheidende frage denn verfremdende brechungen gibt es einige in diesem zyklus. Und der sprecher der ersten zeilen hört sich tatsächlich so an wie der frustrierte flussgott nach dem blick in den born klingen könnte - und nachdem ihm der Herr der Ernte den kopf gewaschen hat. Sein anglerteich ist nun zum alleinigen schauplatz des geschehens geworden. Die allzu gross-sprecherischen superlative scheinen nur noch als leeres imponiergehabe zu verstehen sein (erst recht wenn man weiss wie wenig die kunst dem flurgott in 4105 noch bedeutete) um die in jeder hinsicht überlegene rivalin irgendwie noch einzuschüchtern · aber der eher versehentliche hinweis auf den mittagsschlaf verrät mehr über die müdigkeit des alten als ihm lieb sein kann und weckt zweifel an der gerade erst trotzig behaupteten ungebrochenen künstlerische schaffenskraft (wonach ihm immer noch schönste gesänge einfallen würden). Die sehnsucht die ausweislich 4105 doch die voraussetzung aller kunst darstellt ist nun erloschen · der anblick von winden und stengeln genügt und ersezt alle reale erotik während die nymfe - von dem kurzen augenblick der vergeblichen einladung zur uferbegehung abgesehen - nur noch als störenfried gilt. Mit dem hinweis auf den glanz der sträucher endet die dreiteilige eingangs-konstruktion mit dem schwächsten glied und stellt dadurch ein zeugnis des mattwerdens dar. 

Im streit am see verweist die wasserfrau auf ihre unsterblichkeit und schönheit. Legst du die betonung auf »und« klingt alles wie ein spielerischer bezug auf das vorangegangene gedicht: dort war der flurgott zwar unsterblich aber eben nicht schön. Die nymfe würde also das dort gesagte aufgreifen und die schönheit zum entscheidenden argument machen: weil sie dem gesprächspartner nicht gegeben ist kommt nicht einmal ein gemeinsamer uferspaziergang in frage. Dass anderenfalls sogar die blumen lästern würden angesichts seiner unansehnlich behaarten schultern ist ein so bösartiger spott dass der flurgott - wenn er es ist - nur noch mit einer art platzverweis zu reagieren vermag. Aber wir stehen hier an der grenze von gelände und gewässer - dem gelände des flurgotts und dem gewässer der nymfe (»hier« muss betont gelesen werden - oder »ewig« falls du unter berufung auf eben die unsterblichkeit eines gottes dem alten nur zubilligst mensch zu sein). So fühlt sich auch sie im recht und denkt nicht daran zu verschwinden. 

Die pointe des gedichts ist weit weniger aufdringlich und in ihrer raffinesse für George weitaus typischer als die des vorangegangenen. Sie besteht in der provozierenden höhergewichtung der schönheit gegenüber dem leben. Der tod des gedemütigten Alten wäre der wasserfrau nämlich gleichgültig - nicht aber die verhässlichung ihrer lieblichen quelle durch dessen blut. Hinzu kommt die frage wodurch sich die nymfe berechtigt fühlt in so apodiktischem ton dem greis das misslingen seiner absicht vorauszusagen: darauf sind mehrere antworten denkbar. Jedenfalls hat er nicht nur im grenzkonflikt den kürzeren gezogen sondern auch alle autorität in fragen der ästhetik verloren. 

4107 DER HERR DER INSEL

Ein vogel : Schneider gibt im Werkkommentar (2017, 106) den hinweis auf fossilien eines riesigen laufvogels die französische forscher auf Madagaskar fanden. Da diese insel bald danach und während sich George in Paris aufhielt französisches protektorat wurde dürfte George von den berichten der forscher erfahren haben. Das aussterben dieser elefantenvögel (Aepyornis maximus) offenbar im siebzehnten jahrhundert ging wol tatsächlich auf die zunehmende menschliche besiedlung der insel zurück. Es ist bemerkenswert dass sie wie im gedicht tatsächlich sehr scheu und nachtaktiv waren.

Gescheiterte : vielleicht nicht unbedingt nur wie M meint »Nicht-ins-Leben-des-Alltags-Eingeordnete« sondern fischer die vom meer auf den strand der insel zurückgeworfen wurden. Freilich ist die doppeldeutigkeit des begriffs verlockend. Aber erstens hatte George bei aller sympathie für aussenseiter eigentlich kein gefallen an (in seinen augen wegen innerer schwäche · vgl. zu 4104) gescheiterten und zweitens ist die archaische und homogene fischer-gesellschaft im gegensatz zu einer bürgerlichen eher selten in der lage solche existenzen hervorzubringen. Vielmehr musste George einfach eine möglichkeit finden die es erklärt dass die fischer über den purpurnen vogel berichten konnten obwol ihn doch eigentlich keiner je zu gesicht bekam. Andererseits zeigt 4113 doch zwei die einer nicht minder archaischen gesellschaft entstammen und vom standpunkt der mehrheitsgesellschaft aus als gescheiterte gesehen werden dürften. Und ähnliches trifft für den TÄTER und den GEHENKTEN · die bekannten gestalten aus 6210 und 921 zu: sie sind tatsächlich nicht oder nicht mehr in das mehrheitsleben eingeordnet aber immer ist ihnen eine eigentümliche stärke zu eigen.

Die gelehrten erläuterungen von M sind am ende doch nicht so erhellend. Wenigstens erwähnt er nicht eine vermeintliche ähnlichkeit mit dem Albatros-gedicht von Baudelaire wegen der 4107 sonst durch die bank als poetologisches gedicht aufgefasst wird. So etwa sieht Egyptien in Georges gedicht das symbolistische bekenntnis dass »eine Koexistenz von Kunst und Leben unmöglich« sei (2018, 96). Doch zeigen ja gerade DIE LIEBLINGE DES VOLKES ( ! ) und hier besonders der junge SAITENSPIELER 4111 dass sich kunst und leben jedenfalls in der welt des lezteren überhaupt nicht notwendig ausschliessen. Man macht George nicht gut verständlich indem man aus jedem zyklus gerade mal ein oder zwei gedichte herausgreift und irgendwie stellvertretend für alle anderen interpretiert. 

Darüber hinaus müsste Egyptien natürlich auch die fragen beantworten ob ausgerechnet ein schwerfälliger kaum richtig flugfähiger vogel - das glatte gegenteil eines albatros - die kunst verkörpern kann und warum das leben der fischer-gesellschaft für die der vogel wenn abends die arbeit endet sehr wol eine bedeutung hat gar kein leben sei - obwol ja gerade George bekanntermassen den von moderner zivilisation unberührten gesellschaften hohe achtung entgegenbrachte. Wir sind hier nämlich halb in hesiodischer · halb in vorkolonialer zeit und der tod des vogels steht als pars pro toto für das ende des mythischen zeitalters. Daher muss seine erscheinung wie alle mythischen gestalten der anschauung entzogen sein. Aller mythos ist auf verkündung angewiesen: deshalb die süsse stimme des vogels der sie abends im schutz der dunkelheit erklingen lässt - nicht nur für die delfine die schon bei Hesiod den gesang Arions liebten. Seine purpurne farbe und das bis in den tod stets beherrschte verhalten verweist auf priesterliche würde und göttern und heroen wird sein gesang gewidmet sein. Victor Frank der in den dreissiger-jahren so ausschliesslich wie kaum ein anderer im geist der George-gedichte lebte (und ganz besonders der HIRTENGEDICHTE) nannte seinen verlag der sich weitgehend mit ins deutsche übersezten gesängen aus dem geliebten Homer befasste »Delfinverlag« : die delfine waren er und seine an den übertragungen beteiligten freunde.

Zwar gibt es auf der insel olivenöl gewürze und bodenschätze aber sie sind noch keine handelswaren. Kalkül gewinnstreben technik und aufklärung werden nun aber mit den modernen menschen über das land hereinbrechen. Als er die weissen segel ihrer handelsschiffe sieht weiss der vogel dass seine zeit damit abgelaufen ist. 

Sabine Lepsius nannte dieses gedicht »den Schlüssel des Verstehens zu Georges Dichtung überhaupt«. Das starke wort mag darin begründet sein dass ihr ein ähnliches bewusstsein zu eigen war am ende einer epoche zu stehen. Sie jedenfalls habe es aus »der Georgeschen Kunst« gewonnen (1935, 44f.).

Ein weiteres bekenntnis zum frühen Griechenland folgt in

4108 DER AUSZUG DER ERSTLINGE

Hier sprechen die knaben die durch das schicksal als erste ihres jahrgangs geboren worden zu sein dazu ausgewählt wurden die heimat zu verlassen und in eine ungewisse · wol jedenfalls gefahrvolle zukunft in der fremde aufzubrechen. Dahinter mag die vorstellung stehen dass viele griechische kolonien etwa an der kleinasiatischen sizilianischen oder französischen mittelmeerküste von auswanderern gegründet wurden die in zeiten der überbevölkerung die eng gewordenen poleis verliessen und durch - das ist nach M für die römische frühgeschichte als ver sacrum und humanere form eines als sühne fällig gewordenen menschenopfers überliefert (George mischt auch hier verschiedene sfären der geschichte) - ein losverfahren unter den in frage kommenden dazu ausgewählt wurden viele jahre danach als volljährige die heimat zu verlassen. George macht sie aber deutlich jünger : geistige reife bei sehr jungen menschen ist einfach faszinierender. 

In welcher haltung die eltern und erst recht die jugendlichen ihren abschiedsschmerz tragen ist das wesentliche des gedichts. Den jungen wird ein ehrendes fest gegeben. Die väter verzichten auf alles schön- und klugreden während sie die auswanderer bis zur polis-grenze begleiten (die mütter hingegen verlassen natürlich selbst bei dieser gelegenheit nicht das haus). Ein trost ist auch gar nicht erforderlich: die erziehung hat die kinder immer gelehrt dass - das individuum zählt hier noch nicht - alles richtig ist wenn es »den unsrigen zum heil« gereicht. Dieses wissen um die notwendigkeit des geschehens genügt. Hinzu kommt die stolze gewissheit dass für die gruppe mit hilfe der götter alles gut gehen wird - auch wenn der einzelne nicht immer überlebt. Die besten freunde werfen dann dem toten ihre holztafel mit guten wünschen ins grab und opfern damit ohne zu zögern das lezte was sie noch mit ihren eltern verband (die vollständige innere lösung von den eltern wird bei George ja immer wieder gefordert · zuerst schon beim sechzehnjährigen in PRINZ INDRA und erst recht natürlich im STERN). 

Das gedicht verherrlicht die bereitschaft mancher jugendlicher sich für ein grosses hinzugeben - Hildebrandt nennt sie »die Ur-Frömmigkeit« (1960, 64) und bietet eine erklärung warum so viele von ihnen sich George für immer anschlossen. Die geistige grundlage für das attentat vom zwanzigsten juli wird hier schon bereitet. 

4109 DAS GEHEIMOPFER

Eine variante und steigerung des vorigen gedichts wobei die jugendlichen sich hier in ähnlicher hingabe nicht einem sozialen oder politischen zweck widmen sondern ihr leben dem dienst für die kunst widmen der aber ganz in religiöse formen gekleidet wird. Die jungen brechen auf aus der sonnigen welt von Memnon und Mirra in der es ihnen gut ging. Dass dieser aufbruch nicht nur das ende ihrer heiteren und leichten lebensform mit sich bringt sondern ihre wohlmeinenden gastgeber (oder wol doch eigentlich eltern) wie eine undankbarkeit schmerzt bedeutet ihnen ausdrücklich nichts so dass sie genau wie die erstlinge im gedicht zuvor ohne alle zweifel sind und sich mit sich selbst »versöhnt« nennen (die für George typische mitleidlos harte konsequentheit wird euphemistisch abgemildert. »Uns rührt nicht ihr glück« heisst nichts anderes als : ihr unglück darf uns nicht rühren) angesichts des rufs der sie ereilt hat: zum dienst am Schönen welches das Höchste und Grösste genannt wird. Dieser dienst wird verbildlicht durch tätigkeiten die die jungen in einem tempel zu verrichten haben der in einem wäldchen liegt. In diesem dunklen bereich sind sie vor den blicken der hellen äusseren welt aus der sie aufgebrochen sind geschüzt - was hier geschieht bleibt der welt unzugänglich und geheim. Ganz sicher ehren sie nicht scheu das volk wie M meint denn dieser ganz grosse und heiligmässige begriff »scheu« würde sich niemals auf ein niederes beziehen. Die scheue ehrfurcht gilt vielmehr dem göttlichen für das der tempel errichtet ist: dem Schönen. Der dienst an ihm bezieht sich auf den schmuck des altars · das bewachen des heiligen feuers · den noch etwas unsicheren gesang und nicht zulezt - es ist ein George-gedicht - die pflege des leibes. Denn wie im gedicht zuvor sind doch die jungen selbst das eigentlich schöne und wenn diese schönheit sich in einem bestimmten alter vollkommen entfaltet hat dürfen sie - angeschmiedet wie Odysseus - bebend einen blick werfen auf die entschleierte gottheit · die idee der schönheit aus der sie selbst erwuchsen · die sie nur einmal schauen um seitdem bis zu ihrem fernen tod die sehnsucht nach ihr wie eine nie mehr erlöschenden glut in sich zu tragen. Damit aber haben sie sich - das ist ihre »erlöst«-heit und doch auch ihr opfer - der äusseren welt für immer entzogen. Viel später · im dritten buch des STERNs DES BUNDES wird 8302 dasselbe noch viel härter sagen - und mit »hof und hain« begriffe aus 4109 aufgreifen. Und selbst der SCHLUSSCHOR 8331 scheint direkt an das GEHEIMOPFER anzuknüpfen.

4110 DIE LIEBLINGE DES VOLKES · DER RINGER

Von den eltern ganz gelöst hat auch er sich - er nimmt sie nicht einmal mehr wahr. Wie auch die meisten künstler denen er mit seinem lorbeerkranz des siegers doch sehr ähnelt hat er schwere »unberühmte« jahre hinter sich die ihn ernst gemacht haben. Aber nun bedeuten ihm der jubel des volks und die bewunderung seiner muskulösen arme nichts mehr. Er ist ein held geworden der die welt seiner herkunft hinter sich gelassen hat. In sein inneres zu blicken ist nicht möglich - vielleicht würde es sich gar nicht lohnen.

Mit dem löwenhaft starken leib ist er ein sportler auf dem höhepunkt seiner entwicklung und seines erfolgs · ein liebling der frauen die nun schon ihre kinder grossziehen aber sicher nicht mehr der Georges.

4111 DIE LIEBLINGE DES VOLKES · DER SAITENSPIELER

Die jugend hat ihre eigenen helden. Hier aber finden selbst die greise an ihnen gefallen (die verstehen wol auch mehr davon als die mütter). Das gilt jedenfalls für den lockigen lautenspieler der mit seinen noch schmalen schultern anders als der muskelmann zuvor die »scheu der jugend« wie den stempel einer exklusiven marke trägt. Sein ruhm erstreckt sich dennoch schon über den ganzen mittelmeerraum - wo immer olivenbäume gedeihen - und reiche frauen trennen sich angesichts seiner erscheinung von kostbaren schmuckstücken. Seine begabung besteht darin die glut der begeisterung auf andere und vor allem: auf die jüngeren übertragen zu können - dies beweist das rot ihrer wangen. Nachts denken alle knaben nur an ihn und können nicht einschlafen während sie sich tagsüber hüten darüber zu sprechen wem ihre bewunderung gilt. Die mädchen müssen sich solche vorsicht nicht auferlegen. Auch dieser junge künstler bleibt uns in seinem inneren ganz fremd. Ob es ihn etwa freut so im mittelpunkt zu stehen scheint keine erwähnung wert zu sein.

Die beiden LIEBLINGE-gedichte drohen in ihrer einseitigkeit - alles ist nur triumf und bewunderung - ein wenig flach zu wirken. Doch drehen sich die drei anschliessenden und lezten gedichte des zyklus um tragische aussenseiter und können als eine art gegenpol verstanden werden: sie machen die vergänglichkeit von erfolg und ruhm bewusst. Natürlich bleibt George bei dieser wahrlich nicht neuen erkenntnis nicht stehen. Ihn interessiert vielmehr der richtige umgang damit.

4112 ERINNA

Der blick auf das empfinden dieses saitenspielers wird nun nachgeholt so wie sein lautenspiel mehr die äussere seite seiner kunst darstellte und der gesang hier nun die innere. Hingegen muss seine äussere erscheinung nun nicht noch einmal thematisiert werden. Er bekommt bezeichnender weise einen weiblichen namen (was hier am ende des zyklus die aus den drei tag-gedichten von seinem beginn her bekannte technik aufgreift): den namen der bedeutenden dichterin Erinna von Lesbos die in der antike und noch bei Eduard Mörike als jüngere freundin der Sappho dargestellt wird. Einen Eurialus wird sie gewiss nie geliebt haben. Die trauer um den frühen tod ihrer jugendfreundin Baukis soll Erinna zum dichten gebracht haben. Doch starb sie selbst wol ebenso mit erst neunzehn jahren. 

Auch ihm bedeutet die in 4111 bereits thematisierte geradezu magische wirkung seiner kunst (die ihm lediglich berichtet wird und die er nicht selbst wahrnimmt) nichts · weder seinem verstand noch seinen gefühlen · und das weist darauf dass er dem zuvor genannten saitenspieler zugeordnet werden kann. Die ästhetizistische kunst sieht ihre aufgabe ja nicht im erzeugen von effekten beim publikum. 

Wenn M zu 4105 sagte dass kunst vom sehnen hervorgebracht wird ist dieses gedicht sein bestes zeugnis. Die sehnsucht nach Eurialus füllt Erinna die weder eine frau ist noch das andere geschlecht liebt völlig aus. M äussert den gedanken dass dieser ersehnte mit seiner vorliebe für pferde eigentlich gerade »nicht der Kunst, sondern der Tathaftigkeit der Aussenwelt zugewandt ist« · »sein Leben im Gegensatz zu ihrem Leben steht« und er wol gerade deshalb »so intensiv geliebt wird«. Man mag dann vielleicht an Hugo Zernik (vgl. zu 7721) · Willi Dette oder erst recht zwei der drei KINDER DES MEERES 9105 denken. Nichts berechtigt zu der annahme dass wenigstens Erinnas liebe aussicht auf erfüllung haben könnte.

4113 ABEND DES FESTES

Das gedicht knüpft teils an die ERSTLINGE teils an das GEHEIMOPFER an · beschäftigt sich aber wie die gedichte vor diesen beiden mit verlierergestalten. Georges blick gilt keineswegs nur den erfolgreichen. Erneut geht es darum dass die götter durch ein wenn auch wiederum zivilisierteres menschenopfer besänftigt werden müssen. Die sühne soll durch tempeldienst von knaben erbracht werden und dafür haben priester nach einer art vorbereitungslehrgang unter den zwölf teilnehmern die zehn schönsten ausgewählt · ihre entscheidung aber noch nicht bekanntgegeben. Wieder gibt es ein abschiedsfest bei dem nun der sprecher anzeichen dafür bemerkt dass er und Menechtenus aussortiert wurden. Das mitleid im blick der anderen trifft seinen stolz unsäglich. Ein zurück zu den anderen jungen die ihr leben als hirten oder bauern verbringen werden sieht der sprecher deshalb als unmöglich an. In welch übermenschlicher selbstbeherrschung er das ihn erkennbar verletzende und gemessen am spiegelbild des quellwassers ihm als recht willkürlich erscheinende urteil erträgt (und womöglich hatten die priester am sprecher und vielleicht auch seinem gefährten doch etwas ganz anderes auszusetzen) und mit welcher entschlossenheit er einen einsamen und wenig hoffnungsvollen aus- oder gar irrweg begehen wird - ohne zu protestieren · vielmehr sich ganz dem brauch und der gemeinschaft unterordnend - ist das eigentliche thema dieses pädagogischen gedichts. Indem er selbst seinen festlichen kranz wegschleudert verweigert er stolz die rolle des erleidenden opfers und macht sich selbst wieder zum heldenhaft handelnden. Ob der von ihm angesprochene Menechtenus zu einer ähnlichen opferbereitschaft fähig ist und sich darüber hinaus dafür entscheidet den weg mit dem sprecher gemeinsam zu gehen bleibt offen. Es ist eigentlich eine ähnliche situation wie in ERKENNTAG: Der sprecher nuzt das gemeinsame unglück und tastet sich vorsichtig heran.

Schneider weist dem gedicht einen besonderen stellenwert zu: von hier aus beginne eine linie die zum STERN DES BUNDES mit seiner »harten ethik« führt wie sie »auch in der Stoa gepflegt wird«. Im STERN werde ebenfalls nicht jeder berufene ein auserwählter (WK, 119). Der sprecher und Menechtenus seien nicht auserwählt worden weil es ihnen an innerer schönheit gefehlt habe. Er sei daher nicht im recht wenn er sich auf das urteil der quelle beruft: innere schönheit kann nicht durch einen blick in den spiegel ermittelt werden. Schneider versteht schon dieses frühe gedicht ausdrücklich »von Platons Lehre« her (118) - doch wäre sicher schon Hildebrandt (1960) auf diese idee gekommen. Vor allem enthält das gedicht keinen hinweis darauf inwiefern die beiden ausgeschlossenen dem platonischen schönheitsbegriff nicht entsprachen. Dieser hinweis wird deshalb von Schneider auf kaum überzeugende weise konstruiert: der blick in den spiegel deute auf eitelkeit - genau wie die weigerung zu ländlicher arbeit zurückzukehren. Sogar der aufbruch in den schwarzen wald sei lediglich eine aus der eitelkeit zu erklärende flucht. Nur ist eitelkeit als sittlicher mangel kein George jemals unter den nägeln brennendes thema während der blick in einen spiegel in seinen gedichten immer wieder auftaucht - aber nie um eitelkeit zu brandmarken sondern als legitimes mittel der selbsterkenntnis. Die ihm bei Schneider zuteil werdende abwertung hat der sprecher also nicht verdient. Im gegenteil: er unterwirft sich der »harten ethik« obwol er sich eigentlich im recht sieht und muss insofern als vorbild gelten. Auch Hildebrandts differenziertem urteil kann man zustimmen: er spricht von »dieser unendlichen Trauer der Jugend, die adlig handelt, aber keinen Sinn findet« (1960, 66).

4114 DAS ENDE DES SIEGERS

geflügelte schlange: ein drachen. Mächtige himmelsschlangen kennt die ägyptische mythologie · eher ist an die von Bellerophon von Korinth getötete Chimaira gedacht (so auch M unter berufung auf eine äusserung Georges) die hier aber lediglich in die flucht geschlagen wird. Möglicherweise zieht George hier den grossen triumf beim kampf mit der Chimaira und den fatalen misserfolg beim aufsuchen des Olymps (wo er dem »wolkengebirg« ja nahekommt aber schliesslich abstürzt) zusammen. Der im »wolkengebirg« ausgefochtene kampf gegen das übermächtige ungeheuer kann als hinweis auf Bellerophons bekannte selbstüberschätzung und auf sein fliegendes pferd Pegasus verstanden werden. Man darf aber nicht übersehen dass der SIEGER sogar die schlange die allen anderen angst machte besiegte und seine wunde nur durch eine unglückliche berührung mit dem flügel des bereits fliehenden tiers empfing.

und wallendem haare /Erbeuteter frauen entkommen: Im BRAND DES TEMPELS 924 lässt sich Ilis freund Clelio »Vom gold und unsrer töchter seidnen haaren« bestechen. Er macht mit den von Ili Besiegten gemeinsame sache und tötet sich selbst nachdem Ili alles aufdeckte. Der SIEGER ist also nicht nur körperlich stark sondern auch moralisch zuverlässig. Allerdings bringt George hier den leser auch zum schmunzeln: gegen die reize der frauen hilft selbst diesem helden allenfalls die flucht. Wenn das nicht charmant ist.

liess: verliess

Das gilt ebenso für diesen kämpfer dessen kraft nach vielen siegen nun erloschen ist. Er bewahrt seine würde indem er seinem körperlichen zustand tribut zollt und ähnlich den beiden nicht zum priesterdienst erwählten jünglingen anerkennt was von ihm ungeachtet aller verdienste unausgesprochen erwartet wird: der rückzug in die abgeschiedenheit. Darin besteht nun aber gerade · vergleichbar mit jener der ausziehenden erstlinge · seine leistung für die gemeinschaft. Denn deren interesse ist das heranwachsen einer jungen generation die sich für strahlende sieger begeistert und nicht durch den anblick der schattenseiten einer vom kampf geprägten lebensform zweifel und schwäche entwickelt. Dass der sieger darunter leidet ähnlich wie aus anderen gründen Erinna oder Menechtenus von der gemeinschaft ausgeschlossen zu sein wird wahrgenommen · es darf aber nicht anlass für mitgefühl sein. Selbst das gedicht wendet in den lezten zeilen den blick von ihm ab. Der leser kann es dennoch berührend finden gerade weil George wie fast immer jede sentimentalität vermeidet die nichts als ein sinnloser und unwürdiger protest gegen die schicksalhaftigkeit - und damit ungriechisch wäre. Das berührende resultiert vielmehr aus dem schauder vor dieser schicksalsmacht - deren gewalt gerade solche zu erdulden haben die wie Erinna von geburt durch bestimmte anlagen oder sonst ohne eigene schuld von der gemeinschaft ausgeschlossen sind. Das gedicht leistet mindestens so viel wie eine antike tragödie und lässt erkennen was unter einem tragischen lebensgefühl zu verstehen ist. Es trifft aber gerade nicht zu dass die beiden lezten HIRTENGEDICHTE »alles wieder verdüstern« (Schneider im Werkkommentar 2017, 105). Im gegenteil: George hat die überlieferte schwermut Bellerophons knapp erwähnt aber gar nicht gestaltet. Den rückzug aus der gemeinschaft als beleg für derlei depressionen zu werten ist ein modernes missverständnis (entstanden aus der idee eines vermeintlichen rechtsanspruch jedes individuums auf immerwährendes glück). Er ist vielmehr die lezte heldentat des SIEGERS und eine fromme dazu: sie wird für die zukunft der götter-lieblinge · der heran«wachsenden helden« erbracht von denen allein zulezt die rede ist. Der SIEGER steht weit über den unzähligen abstossend eitlen Alten die - hinfällig und unansehnlich geworden - noch bis zum tod auf ständiger aufzählung verflossener verdienste und ihrem platz auf dem roten teppich bestehen. Das gedicht und damit der zyklus endet als heller lichtstrahl und lässt die düsternis hinter sich. Es ist vielleicht das beste beispiel für Georges heroisches menschenbild weil es zugleich beweist dass es als solches kein naives sondern ein modernes ist. Nimmt es nicht sogar etwas von der lebensform und dem selbstverständnis des alten George vorweg?

Es unterstreicht aber auch noch einmal die antimoderne gleichgültigkeit gegenüber gerechtigkeitsfragen und den ansprüchen und rechten jedes individuums wie sie der liberalismus lehrt. Die götter die begünstigen (und später fallen lassen) wer jung und schön ist sind eben keine christlichen.


42  PREISGEDICHTE AUF EINIGE JUNGE MÄNNER UND FRAUEN DIESER ZEIT

Während die HIRTENGEDICHTE als preisgedichte auf typen der antike zu sehen sind versteht man aufgrund der vollen überschrift die PREISGEDICHTE als ehrung George nahestehender persönlichkeiten »dieser« also seiner eigenen zeit. Hildebrandt hat es gut erklärt: er nennt die PREISGEDICHTE »eine Umkehrung der vorigen Gruppe«: »waren dort Bilder aus Hellas, die aber bildende Kraft in unserer Gegenwart besitzen, so sind es hier unmittelbare Erlebnisse der vertrauten Geselligkeit des Dichters selbst, die verhüllt werden in antike Vorstellungen, die Personen durch antike Namen gedeckt, die Versmaße strenger antikisch« (1960, 66).

Wer hier gepriesen wird lässt sich im einzelnen nicht immer mit lezter gewissheit entscheiden. M berichtet dass nicht einmal Karl Wolfskehl oder Sabine Lepsius bei der zuordnung hätten helfen können. Und George selbst habe später behauptet es sei ihm mehr auf das preisen als auf die gepriesenen angekommen und mehr auf den typus als auf die individuen. Dennoch macht M vorschläge an die ich mich hier halte. Zur erinnerung: Als die PREISGEDICHTE entstanden war M gerade erst im grundschulalter.


4201 AN DAMON

Hinter Damon - der name bezieht sich vielleicht auf einen lehrer von Sokrates und berater des Perikles · vielleicht auch auf den aus Schillers ballade »Die Bürgschaft« bekannten attentäter · inbegriff eines treuen freundes - steckt Albert Saint-Paul dem ja bereits der ALGABAL gewidmet war und dem gegenüber George grosse dankbarkeit empfand. Er hatte den jungen George in Paris seit dem genannten winter (1889) mit den symbolistischen dichtern zusammengebracht und ihn auch oft in den Louvre - das »haus an dem nördlichen hügel« geführt (am rechten Seine-ufer während George und bis 1892 auch Saint-Paul in einem hotel am linken wohnte). »Innen« bezieht sich hingegen wol hauptsächlich auf Saint-Pauls wohnung in der seine frau (nach der heirat 1892 hatte Saint-Paul eine wohnung gemietet) sich mit schweigsamem dienen einen kleinen platz in der weltliteratur sicherte indes ihr mann und der deutsche gast sich am offenen kamin der litteratur widmeten. So sehr die beiden kunstbegeisterten freunde sich in jenem »heiligen winter« (George zieht offenbar mehrere winter zusammen) wie im himmel fühlten mischten sie sich doch zu beginn des frühlings wieder mehr unter die leute im Quartier Latin. 

4202 AN MENIPPA

Sehr viel distanzierter und allenfalls stellenweise wie ein preislied klingen diese verse auf Georges freundin Isi Coblenz. Sie lassen im rückblick eine nun gewollt recht kindisch wirkende verliebtheit erkennen aber schon dass ihre kleinen fehler überhaupt erwähnt werden macht deutlich dass die haltung zu ihr nun eine ganz andere geworden ist. Die schuld dafür wird offenbar einer gewissen passivität der angesprochenen gegeben. Die identität der genannten tänzerin lässt sich nicht mehr genauer feststellen. M glaubt sie sei lediglich die personifikation der »reinen Schönheit« (oder der ihr dienenden kunst) denn eine zweite frau gab es ja für George eigentlich nicht. Selbst im dunkeln bestehe keine »gefahr« mehr dass der sprecher sich etwa zu einer körperlichen annäherung hinreissen lasse. Dass Menippa den sklaven fortschickte könnte darauf hinweisen dass sie eine solche annäherung des mannes doch erleichtern wollte - oder ahnte dass der sklave ein rivale sein könnte. Geliebte sklaven spielten ja schon im ALGABAL eine rolle. 

Natürlich gab es in dem wolhabenden jüdischen elternhaus von kommerzienrat Coblenz in Bingen keine sklaven · wol aber bedienstete. Seine tochter starb 1942 als sie die deportation erwartete. Hier von einem freitod zu sprechen wäre ein euphemismus. 

4203 AN MENIPPA

Die lämmer … :  Im zweiten Buch Moses (12,5) wird gefordert dass das zum Passa-fest geschlachtete lamm (das als opfer eine beziehung zu gott herstellt) eines ohne fehler sein soll (sonst wäre es ja kein echtes opfer). Das war der jüdin Isi Coblenz natürlich bekannt. 

dein haar verglichen/ Mit dem der fürstin: bezieht sich auf das sternbild Haar der Berenike. Sie war die gattin eines ptolemäischen pharaonen. Als ihr der Aphrodite zum dank geopfertes haar am nächsten tag aus dem tempel verschwunden war wurde behauptet die götter hätten es aus freude in den himmel gestellt wo es als sternbild zu sehen sei. Am hof zu Alexandria lebte damals der dichter Kallimachos der in einem erhaltenen gedicht das haar selbst sprechen liess. 

Preisend sind die ersten zeilen wobei George selbst auch nicht schlecht wegkommt wenn er sagt dass allenfalls der geist der Isi Coblenz seinem ebenbürtig sei. Das lob scheint dann in der vierten zeile buchstäblich ins stocken zu geraten. Georges einwand geht in die richtung dass Isi sich durch ihr verhalten von den unwürdigen »gespielen« gar nicht mehr unterscheide (ihren »wirren vorwurf« bezieht M auf eine angeblich ausgebliebene diesbezügliche warnung durch George) und sie nicht mehr darum bemüht sei sich von ihnen abzusetzen. Jezt wird die erste zeile richtig klar: bei solchen »flecken« kann Isi dem Dichter nicht mehr als vermittlerin zur kunst oder als muse taugen - so wenig wie ein beflecktes lamm als opfer beim Passa-fest genügt. 

Für den griechen gab es orientierung durch das wort der Pythia in Delphi und das rauschen der heiligen eiche im zeusheiligtum von Dodona in Epirus. Eine solche orientierung kann Menippa-Isi dem sprecher niemals mehr sein. Das ist eine radikale absage und M weist darauf hin dass beide Menippa-gedichte schon im januar 1894 in den BfdK veröffentlicht wurden - lange vor Isis heirat 15 monate später und dem endgültigen bruch zwischen beiden der erst 1896 erfolgte. 

4204 AN KALLIMACHUS

Kallimachos von Kyrene war der zu 4203 erwähnte dichter am hof von Ptolemaios III. Erhalten sind einige hymnen auf olympische götter sowie epigramme und ein Theseus-epos. Das griechische Kyrene lag in Libyen (die Kyrenaika erinnert daran) und damit selbst in seiner kulturellen blütezeit von Griechenland wie auch von Alexandria aus gesehen eher am rande der zivilisierten welt so wie im gedicht die polnische heimat des dichters und philologen Waclaw Rolicz-Lieder. Während er bislang in Paris als »Zögling der losesten freiheit« und sohn begüterter eltern ein eher heiteres studentenleben führte (allerdings auch schon bücher über türkische und arabische grammatik verfasste) musste er sich nach seiner rückkehr (endgültig erst 1897) dem »strengen herrscherwink« des zaren fügen der damals im russischen teil Polens herrschte. In Polen lebte Lieder von den einkünften seiner immobilien und veröffentlichte nur noch wenige erlesen gestaltete lyrikbände in ganz kleinen auflagen. 

Lieder fuhr mit der bahn nach Warschau doch konnte George nur eine schiffsreise vielleicht nicht poetischer aber doch hellenisch genug gefunden haben. Dass er der modernen eisenbahn dichterisch gewachsen war hatte er ja schon in 220 bewiesen. 

George schäzte die Polen mehr als die Russen und lernte polnisch um zuerst in den BfdK und dann im zweiten band von ZEITGENÖSSISCHE DICHTER vierunddreissig von Lieders gedichten übertragen zu können was ihren verfasser in Deutschland mehr als in seiner heimat bekannt machte. Als schüler »unsrer lehrer« Verlaine und Mallarmé sah George den keine zwei jahre älteren Lieder und sich selbst auf einer stufe.

Das ziel der russen als asiaten sei es hingegen »die europäische Kultur zu vernichten«. So jedenfalls erinnert sich M an Georges standpunkt den man heute nach dem ende aller blauäugigkeit vielleicht nicht mehr so vorschnell zurückweisen möchte. Natürlich konnte George auch mit dem interesse vieler russischer dichter an seelischen abgründen nichts anfangen. Die darstellung des krankhaften und schwächlichen wie etwa bei Dolstojewski oder Tschechow war wie die alles hässlichen mit Georges kunstbegriff eben nicht vereinbar. 

4205 AN SIDONIA

Persergewebe: perserteppich

Es bleibt unklar wer sich hinter dieser frau verbirgt die alle jüngeren in den schatten stellte aber George erst beeindruckte als sie ihm bewies dass sie nicht so berechnend war wie er sie einschäzte: indem sie ihm erzählte wie sie alles aufgab um dem jungen Demotas zu folgen von dem sie glaubte er verehre sie »stumm« (ein anzeichen für ihr wunschdenken) und der sie schliesslich doch kühl zurückwies. Es ist bezeichnend für George dass ihn gerade diese geschichte einer ablehnung so berührte. Auch wird ihn beeindruckt haben wie bedenkenlos sie sich über das übliche bürgerliche nutzen-kalkül hinwegsezte und dafür keineswegs belohnt wurde.

4206 AN PHAON

Paul Gérardy war anderthalb jahre jünger als George und stammte aus Malmedy also dem preussisch-belgischen grenzgebiet · wuchs aber in Lüttich auf. Nicht weit davon · in Tilff traf er George erstmals 1892 woraus eine harmonische freundschaft entstand die sich gut zehn jahre später langsam abkühlte als Gérardy sich nur noch dem journalismus - er war dann an wirtschaft und politik mehr als an der lyrik interessiert - und seiner familie widmete. Politisch eher links und gegen nationalismus und kolonialismus eingestellt griff Gérardy den belgischen könig ebenso an wie den deutschen kaiser und emigrierte beim einmarsch der deutschen truppen 1914 nach England. In den lezten jahren des neunzehnten jahrhunderts aber leistete Gérardy viel für Georges wachsende bekanntheit in Belgien. Vor allem engagierte er sich mit zahlreichen beiträgen in den BfdK. 

wettgespräch: das gemeinsame aufsagen auswendig gelernter texte war auch noch fünfzig jahre später eine beliebte beschäftigung: an der ostfront traf Victor Frank auf einen soldaten seiner einheit der leise im zelt gedichte Georges vor sich hersagte - und sprach sie »ohne eine pause zu machen« weiter wenn er steckenblieb. (Stettler 1970, 116)

M hat zweifellos recht wenn er schreibt dass die reifenden ähren aus denen noch kein einzelnes korn herausgefallen ist das erst im entstehen begriffene dichterische werk der beiden freunde symbolisieren. 

milde schatten: hauptbetonung auf der ersten silbe. Die schatten sind also nicht allzu bedrückend. In den augenblicken des glücks aber bereits daran zu denken dass es keine wiederholung geben könnte beweist Georges reflektiertheit. Was aber wirft diese schatten? Es sind wol die halme mit den ähren denn die schatten sind »lang« - die spaziergänge finden ja abends statt. Und doch klingt alles wie eine stille vorahnung der sich trennenden lebenswege.

4207 AN LUZILLA

Selten hat George eine frauengestalt so ohne jeden schatten porträtiert wie in diesem wahren preisgedicht das unbeschwert von allen erotischen komplikationen einer »freundin« gilt die nicht mehr tat als dem aus Paris gekommenen George den ferien-aufenthalt in der fast allzu ländlichen idylle seiner heimatstadt Bingen durch heitere gastfreundschaft erträglicher zu gestalten. Er war ja noch vom geld des vaters abhängig und musste sich wol bisweilen zu hause sehen lassen. 

Als Platons Phaidon nach Sokrates’ tod zurück nach Elis ging kam er auf seinem weg auch nach Phlius. In diesem städtchen auf dem Peloponnes hatte man von den umständen des geschehens im Athener gefängnis noch gar nichts mitbekommen und dadurch kommt es eben zu der berühmten schilderung von Sokrates’ lezten stunden mit dem dialog über die unsterblichkeit der seele. Das rauhere griechisch der leute auf dem Peloponnes wird ihm dabei kein voller ersatz für das kultivierte sprechen in Athen - die »attische rede« gewesen sein · erst recht wenn er dazu noch die »weisheit« seines in Athen bewunderten lehrers ins spiel bringt. Ähnliches mag George bei der erinnerung an die gespräche in Paris und an Mallarmé empfunden haben. So eignet sich der ortsname um ohne kränkenden unterton den in seinen augen provinziellen charakter Bingens ebenso anzudeuten wie die existenz einiger liebenswerter und teilnahmsvoller bewohner. 

Morwitz glaubte noch den ort des von glyzinien - den »bläulichen ähren« - umrankten Bingener »Gartenhausbalkons« mit blick auf den Rhein zu kennen. Hier wurde nicht etwa champagner sondern der »fast moussierende Weisswein der Binger Gegend« getrunken. Allerdings kann das haus der jungen witwe Luise Brück eigentlich nicht an der stelle »des später erbauten hotels Viktoria« gestanden haben · wurde das grosse und mondäne »Hotel Victoria« im zuge der romantischen Rhein-begeisterung doch schon 1835 eröffnet. Dort gab es dann den echten champagner. Luise Brück aber heiratete noch einmal und verliess Bingen. In Berlin verloren sich ihre spuren.

4208 AN ISOKRATES

Isokrates war in der zeit des Sokrates ein erfolgreicher gerichtsredner oder anwalt · »nicht besonders tief an gedanken und nicht immer wahrheitsliebend«. Hier bezieht sich der name auf den filosofen Ludwig Klages und schon so früh - mitte der neunziger jahre - wird deutlich dass George zwar dessen tatkraft und ihn an eigene jugendfantasien (vgl. zu 4506) erinnernde herrscherlichkeit anerkannte · dazu die fähigkeit sein feuer auf andere überspringen zu lassen bewunderte · aber zugleich erkannte wie Klages ohne den geringsten selbstzweifel nur sich selbst sah und keiner liebevollen mitmenschlichkeit zugänglich war. Klages war vier jahre jünger und wollte früh mehr als nur ein George-anhänger sein. 1905 führte Klages in Berlin sogar einen prozess gegen George wodurch ein schüler am Berliner Kaiserin-Augusta-Gymnasium die anschrift Georges erfuhr und mit ihm in kontakt treten konnte. Dieser erste kontakt mit Ernst Morwitz sollte für George noch ungleich bedeutender werden als der verlorene prozess um urheberrechte. 

Das war unmittelbar nach dem ende der 1899 beginnenden jahre in denen George und Klages zu den Münchner kosmikern gehörten. Der erbitterte publizistische streit zwischen den beiden lagern bei dem sich Alfred Schuler für und der jude Karl Wolfskehl gegen den antisemiten Klages stellten ging über Georges tod hinaus. 

4209 AN KOTYTTO 

Frieda Zerny war damals besonders als interpretin von liedern Hugo Wolfs eine erfolgreiche mezzosopranistin und gehörte zu Georges Münchner freundeskreis. Ähnlich wie bei Isokrates-Klages wird ihre ausstrahlungskraft hervorgehoben - und darüber hinaus als höhepunkt die erhebende wirkung ihrer kunst in zwei grossartigen bildern gefeiert. Schon der ihr gegebene name einer thrakischen göttin die nach M in Korinth mit orgiastischen riten gefeiert wurde hat preisenden charakter. Ihre dämonische seite wird ebenso gekonnt und keineswegs verletzend dargestellt und macht sie nur umso interessanter. 

4210 AN ANTINOUS

im kühlen grün · im lauen blau / Der stadt vergesse: gemeint sind nicht die farben der stadt sondern im gegenteil dass man im grün und blau der natur die stadt (Brüssel und die dortigen freunde) vergesse. George bevorzugt hier noch den genitiv »der stadt vergessen« gegenüber dem heute gebräuchlichen akkusativ. Die heissen säulen sind hier das antikisch wirkende pars pro toto für die stadt. Sie werden trotz ihrer hitze mehr geschätzt als die angenehmere kühle der natur. Der grund dafür ist achtzehn jahre alt und bekommt wie eine prädikatsbezeichnung den namen Antinous.

Kaiser Hadrian war untröstlich als sein geliebter im alter von neunzehn · vielleicht auch erst fünfzehn jahren im Nil ertrank. In den folgejahren unternahmen dichter und bildhauer alle anstrengungen um die erinnerung an den namen und die schönheit des jünglings für alle zeiten zu erhalten. Zahlreiche Münzen wurden geprägt und ein kult um den zum gott erhobenen gestiftet. Edmond Rassenfosse allerdings war solcher ruhm nicht beschert - dafür musste er auch nicht so früh sterben. In seiner jugend gehörte er zum kreis der dichter um Gérardy und lud 1892 als er 18 jahre alt geworden war George zu einem treffen mit den belgischen freunden in die elterliche villa in Tilff ein. Auch nach dem bruch mit seiner familie · nach seiner heirat und einem teilweise abenteuerlichen berufsleben in Konstantinopel hielt Rassenfosse an George fest. Die wertschätzung die George ihm entgegenbrachte wird aber nicht nur durch die namensgebung und nicht erst im JAHR DER SEELE deutlich sondern soll sich auch daran erkennen lassen dass die tröstenden worte des jungen anlässlich Georges abreise aus Belgien ihre wirkung verfehlten. M fasst alles gut zusammen: »Ihm (George) bot der Eindruck, den eine noch so schöne Landschaft erzeugte, niemals vollen Ersatz für ein Erlebnis mit einem Menschen.«

4211 AN APOLLONIA

Gemmen: schon in der antike bekannte anhänger oder broschen aus edelstein perlmutt oder bein in die der steinschneider beispielsweise porträts von gottheiten oder andere mythische motive schnitt.

Die blonde mit Tros (so hiess der mythische gründer Trojas) verheiratete Apollonia die ihren mann - Georges brüderlichen freund - tröstet als er sich unglücklich in eine Pirra verliebt kann nicht das alter ego von Hanna Wolfskehl sein - denn obwol sozusagen fast »alles passt« heirateten Karl und Hanna doch erst 1898 und George kannte sie noch gar nicht als er die PREISGEDICHTE schrieb. So lässt sich auch die erotische andeutung in der fünften zeile nicht aufklären. 
 

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