45 DAS BUCH DER HÄNGENDEN GÄRTEN 4501-31
Wie ein umgekehrter Algabal bricht im ersten der drei zyklen ein europäer freilich nur in gedanken zu einer reise auf um das leben eines orientalischen herrschers zu führen. Aber zu seinen ersten erfahrungen gehören krieg und gewalt - daran ist ihm trotz aller siege nicht gelegen. Inwieweit er persönlich an militärischen unternehmungen beteiligt ist bleibt deshalb völlig im unklaren - er denkt nicht viel daran. Nur für kurze zeit läuft er gefahr durch sinnlichen genuss korrumpiert zu werden. Aber seine wolmeinende kraft wird rasch in müdigkeit übergehen. Die ihm anfangs vertraute idee der verantwortung eines herrschers entfaltet keine wirkung und verblasst. Sein land bleibt ihm fremd und das gilt auch für dessen religion. Am ende ist er von seinem volk und selbst vom hof völlig isoliert. Seine beziehung zu einer frau vermag die einsamkeit nicht zu durchbrechen und bleibt äusserlich und allenfalls auf das repräsentative und körperliche beschränkt. Die figur eines freundes oder vertrauten fehlt völlig. Von drogen umnebelt ist ihm zulezt alle wirklichkeit entglitten. Ungleich viel mehr als ALGABAL ist dieser zyklus einer der dekadenz. Zu keinem zeitpunkt verfügt der bis zulezt namenlos bleibende herrscher über die schaffenskraft und energie die Georges Algabal in seinen besten zeiten auszeichnete.
4501 Wir werden noch einmal zum lande fliegen
Eine einzige nacht genügt für diese gar nicht gefährliche reise der vorstellung in ein land das dem sprecher der sich hier selbst anredet nicht völlig fremd ist. Gemeint ist der vom islam geprägte orient oder überhaupt ein reich in dem wie im orient (nach Georges bei M mitgeteilter meinung) herrschen und dienen eng verbunden sind. Dadurch kann auch das von ihm in kindertagen gegründete oder vorgestellte schilfreich in diesen zyklus einbezogen werden (vgl. 4506). Im übrigen ist aber vor allem daran zu denken dass George in PRINZ INDRA und ALGABAL sich dichterisch bereits mit dem orient befasst hatte.
Georges Pegasus ist ein zelter: der eigentlich mittelalterliche ausdruck (aber noch Eichendorff benuzte ihn) bezeichnet ein leichtes reitpferd das im passgang weite strecken zurücklegen kann. Und im europäischen mittelalter befindet sich ja der ausgangspunkt der reise.
4502 Als durch die dämmerung jähe
Bei der ankunft im morgengrauen ist der balsamduft das erste sinnliche merkmal des ostens. Er dürfte von den boswellia-bäumen stammen deren harz weihrauch genannt wird. Die erde in der die stämme wachsen und die orientalische architektur wecken auf anhieb das gefühl von vertrautheit. Mehr noch - es erfolgt ein »wandel der seele« der jenes gehobene zustimmende lebensgefühl hervorbringt das George hier »stolz« nennt und ein nicht oberflächliches glück empfinden lässt - es geht nämlich mit einem schauer einher. Ganz ähnliche »wonnen« finden sich in 4506 · dort liegen sie aber weit zurück in der kindheit.
4503 Kaum deuten dir gehorsam offne bahnen
Einen touristischen charakter hat diese reise aber nicht. Vielmehr wird versucht sich als orientalischer herrscher zu fühlen aber ohne in dessen identität ganz aufzugehen. Diese einfühlung gelingt zunächst - die ihm ihren gehorsam andeutenden offnen bahnen zum erfolg sind das bild dafür. Ins stocken gerät das unternehmen aber beim gang durch die gewölbe in denen erbeutete waffen und fahnen gelagert werden. Sie zwingen ihn sich vorzustellen woran er im grunde keine freude hat: szenen der blutigen kämpfe die dem sieg vorausgingen · mit all den zerstörungen selbst von tempeln · dem anblick purpurroten bluts an den schwertern und der am boden liegenden priester in ihren talaren die von den kriegspferden zertreten werden. Dazu das geschrei der siegestrunkenen soldateska · dem führer zujubelnd. Diese gedanken betäuben oder verwirren den herrscher.
Hinzu kommt wie ein dunkler oder tierischer »tiefer« laut (weil zugleich von den niedriger gestellten höflingen wie aus den tiefen des eigenen inneren) eine lockende versuchung: den ohnehin nicht orientalischen gedanken eines herrscher-ethos (wonach die würde des »anvertrauten« amts den herrscher verpflichtet) abzutun und sich dem »frevel» der »weichen wünsche« hinzugeben - ein frevel der dem siegreichen nach der tradition dieses landes (im gedicht : »grund«) sozusagen zusteht. Das küssen des grunds wäre die geste in der sich die in diesem land übliche unterwerfung unter die weichen wünsche darstellt. Der frevel würde nicht bestraft sondern vielmehr von einem gold- und rosenfarbenen »schein« süsslich verklärt und »schein«bar aufgehoben.
Wer die herrscherwürde anvertraute wird in diesem gedicht nicht gesagt. Es versteht sich dass nicht etwa an die volkssouveränität zu denken ist. Eher ist im stoischen sinne an eine art verpflichtung gegenüber dem schicksal zu denken. Zu ihrer umsetzung wird auf selbstbeobachtung und -kontrolle gesezt um die legendäre willkür orientalischer despoten zu unterbinden. Diese bewahrende kraft ist aber schon in der ersten strofe des folgegedichts erloschen.
4504 In hohen palästen aus dunklen und schimmernden quadern
himmlische gaben: nach M eine anspielung auf die im koran verheissenen paradiesischen jungfrauen (die hier aber irdische sind). Hier möglicherweise mit der bedeutung dass etwa der islam die ausschweifenden feiern gutheisst während sie dem sprecher immer mehr suspekt werden.
pfühl: kissen. Hier soll die füllung mit dem getrockneten kraut des basilikums beruhigen und das einschlafen erleichtern. In der tat ist in der volksheilkunde basilikum bei schlafstörungen angezeigt.
Die erste strofe zeigt die nach dem vorigen gedicht zu erwartende distanz zu den orgien nicht mehr bei denen je nach lichteinfall (dem »schein« des vorigen gedichts) sei es in palästen oder in zelten die unbekleideten leiber verschiedene färbungen anzunehmen scheinen.
Warum diese distanz in der zweiten strofe neu empfunden wird? Dem sprecher scheint die körperliche nähe zu anderen nicht mit seiner erhabenheit vereinbar zu sein. Jezt geht es ihm schon mehr um ein durch nichts beeinträchtigtes »geniessen« oder um eine ästhetische lebensform. An dieser stelle macht er den folgenschweren schritt zu der von orientalischen herrschern bekannten abgehobenheit · ihrer unüberwindbaren trennung vom volk.
Die in der zweiten strofe entwickelte idee der erhabenheit · der schritt zur sehr ernst gemeinten vergöttlichung hin - zugleich absagende antwort auf die zweite strofe von 4503 - geht aber mit einsamkeit einher. Der dadurch zunächst entstehende »gram« könnte durch den genuss des weins oder - wol der ernsthaftere vorschlag - durch neue kämpfe überdeckt werden wenn bei der aufgehenden sonne der lärm seiner bewaffneten soldaten wie ein weckruf herüberklingt. Richtig sinnvoll wirkt der so begründete krieg ja nicht - und das fest ohne die leiber macht so viel freude wie eine gedenkfeier mit kranzniederlegung. Erst im lezten gedicht der gruppe (4510) scheint dieser gram überwunden und die einsamkeit dank der schon hier erwähnten »berauschenden« gebräuche zum »reinen« durch keine anwesenheit anderer getrübten und doch fragwürdigen genuss geworden.
4505 Nachdem die hehre stadt die waffen streckte ·
Wie nicht anders zu erwarten sezt der sprecher nicht auf den wein sondern den neuerlichen kampf der hier also ziemlich selbstzweckhaft wirkt. Seine eigene rolle in den militärischen auseinandersetzungen bleibt auch hier unklar. Für feindseligkeit oder gar hass gibt es kein anzeichen : die eroberte stadt wird sogar als eine »hehre« bezeichnet. Ihre toten werden freilich nicht betrauert. Der fluss entsorgt die leichen flott - das wird ebenso lakonisch notiert wie der im laufe der plünderungen ähnlich rasch verflogene »zorn« der sieger. Mehr gewicht liegt auf der verklärenden göttlichen gunst die dem nicht unnötig blutrünstigen herrscher zuteil wird. Der seinerseits grüsst im tempel mit dem noch rauchenden schwert zurück - der dank für den sieg. Dass er es »herausfordernd gegen den Gott erhebt« wie M glaubt wäre nachvollziehbar wenn es sich tatsächlich nur um den lokalen »Stadtgott« handelt. Aber warum sollte dessen tempel aufgesucht werden? Eine drohende geste passt nicht zu dem auf versöhnung und eine friedliche zukunft gerichteten ton und schon gar nicht zum bild dieser eher besonnenen persönlichkeit. Nicht einmal der grosse Alexander hat sich mit den göttern des ostens angelegt. Genau wie bei ihm wird auch hier die harmonie zwischen göttern und eroberern zelebriert um es den unterworfenen leicht zu machen die neuen herren auch innerlich anzuerkennen.
4506 KINDLICHES KÖNIGTUM
Das gedicht wird in den biografien gern zitiert denn hier leiht George dem eroberer erinnerungen an seine eigene kindheit (die später durch ehemalige mitschüler bestätigt wurden). Das kindliche königreich im schilf des Bingener Nahe-ufers wo in einsamen lesestunden die antiken dichter ihre heldenlieder vorsangen und prägende wirkung entfalteten gilt den meisten interpreten als beweis seiner herrschsucht und den anderen als liebenswertes beispiel für Georges früh entwickelte vorstellungskraft. Wie andere kinder muss auch ihn die nacht fasziniert haben und weil es unter dem hohen schilf so dunkel war konnte er sich einbilden mit seinem »volk« nächtliche versammlungen abzuhalten bei denen er sich zugleich als priester sah und auf einem gedachten oder auch wirklichen eisengestell weihrauch glimmen liess.
Es ist nicht zu übersehen welchen wert der stolz hat der bereits dem kind zugeschrieben wird das dank seiner exklusiven befähigung die eigene wirkung auf gleichaltrige spürt - und die »Berufung zu einem Amt und den sicheren Glauben daran« (M). Lezteres wird in 4503 ja auf die probe gestellt.
Stolz und sendungsbewusstsein sind sichtbar: die glühende »wange« und die ernste klare stirn sind die wichtigsten zonen des kindlichen gesichts. Hinzu kommen natürlich wie üblich bei George die augen : der andere entflammende blick wurde schon in der dritten strofe gewürdigt.
4507 Halte die purpur- und goldnen gedanken im zaum ·
Diese gedanken sind der in 4503 bereits genannte verklärende »gold- und rosenschein« und deuten wie schon dort an was hier zulezt »die lüge/ Von wesen und welt« genannt wird. Im zaum gehalten werden sie durch die mystische abscheidung von äusseren eindrücken die eben durch lebewesen und weltlichen lärm in erscheinung treten. Die augen werden geschlossen aber auch sänge und harfenklang sollen den »sinn« nicht mehr belasten · vögel wie stumm erscheinen und selbst die trommeln nur noch wie aus der ferne klingen. »Rast« heisst dieser moment des innehaltens.
Nur die kunst - hier verkörpert durch ornamentale architektur und das die natur hell überstrahlende minarett - soll noch geltung haben. Die kalligrafischen formen unterstüzen die meditative haltung und so wird der rückfall in ein begehrendes verhältnis zu menschlichen wesen und der materiellen welt verhindert. Mit der idee der eigenen entrückung zum göttlichen hin steht das gerade nicht im widerspruch.
Die verbreitete ansicht dass »wesen« im filosofischen sinn zu verstehen sei und somit den gegenpart zur »welt« der blossen erscheinungen darstelle teile ich nicht und folge damit M.
4508 Meine weissen ara haben safrangelbe kronen
Wegen des gerade erst geforderten und nun hier demonstrierten insichgekehrtseins · der welt-absage im dauerhaften schlummerzustand und weil es doch auch hier um haltung und selbstbeherrschung geht scheint das gedicht an dieser stelle gut in den zyklus eingebunden zu sein. Aber dattelbäume sind in einer orientalischen residenz nicht »fern« · der anblick ihrer wedel löste ja gleich in 4502 schon im augenblick der landung den »Wandel der seele« des flugreisenden aus. Deshalb glaubt M dass das ara-gedicht ursprünglich gar nicht für diesen zyklus gedacht war. Doch mag man sich mit dem gedanken trösten dass für diese käfig-papageien dattelbäume unerreichbar und insofern eben doch sehr fern sind. Weisse aras stehen hier für etwas besonders seltenes und sind mit ihren kronen - auch »safran« verweist auf kostbarkeit - wie geschaffen um die exklusive sfäre eines palasts zu bereichern und den im possessivpronomen angedeuteten besitzerstolz des herrschers zu wecken. Aber ihre ganze schönheit wäre nicht viel wert ohne ihre betroffen machende haltung. Stolz und ohne sinnlosen protest oder gar jammer nehmen sie ihr schicksal hin. Sie sind für die HÄNGENDEN GÄRTEN was der besiegte SIEGER (4114) in den HIRTENGEDICHTEN war. Auch sie blicken auf eine bessere wenn auch vielleicht schon sehr »ferne« vergangenheit zurück.
Die acht zeilen mit der symmetrie des reimschemas um die mittelachse bilden den runden papageienkäfig perfekt ab. Hanns-Josef Ortheil nennt dieses gedicht in seinem blog »vollkommen« (15. 7. 2018). Dabei gibt es gar keine weissen aras mit gelben kronen. Aber wie hätte George gelbhaubenkakadus oder nymphensittiche metrisch unterbringen sollen? Zudem machen erstere von früh bis spät ein ohren-betäubendes geschrei während die niedlichen sittiche nicht stattlich genug wirken: die würde zu verkörpern um die es hier geht sind beide ungeeignet. Der kleine schwindel widerlegt Ortheils urteil nicht.
Aber warum werden die aras nicht einfach freigelassen · wo der sprecher sich doch so tief in sie einzufühlen vermag? Natürlich sollen sie mit ihren kronen · dem blick nach innen und mit ihrer sehnsucht die situation des sprechers selbst symbolisieren - mit einem erkenntnisgewinn: der herrscher fühlt sich selbst wie ein gefangener. Zudem sind die WEISSEN ARA auch nach vorne besser eingebunden als es M dachte. Das nächste gedicht wird nämlich zeigen: die ersehnte verwirklichung eines traums ist nicht immer ein gewinn. Manchmal ist das träumen schöner. Man sollte es nicht vorschnell beenden.
4509 VORBEREITUNGEN
Haremsszenen waren in der malerei des neunzehnten jahrhunderts noch immer ein beliebtes genre - das thema scheint die fantasie des durchschnittlichen europäers doch sehr erregt zu haben. Natürlich wird es auch bei Karl May angesprochen dessen romane bekanntlich zu Georges bettlektüre gehörten. Eine darstellung des orients ohne berücksichtigung eines harems wäre wie ein mittelalter-zyklus ohne kloster oder einsiedelei. Allerdings wird niemand erwarten dass auch George das treiben im harem in bunten farben lustvoll ausmalen wollte. Es geht vielmehr um das verhältnis zwischen beiden geschlechtern in der islamischen welt.
Je nach stand des mondes soll die junge frau ihre haut mit unterschiedlichen mitteln pflegen. Das ist die erste ihrer VORBEREITUNGEN auf das »fest« in dem weniger eine hochzeit im christlichen sinn zu sehen ist als vielmehr der erste offizielle kontakt mit dem künftigen besitzer und im besten fall die aufnahme der neuerwerbung (vielleicht im zusammenhang mit der unterworfenen stadt) in den harem des herrschers der auch hier spricht. In gedanken geht er durch die anweisungen die er wol dem für die körperpflege im harem zuständigen eunuchen erteilen wird und stellt sich vor wie sie an die frau weitergegeben werden: dann wird von ihm als dem »strengen meister« die rede sein. Möglicherweise bereitet er sich auch auf einige worte vor die er selbst an sie richten wird. Zu ihren VORBEREITUNGEN gehört auch die gewöhnung an das leben im palast mit den bediensteten. In ihrem ganzen erscheinen soll sie schliesslich »einer fürstin ähnlich« sehen was vermuten lässt dass sie wie viele frauen in einem harem nicht aus einer ebenbürtigen familie stammt. Die anforderungen sind wirklich hoch: wie eine frucht und zugleich wie eine knospe soll sie aussehen. Wenn sie das nicht schafft - soll man ihr mitteilen - werde sie der meister vielleicht nicht »gewahren« (dabei wäre sie als eine lediglich erblickte noch nicht einmal eine favoritin des herrschers). Die vielleicht gar nicht realistische bedingung wirft die frage auf ob der sprecher bereits von anfang an sich die möglichkeit offenhalten möchte die ganze verbindung platzen zu lassen. Allerdings gibt es ja durchaus pflanzen die gleichzeitig blühen und frucht tragen können. Den täglichen segen des priesters wird sie auf jeden fall brauchen können : von liebe ist in den worten ihres künftigen herrn nämlich keine rede.
Der spricht in der dritten strofe nur noch zu sich selbst. Auch er trifft VORBEREITUNGEN aber sie betreffen nicht wie bei der frau den körper. Der mann ist geist. Dessen pflege besteht in konzentration und schonung - daher die einsamkeit. Alles ist gerichtet auf die hochzeit - nicht die feier sondern den augenblick wenn jener »vorhang« sich lüftet (das dramatisierende »birst« passt genau für diesen bedeutenden vorgang und es bedarf keiner langen bedenken ob ein vorhang überhaupt bersten kann) mit dem die jungfrau bisher ihren »ausbund aller zonen« verhüllte. Bis es so weit ist genügt der »schauer« der erwartung als lohn für die geduld des ausharrens. Und wenn es so weit ist . . wird ihre ersehnte zone vielleicht doch besser gar nicht berührt werden. Es wird auch dann ganz in seiner entscheidung liegen · wie er überhaupt sehr bestimmend spricht während von ihr nur erwartet wird »stumm« zu sein. Die frau hat keinen erkennbaren eigenwert und ist allenfalls als gut aussehender körper interessant. Gefühle werden ihr nicht zuteil - nur regeln und rezepte wie sie für jede andere novizin ebenso gelten würden. Das gedicht lässt überdeutlich erkennen wie sehr der sprecher inzwischen seine ursprüngliche identität verloren hat und dem druck von brauchtum und örtlichen erwartungen erlegen ist. Er ist nun wirklich ein orientalischer herrscher geworden (wie ihn George sich vorstellte) - wenn auch kein glücklicher. Er stellt sich vor das zurückzustossen was in ihm doch zugleich vor lauter erwartung angeblich einen freudigen schauer erregt. Die dekadenz erreicht hier das stadium des nihilismus.
4510 FRIEDENSABEND
Fast schon ein faszinierend schönes expressionistisches gedicht und wegen geradezu aller motive und des zeilenstils in den mittleren strophen stark an Georg Heym erinnernd der zu dieser zeit erst konfirmand war. Es ist kein geheimnis woher der zulezt genannte »dichte dunst« rührt. Eben erst gehörten die »zauberkräuter« zu den VORBEREITUNGEN des sprechers aber schon in 4504 wurde angekündigt »berauschende sieges-gebräuche« geniessen zu wollen. Die wirkung dieser gebräuche ist hier ganz offensichtlich eingetreten. Nur schemenhaft dringt die aussenwelt noch in die sinne · ein ton noch aus den tiefen der menschenwelt »herauf« zu dem für einen augenblick schon zum gott gewordenen. Wird die empfindung des friedens noch andauern wenn der cannabis-rausch verflogen ist?
4511 Unterm schutz von dichten blättergründen
Nichts spricht dafür den sprecher des zweiten mit dem des ersten zyklus gleichzusetzen. Dennoch besteht ein enger zusammenhang zum ersten und dritten zyklus der sich erst im nachhinein erschliesst. Zudem spielen sich auch die neuen gedichte in einem herrschaftlichen bereich ab - darauf hinzuweisen ist die aufgabe der mit steinernen skulpturen als wasserspeier geschmückten brunnen die mit ihren grossen marmorbecken im heissen und trockenen orient den reichsten vorbehalten sind. Das überlaufende nass wird in künstlichen bächen abgeleitet und den umliegenden teiche zugeführt. Neben wasser ist auch schatten kostbar. Hier wird er gespendet von den dichten kronen einiger bäume die vielleicht ähnlich wie kastanien weiss blühen und ihre blütenblätter auf das wasser und die sträucher fallen lassen. Dennoch gibt es in »diesen paradiesen« - wie es im nächsten gedicht zu recht heisst - bereits »leiden« und »klagen«: auf eine love story mit glücklichem ausgang wird man nicht hoffen dürfen.
4512 Hain in diesen paradiesen
Im zweiten teil des natureingangs weitet sich der blick. Wald und wiese ähneln einer halle mit orientalisch bunt bemalten fliesen. Fische und vögel und raschelndes schilf beleben die idylle. Aber das alles dient nur als hintergrund vor dem sich der auf ganz anderes gerichtete »traum« des sprechers abhebt.
4513 Als neuling trat ich ein in dein gehege
Das ist nicht der ton in dem der herrscher des ersten zyklus sprach. Insbesondere zu den VORBEREITUNGEN 4509 könnte der unterschied nicht grösser sein. Hinzu kommt hier die betonung des noch sehr jugendlichen alters.
4514 Da meine lippen reglos sind und brennen
Da (V. 1): eher temporal wie während
In andrer herren prächtiges gebiet: bildlich dafür dass die geliebte bereits mit einem anderen mann verbunden oder ihm zumindest versprochen ist
ohne lass: ohne unterlass · ohne pause
4515 Saget mir auf welchem pfade
viole: stiefmütterchen
breite: er möchte ihr seine wange als schemel ausbreiten damit sie ihren fuss daraufsetzen kann
4516 Jedem werke bin ich fürder tot.
Eine ganze reihe von gedichten hat keinen anderen zweck als die leidenschaftlichkeit seiner liebe darzustellen. Er ist ungeeignet noch irgendein anderes werk auszuführen denn seine vorstellung ist nur damit beschäftigt sie sich vor augen zu führen und mit ihr ausgedachte gespräche zu führen. Andere beschäftigungen haben für ihn keine notwendigkeit mehr. Auch nachts ist er in dieser weise beschäftigt und kann dennoch nicht verhindern dass das bild von ihr morgens wieder schwindet. Die erste zeile enthält die zentrale botschaft : die liebe zur frau lähmt.
4517 Angst und hoffen wechselnd mich beklemmen
schwemmen: überschwemmen
4518 Wenn ich heut nicht deinen leib berühre
Wenn die körperliche nähe nicht hergestellt werden kann werde die seele zerbrechen. Wenn sie dann trauerflor trüge wäre ihm dies als zeichen ihrer anteilnahme lieb.
4519 Streng ist uns das glück und spröde
Offenbar ist es zu einem kuss gekommen der aber nur so viel wert hat wie ein regentropfen für ausgedörrte erde dem kein regen sondern nur neuerliche sonnenglut folgt.
4520 Das schöne beet betracht ich mir im harren ·
farren: farn
Im gartenbau wird der ort der den samen aufnehmen soll beet genannt. Hier ist das beet bild für die von dunklen schamhaaren eingefassten weiblichen geschlechtsteile die der sprecher zu sehen bekam - es ist also schliesslich doch zu dem ersehnten intimen zusammensein gekommen. Hildebrandt behauptet unverdrossen: »Doch spricht der Dichter nichts Leibliches aus« und denkt lieber an Bachofen (1960, 84) während M »die leibliche Erfüllung als vollzogen« meldet.
4521 Als wir hinter dem beblümten tore
Wenn M überhaupt recht hat so ging dieses zusammensein aber zumindest nicht mit den erwarteten freuden einher obwol in dem von einem tor verschlossenen ummauerten geheimen garten jede störung durch andere - also auch ein ertapptwerden durch den eigentlichen partner der frau - ausgeschlossen war. Das misslingen führte zu tränen beider aber nicht zu vorwürfen.
4522 Wenn sich bei heilger ruh in tiefen matten
An die stelle der allenfalls in diesem gedicht - aus der körperlichen erschöpfung - zu schliessenden leiblichen berührung ist nunmehr gegenseitige »Verehrung« getreten. Es thematisiert die gefahr in die sich beide liebenden brachten. Während des treffens waren an der wand (wol der gartenmauer) die schatten der wächter zu sehen und draussen vor der stadt wäre der hinrichtungsplatz bereit gewesen das blut der beiden aufzunehmen.
4523 Du lehnest wider eine silberweide
Vier verse gehören ihr - vier ihm und dazwischen verläuft eine strenge trennungslinie. Die trennung ist aber vielleicht noch gar nicht vollzogen sondern kündigt sich erst an: indem sie es ablehnte zu ihm ins boot zu steigen von dem aus er sie nun lediglich beobachtet - verborgen durch das blätterdach eines baums am ufer. Auch die wie in 052 auf dem wasser verstreuten blumen deuten auf ein auseinandergehen.
4524 Sprich nicht immer
vernichter: herbststürme oder frosteinbrüche
M sieht in der frau die angesprochene und damit wird es wol seine richtigkeit haben. Ob es aber noch einmal zu einem richtigen gespräch kommt oder ob das gespräch nur in seinen gedanken geführt wird sei dahingestellt. Offenbar neigt sie zu allzu blumig erzählten naturbeobachtungen die in ihrer herbstlichkeit allesamt ungeeignet sind den glauben an eine erneuerung der beziehung noch einmal zu entfachen. Da wäre es dem sprecher lieber dass sie schwiege. Anders als seine redselige freundin drückt er sich in denkbar knappen kurzzeilen aus - die trotzdem nicht spröde wirken sondern ein feuerwerk an bildern und raffinierten reimen entfachen.
4525 Wir bevölkerten die abend-düstern
Noch einmal wird der orte der gemeinsamen stunden gedacht - »freudig« auch das ominöse beet erwähnt. Ob das eine antwort auf die frage aller fragen doch noch andeutet? Wichtiger ist dass nun an ihrem abschied kein zweifel mehr herrscht. Wie sehr ihn die trennung erschüttert ist den naturbildern zu entnehmen. Nun blickt er schon von aussen auf den noch immer eden · im zweiten gedicht paradies genannten garten aus dem er sich nun vertrieben fühlt und sieht im trüben mondschein wie die böen das herbstlaub um seine mauern wirbeln. Das gibt nun freilich doch noch der frau recht deren melancholische herbst-bilder er sich ja gerade erst verbeten hatte.
»Dieser quälende Abschied geschieht in Bingen« schreibt Hildebrandt (1960, 85). Es ist unumstritten dass der zweite zyklus der GÄRTEN Georges verhältnis mit Isi Coblenz zum hintergrund hat. Er hat ihr diese gedichte wiederholt vorgelesen · sie gefielen ihr und wurden von ihr »Semiramis-Lieder« genannt. Semiramis wird in einigen überlieferungen als gründerin von Babylon bezeichnet oder für die hängenden gärten verantwortlich gemacht die in spät-hellenistischer zeit bekanntlich als eines der weltwunder galten.
4526 Des ruhmes leere dränge sind bezwungen
Die dritte gruppe hält M für eine art fortsetzung der ersten · geht es hier doch um den weiteren niedergang des herrschers aus dem ersten teil. Eine fortsetzung erfährt auch die reihe seiner schwäche-symptome. Er spricht von seinen (militärischen) verlusten und dem erlöschen der tatkraft seiner hände als folgen seiner liebe zu einer frau. In dieser beziehung ging er so weit sich selbst zu demütigen : er küsste ihren fuss der - ausweis ihrer schönheit - heller als das weiss im teppich war. Und er betete sie im wörtlichen sinne an in einer verzückung die er nun aus der distanz »heidnisch« nennt - so wie ihm der fusskuss nun als verletzung seines amtes erscheint. Das grösste problem des herrschers ist aber seine willensschwäche. Denn obwol er seine verfehlung klar benennt ist sein höchstes ziel diesen für ihn noch einzig wertvollen »schatz« zu »bewahren« : den fuss küsst er noch immer. Damit lässt sich aber auch ohne schwierigkeit nachweisen dass nicht die im zweiten zyklus besungene freundin gemeint sein kann. Denn dieser zyklus endete mit einer unwiderruflichen trennung. Dennoch lässt sich mit dem zweiten zyklus erklären warum es George genügte hier das thema der liebe zwischen mann und frau nicht noch einmal ausführlich zu behandeln. Im ganzen dritten zyklus ist nämlich von diesem doch eben noch so sehr begehrten »schatz« mit seinen weissen füssen keine rede mehr.
4527 Indes in träumen taten mir gelungen ·
Solchermassen abgelenkt hat der sprecher den verlust der hälfte seines »schönen« landes ohne erkennbare gegenwehr geschehen lassen und wenn er sich darüber trösten kann indem er sich an bloss geträumte taten erinnert oder gar am sang eines vogels erfreut - mit dem er sich geradezu identifiziert weil dem sämtliche zerstörungen gleichgültig sind - erweist er sich immer mehr als lächerlicher schwächling. Nur als solcher vermag er sich selbst - es ist doch aber schon nicht mehr ernst gemeint - »held« zu nennen weil er ein paar rebellen hinrichten liess deren jugendlich schlanke körper noch unbehaart waren und die ihr leben gaben für den versuch ihre heimat von einem unfähigen herrscher zu befreien. Das maass seiner im vorigen gedicht beschriebenen schuld die ihn so lähmt wird dadurch noch verdoppelt.
4528 Ich warf das stirnband dem der glanz entflohn
lazuli : der blaue lapislazuli wurde schon bei den assyrern verarbeitet und im Gilgamesch-epos erwähnt. Auch wurden wandfliesen damit blau gefärbt.
sykomore : der feigenbaum von dem sich der sprecher einen zweig mit früchten bricht
Unter dieser verwerflichsten untat leidet er selbst so sehr dass er sein diadem wegwirft das zu tragen er sich nun selbst nicht mehr würdig findet. Er verzichtet auf den ohnehin zerstörten palast (M erkennt zu beginn der ersten gruppe genannte architektonische einzelheiten wieder) und die herrschaft über das verwüstete land und tritt in den dienst des paschas einer mit der für ihre rosengärten berühmten persischen stadt Schiras vergleichbaren stadt ein - eines grösseren herrschers also und George wird noch darauf gezählt haben dass diese stadt den lesern als heimat grosser fürstengeschlechter bekannt war : der durch Alexander ausgelöschten Achämeniden und der späteren Sassaniden.
Es fällt schwer M zuzustimmen dass dieses dienstverhältnis »die innere Würde des früheren Herrschers« erhöhe. MANUEL UND MENES 7204 sowie 7766 sind keine vergleichbaren parallelen. Dort wird es plausibel gemacht dass der dienst unter diesen herren eine ehre sei. Hier dagegen ist der neue herr nichts als ein orientalischer despot der zwar in seinen raubzügen erfolgreich aber doch in jeder hinsicht blass und konventionell bleibt. Wenn der auswanderer ihm nun auch noch jubellieder singt und kränze flicht · seine kunst zur blossen propaganda entwürdigt und sich auf der bühne vor ihm verbeugt · ist der punkt erreicht von dem er im fünften abschnitt sagt dass hier »seine seele brach«. Dieser mann hat alle innere würde verloren und nennt sich folgerichtig einen »sklaven«. Nur dass er sich seine schuld nicht schönredet spricht noch für ihn : er empfindet tiefe »reue«. Warum er nun vom unterwürfigen diener zum attentäter wird lässt sich erahnen. Es ist der versuch das handeln der von ihm hingerichteten zu wiederholen und seinen jungen opfern damit symbolisch gleichsam genugtuung widerfahren zu lassen. Aber auch dazu fehlt ihm die kraft des täters.
Wieder gescheitert flieht er aus der nächtlichen stadt wo das volk die beute verteilt und besinnungslos feiert. Dass »sein werk geschehn« sei bedeutet dass er kein ziel mehr vor sich sieht. Es ist eine moralische kapitulation wenn ihm ruhm zu erlangen und schmach zu vermeiden nicht mehr erstrebenswert sind · gut und böse nur noch als »lug« erscheinen. Das ist der zeitpunkt wo ihn auch die vorstellung sich im fluss zu ertränken nicht mehr abschreckt.
4529 Wo am lezten rastort reiter
Das gedicht macht die innere gleichgültigkeit spürbar die einen menschen ergreift der in seiner depression gar keinen boden mehr unter den füssen verspürt. Menschen«scheu« geworden ist jegliche nähe anderer ihm nur noch belastung.
4530 Er liess sich eInsam hin auf hohem steine ·
Dass er den gipfel des hohen felsens erklimmt symbolisiert seinen wunsch nach absonderung. Das rauschen des nahen flusses dringt aber schon zu ihm hinauf. Seine verlorene herrschaft und all die schätze haben keine bedeutung mehr für ihn. Jegliche tätigkeit ist nun eingestellt hat und im lezten gedicht dieses zyklus findet der einst so strahlende sieger keine erwähnung mehr. Dezenter könnte sein sterben nicht dargestellt werden.
Während die wasserträgerinnen zulezt heiter blieben seufzen nur die elemente der natur weil sie sein scheitern stärker empfinden als die wenig sensiblen menschen. Das spiegelt genau das fühlen dessen der sich vorgenommen hat nun mit der natur eins zu werden.
4531 STIMMEN IM STROM
In diesem vorhaben bestärken ihn die STIMMEN aus dem strom. Sie sprechen alle leidenden menschlichen wesen anscheinend liebevoll an - in geradezu erotischen daktylen. Sie verheissen wonach schwache und kranke verlangen: geniessen und genesen · ruhe und glück. Sogar ein palast wird angeboten. Der übergang in den tod (der wolweislich nirgends direkt genannt wird) soll allen schrecken verlieren und denkbar sanft erfolgen. Alle bewegungen · töne und licht sind gedämpft. Anfangs noch muscheln und korallen ähnelnd werden die menschen schliesslich zu gleitenden wellen geworden sein. Ähnlich dem gedicht zuvor zeigen auch die STIMMEN einfach nur was den von nicht gesühnter schuld schwer beladenen beherrscht : der wunsch nach der eigenen auflösung und doch nach neuer existenz in der leichtigkeit dieses gleitens.
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