5 DAS JAHR DER SEELE 
 

51 NACH DER LESE 5101-11

 
52 WALLER IM SCHNEE 5201-10


53 SIEG DES SOMMERS 5301-10 

 

54 ÜBERSCHRIFTEN 5401-13 

55 WIDMUNGEN 5501-16 

56 TRAURIGE TÄNZE 5601-32 

 

Das erste buch besteht aus den drei teilen deren überschriften bereits auf ihre beziehung zu drei jahreszeiten verweisen. Das JAHR DER SEELE im engeren sinn beginnt also im herbst und endet im sommer. Die ÜBERSCHRIFTEN und die WIDMUNGEN bilden das zweite und die TRAURIGEN TÄNZE das dritte buch. 

1897 erschien die sammlung der von 1892 bis 97 entstandenen gedichte in der berühmten von Melchior Lechter gestalteten prunkvollen ausgabe mit 206 exemplaren - wieder in Georges Verlag der Blätter für die Kunst. George wandte sich damit für einige zeit ab von der viel moderneren typografie und nüchternen ausstattung seiner ersten vier bände. Andererseits war auch Lechter als bildender künstler ein aussenseiter und gegner der kunstströmungen seiner zeit - wie George insbesondere des naturalismus - und der industriell geprägten moderne der mit seiner von George geteilten wertschätzung des handwerklichen in der kunst in der nachfolge von John Ruskin stand. Berühmt war seine als kunstwerk ausgestaltete Berliner wohnung in der Kleiststrasse wo George nach 1895 ein und aus ging. Lechter habe - schreibt Jürgen Wissmann (1966, 9) - "in selbstgewählter Einsamkeit" einen "Lebensstil" gepflegt "der mit der Erhabenheit und Weihe der Kunst in Übereinstimmung stand".

Vorlage für den druck war - ganz im sinne der Ruskin-Lechterschen auffassungen - Georges privates und von ihm selbst erstmals in seiner stg-schrift und mit blauen und roten initialen geschriebenes und gebundenes exemplar. Lechters orgel spielender engel auf dem bütten-umschlag und titelblatt und der ätherische buchtitel entrückten das werk in einen beinahe sakralen bereich - und täuschten vermutlich die meisten der bald immer zahlreicher werdenden leserinnen und wol auch leser darüber hinweg dass die drei jahreszeitenzyklen mehr um das fleisch als um die seele kreisen.  

Die wieder schlichte öffentliche ausgabe von 1898 war mit einer widmung an die ältere schwester 

Anna Maria Ottilie

der tröstenden beschirmerin

auf manchem meiner pfade 

und einer vorrede versehen und erschien wieder bei Georg Bondi. George hatte ihn 1898 in Rom kennen gelernt als er endlich zur weiten verbreitung aller fünf bisher nur in kleinen auflagen erschienenen gedichtbände entschlossen war. Seit dem JAHR DER SEELE von dem 1922 die elfte auflage erschien wurde der noch junge verlag geradezu mit George identifiziert. Der hatte sich aber ausbedungen die erstveröffentlichungen weiterhin im Verlag der Blätter für die Kunst erscheinen zu lassen dessen von Lechter entworfenes signet - die gotische monstranz - als exklusives merkmal auch den einband aller werke Georges und seines umfelds zierte die bei Bondi erschienen. Unsicher ist inwieweit Lechter beteiligt war als George seine St-G-schrift entwickelte. Sie war von der bekannten Accidenz-Grotesk von 1898 abgeleitet und wurde neu gegossen. Die dritte auflage des JAHRS DER SEELE von 1904 war das erste buch in dieser schrift. Die rechte an ihr lagen bei der druckerei Otto von Holten in Berlin.  

51 NACH DER LESE 5101-11

Nach der lese finden sich in weinbergen und feldfluren nur noch lezte reste der früchte um die sich im längsten teil des jahres alles drehte. In NACH DER LESE geht es um erinnerungen als lezte reste der mit einer schmerzlichen trennung zu ende gegangenen beziehung zwischen dem sprecher und einer frau: also George und Ida Coblenz (der George 1895 das ganze buch noch widmen wollte). Diese beziehung bestand über vier jahre hinweg abgesehen von einem briefwechsel (er wurde 1983 von Georg Peter Landmann herausgegeben) im wesentlichen aus einigen besuchen mit gemeinsamen spaziergängen: das erlebnis der herbstlichen landschaft und der sterbenden park-natur - spiegel jener unglücklichen beziehung - spielt eine herausragende rolle in diesen gedichten · zum zunehmenden missfallen des männlichen sprechers der sich eigentümlich zwiespältig zeigt. Einerseits kämpft er geradezu »flehentlich« (und damit gewollt verdächtig demonstrativ) um ihre aufmerksamkeit und liebe (5107) · andererseits ist er nicht erst im moment des sprechens - also im nachhinein - ohne illusion über die aussichten dieser beziehung zu einer frau die er als oberflächlich empfindet und vor der er wie vor einem kind das es zu schonen gilt seine »seele« (5107) verbirgt (wobei sich Ida Coblenz wol schon früh der unmöglichkeit einer herkömmlichen beziehung bewusst war). Diese zwiespältigkeit beruht auf einer inneren notwendigkeit. Ein sprecher der nie um die beziehung gekämpft hat würde als verantwortlicher für deren ende erscheinen. Andererseits soll der sprecher nicht naiv erscheinen als sei er voller illusionen in den kampf gegangen und habe in der niederlage erst seinen irrtum erkannt. Der widerspruch löst sich aber auf wenn man in rechnung stellt dass momente einer sich über jahre erstreckenden beziehung im gedichtkreis in ein halbes (herbst und winter) gepresst werden mussten. 

 

5101 Komm in den totgesagten park und schau:

garten : Nach M war das »Vorbild« der park von schloss Nymphenburg »den der Dichter damals wie auch später bei jedem Aufenthalt in München besuchte«. Allerdings wehrte sich George in der vorrede dagegen dass »bestimmte personen und örter ausfindig« gemacht würden. Die ursprünglichen menschen und landschaften seien »durch die kunst« so umgeformt dass »ein wissendarum für jeden andren eher verwirrt«.

gesicht : anblick · aber auch etwas menschlich-lebendiges wie ein gedicht

Wie ein unverhofftes geschenk der plötzlich aufreissenden wolken erscheint das himmelsblau und so liegt die herbstliche parklandschaft noch einmal im hellen sonnenlicht das einen weiten blick bis zu den entfernteren ufern der gewässer erlaubt. Doch geht es gar nicht um eine schilderung von naturschönheit als selbstzweck: es soll vielmehr die aufforderung begründet werden zeit mit dem sprecher zu verbringen. Da ist der hinweis auf das gebotene schon angebracht · denn die anderen haben den park bereits abgeschrieben als einen ort der zu dieser jahreszeit keinen besuch mehr lohnt. Die beiden folgestrofen bestätigen dass im grunde wirklich nicht mehr viel vom sommer übrig ist: die birken sind gelb und die rosen schon halb verwelkt. Selbst von den astern blühen nur noch die allerlezten. Kaum jemand sezt sich gern dem anblick so vielfältigen sterbens aus. Ob die angesprochene dem sprecher folgen wird ist deshalb gar nicht sicher (und offenbar auch gar nicht wichtig). Der aber verfügt über die nötige härte: das flechten des kranzes in »leichter« (also nicht schwermütiger) gestimmtheit ist sein symbolischer vorschlag für alle die der morbiden stimmung zu erliegen drohen. Deshalb ist es ein gedicht des stolzes und allenfalls einer beherrschten · einer nicht zugelassenen melancholie. Von der müdigkeit Traklscher herbstgedichte ist es meilenweit entfernt. Man bleibt herr der situation indem man sich als handelnder erweist. Der kranz als requisit jedes fests wie als symbol der unsterblichkeit ist ein zeichen der bejahung und nicht des zweifels und der depression. (Das gegenüber des sprechers als "sie" zu bezeichnen ist weder zwingend geboten noch unangemessen auch wenn man die vorrede achtet. Hingegen ist es ziemlich albern wegen der imperative immer wieder auf einen vermeintlichen gestus des befehlens zu verweisen mit dem der mann die frau herumkommandiere. Viele interpreten verraten damit lediglich dass sie nicht anders können als ihr starres bild Georgeschen herrschergehabes selbst dann noch auf ein gedicht zu projizieren wenn dort gar nicht befohlen sondern lediglich gebeten vorgeschlagen oder geholfen wird. Auch für diese weisen des sprechens steht der grammatische modus des "imperativs" zur verfügung.)

Es versteht sich fast von selbst dass dieses gedicht auf den jahreszeitlichen wandel daneben (nicht stattdessen) auf das verhältnis zu der mehr oder auch weniger begehrten begleiterin bezogen werden mag das wie das jahr vor seinem lezten stadium steht und wie dieses noch lezte blumen seinerseits erinnerungen (in 5111 aber sogar ebenfalls blumen) zurücklässt die es in eine form zu ordnen gilt: »leicht« · also wiederum ohne in schwermut zu geraten. Denn noch »fern« zwar »lächeln« bereits neue »gestade« - sie deuten voraus auf den so frohen zyklus SIEG DES SOMMERS der in 5210 mit bildern des gleichen bereichs eingeleitet wird (die zugleich das herbst-winter-geschehen schliessen): dem aufbruch des sprechers im boot zu jenem anderen · verheissungsvolleren "strand" mit seinen "neuen pfaden". Gerade weil mit 5101 der ganze gedichtkreis eröffnet wird lässt sich also auch eine selbstanrede vorstellen in der das flechten des kranzes als symbol für das künstlerische gestalten schlechthin aufzufassen ist. George hat in der vorrede selbst darauf hingewiesen dass »selten sosehr wie in diesem buch ich und du die selbe seele« seien.

Aber auch deshalb müssen diese verse an erster stelle im JAHR DER SEELE stehen: es ist das gedicht des stärkerseins und die trotzige antwort auf die unsägliche schwäche des herrschers der HÄNGENDEN GÄRTEN · der der dekadenten atmosfäre die ihn umgab nichts entgegenzusetzen hatte · sich selbst zum sklaven erniedrigte · zur tat gegen den tyrannen zu schwach war und schliesslich in den fluss ging. 5101 gilt als Georges bekanntestes gedicht und wurde geradezu populär. Dabei ist es klar gegen den strom der massen gerichtet wenn es sich für den besuch des parks entscheidet den alle anderen sich nicht mehr zumuten wollen. Es ist reinster George und dennoch vermag der Dichter eine ebenso attraktive gegenposition aufzubauen: in 5109.

5102 Ihr rufe junger jahre die befahlen

IHR · SIE : die kleinen versalien verweisen lediglich auf die besondere betonung. 

Eroten : dem Eros oder der Aphrodite zugeordnete kindliche Liebesgötter · daher die gross-schreibung. In der bildenden kunst mit flügeln dargestellt mit denen sie hier im gedicht »flattern« : das verb wertet sie ab und lässt sie lediglich als eine art vögel erscheinen. So wird zum ausdruck gebracht dass sich die leidenschaftliche erregung des sprechers in grenzen hielt als sie sich im sommer ihm anbot - er hatte sie damals sogar von sich gewiesen. 

Als »rufe junger jahre« angesprochen wird hier eine schicksalsmacht die dem sprecher einst in träumen befahl die geliebte zu suchen die in den beiden ersten gedichtbänden gar nicht gefunden werden konnte (etwa in 210 und 215): deshalb die verneinende und trotzdem noch immer ehrfurchtsvolle geste. In der zweiten strofe wird aber die bereitschaft erklärt sich nunmehr mit der partnerin zu begnügen die im sommer noch zurückgewiesen wurde. Das anschliessende bild vom gär-prozess deutet an dass der sprecher sich noch in einer inneren entwicklung empfindet und sich entsprechend unsicher fühlt - der partnerin aber opfer bringen wolle falls sie ihm noch einmal geschickt würde. Einen überzeugenden ausdruck innerer verbundenheit stellt dieses für Isi Coblenz wenig schmeichelhafte gedicht nicht dar. 

Angesichts der rede von den bereits gelesenen trauben ist es schwer verständlich weshalb M den titel des zyklus unbedingt auf die ähren- und nicht auf die weinlese beziehen will.  

5103 Ja heil und dank dir die den segen brachte !

sterbewochen : herbst

schläfertest : beruhigtest

sachte : substantiv im sinne von sachtheit

Dieselbe partnerin wird nun (verdächtig distanziert) als »Teure« angesprochen - aber dass sie hier gefeiert wird wie M behauptet ist gerade nicht der fall. Die »sanften worte« für sie müssen wie kalkulierte schmeicheleien einstudiert werden und kommen somit nicht spontan von herzen. Und der »Einen Fernen« in der M zu recht die »Traumgeliebte« sieht gleicht sie eben gerade nicht - sie kann ihr nicht das wasser reichen. Die in 5102 gemachten versprechungen an die zu beginn das »Ja« begeistert anzuknüpfen vorgibt werden allenfalls lustlos aber keineswegs »freudig« eingelöst. »Aus vollen händen« wird hier nichts »niedergeschüttet«. Die schuldzuweisung dürfte in ihrer »sachte« stecken : Isi Coblenz hat sich selbst eindeutig darüber geäussert dass sie George körperlich nicht anziehend fand. Ihre daraus resultierende »sachte« hat zur folge dass sein ursprünglich vor leidenschaft pochendes herz geradezu in einen schlafzustand versezt wird. So kommt es denn auch nicht zu mehr als ein paar gemeinsamen spaziergängen. »Sonnen-wanderungen« ist ein hübscher eufemismus. Um einen dieser gänge dreht es sich im folgenden. i

5104 Wir schreiten auf und ab im reichen flitter

flitter : anspielung auf die fallenden herbstblätter die im sonnenlicht wie (minderwertiges) flittergold wirken. David spricht vom »eitlen Prunk des Herbstes« dem auf der anderen seite »die Illusion der Liebe« entspreche (1967, 154). Das ist gut gesagt · bezogen auf diese liebe. Im SIEG DES SOMMERS ist die liebe aber gerade mehr als blosse illusion. 

tore · gitter : der park ist umzäunt um ihn abends schliessen zu können. Der spaziergang findet innerhalb des umgitterten bereichs statt während der mandelbaum ausserhalb steht.

zum zweitenmal im flore : das gelegentliche nachblühen des mandelbaums (prunus dulcis) im herbst dürfte George zumindest aus dem weinbauklima seiner heimat her bekannt gewesen sein.

strahlenspuren : tropfen nicht von wipfeln denn die wipfel brausen nur leicht im herbstwind. Gemeint ist die nicht mehr starke wärme der sonnenstrahlen die aber doch dafür gesorgt hat dass von den wipfeln auch bei einem windstoss eben nichts mehr auf die sitzenden tropft.

Es gibt gar nicht so viele George-gedichte bei denen das natur-erlebnis so lange ungebrochen im mittelpunkt bleibt. Hier siegt es scheinbar auch über die in den hintergrund tretenden fragen dieser schwierigen beziehung. Gemeinsames erleben kann als so befriedigend empfunden werden dass es auf die beziehung verstärkend wirkt. So findet die aufkommende dankbarkeit eine einfache erklärung. Und doch ist alles auf die das lezte wort behaltende dissonanz hin geschrieben: das geräusch der aufprallenden früchte stört die vollkommenheit des zur-ruhe-gekommen-seins. Die alternativlose selbstverständlichkeit mit der sie · reif geworden · »klopfend« um einlass in den boden anhalten um neues leben vorzubereiten macht bewusst dass gerade sie bei menschen nicht besteht. Hingegen sieht M in diesem bild den ausdruck von hoffnung.  

5105 Umkreisen wir den stillen teich

Die aber wäre in diesem verstörend desillusionierten gedicht schon wieder geplazt. 

Was sie in »klug« klingenden auf wirkung berechneten worten über ihr natur-empfinden von sich gibt ist in wahrheit nur der aufguss von äusserungen die zuvor der sprecher getan hat. Die frageform verschleiert taktvoll dass er ihre plappernde oberflächlichkeit längst erkannt hat. Nur am äusserlichen verhaftet wird sie in erinnerung bleiben: wie sie gegen die herbstlich tief stehende sonne versucht die schwäne im auge zu behalten. 

5106 Wir stehen an der hecken gradem wall

In dieser erde sichrem : ausdruck für das kindliche welt-vertrauen das im »klaren hall« der kinderstimmen hörbar gemacht ist.

V. 5 wir und V. 6 Uns : vielleicht (aber nicht unbedingt) als pluralis majestatis zu verstehen

Dieser eindruck wird hier nur ein wenig zurückgenommen. Ihre äusserung lässt darauf schliessen dass ihr immerhin die aussichtslosigkeit der beziehung klar geworden ist. Womöglich handelt es sich aber um eine fehldeutung des darüber betroffenen sprechers während sie selbst nur sagen wollte dass das glück verloren gehe wenn nach dem ende der kindheit das naive religöse empfinden oder welt-vertrauen verschwunden ist wie es im lied der kinder von der himmelswonne noch zum ausdruck kommt. Ida Coblenz führte die beziehung aus interesse an Georges dichtung jedenfalls noch fort bis es 1896 zur auflösung kam.  

5107 Du willst am mauerbrunnen wasser schöpfen

mauerbrunnen · löwenköpfe : in eine mauer eingelassen sind zwei metallene wasserspeier in gestalt von löwenköpfen. Das wasser fällt in ein steinernes behältnis aus dem es geschöpft werden kann. 

Der ring mit dem nicht mehr strahlenden stein ist das symbol »ihrer Form des Liebens« (M). Mit seinem flehen versucht der sprecher diese form zu ändern - den ring vom finger zu drehen. Ihre träne zeigt dass es ihr unmöglich ist dem wunsch nachzukommen. Dass sie ihre tätigkeit unterbricht und ihn immerhin anblickt empfindet er wie einen kuss. Jeder begehrende neigt zur selbsttäuschung. 

Dieses gedicht las Ernst Morwitz George vor als es im herbst 1905 zur ersten begegnung in Melchior Lechters Berliner atelier kam (in der Kleiststrasse 3). Anschliessend zeigte ihm George sein verständnis vom lesen seiner gedichte indem er es vortrug »ohne jemals den ton zu heben oder zu senken«. Robert Böhringer hat es in dieser kunst des »hersagens« in seiner jugend bekanntlich am weitesten gebracht. Bei youtube ist der allerdings wesentlich älter gewordene sogar zu hören. Im Georgehaus in Bingen gibt es aufnahmen von Claus Victor Bock. 

5108 Nun säume nicht die gaben zu erhaschen

weise : adverb

um bronzebraunen laubes inselgruppen : das den abnehmenden natur-zyklus symbolisierende herbstlaub dominiert sogar die inselgruppen. 

Ein weiteres mal schöne natur-eindrücke - quälender denn je weil es dabei bleibt. Selbst die wespen haben resigniert den rückzug angetreten: wenn die kelche verschlossen sind ergibt das bleiben keinen sinn. Hingegen wirkt die kahnfahrt der beiden daher wie ein sinnloses verschliessen der augen vor dem unausweichlichen. Die aufforderung in der ersten zeile knüpft in bitterer ironie an ihr schon in 5105 verhöhntes allzu demonstratives natur-interesse an. Die rede von der letzten güte ist ausdruck seiner beherrschten hoffnungslosigkeit. Eines der stärksten gedichte des zyklus.

5109 Wir werden heute nicht zum garten gehen ·

V. 5 : jenes - nach vorn verweisend also auf den anblick des toten laubs unter dem baum als folge eines herbststurms

In 5101 war es um die stärke gegangen den anblick des sterbens auszuhalten und ihm etwas entgegenzusetzen. Hier nun wird genau das gegenteil verkündet und das erscheint doch nicht als schwäche. Einsichtig wird anerkannt dass es einflüsse gibt die stärker sind und uns einfach »bang und müde« machen. Dann ist es klüger nicht in den garten zu gehen. Man hat von den wespen gelernt. In 5109 ist der herbst aber auch schon weit fortgeschritten : der »laue wind« von 5101 ist kalter luft gewichen und die pokale auf den steinsäulen des eisernen tores enthalten längst keine blumen mehr. So trinken die frierenden vögel vom regenwasser darin. Die biografien enthalten in der tat viele geschichten über Georges abneigung gegen kälte. Hier allerdings mahnen die »gespenster« wol auch vor tieferem leid.

5110 Ich schrieb es auf: nicht länger sei verhehlt

plane : ebener platz oder wiese

Grossartig die eufemistische umschreibung der einsicht dass diese beziehung nun einmal unter keinem glücklichen stern steht. Wieder ist sie diejenige deren oberflächliche gefühlswelt der tiefe des mannes eben nicht entspricht und die gerade deshalb mit dem status quo durchaus zufrieden wirkt. Er muss daher befürchten dass sie auf seinen wunsch sich zu trennen überrascht und verstört reagieren könnte. Daher schreibt er lieber auf was er inzwischen sicher empfindet und beobachtet aus der entfernung wie sie sein billet erschrocken fallen lässt. Dass er in diesem augenblick die gelassenheit hat  - oder demonstriert - die herbstlichen farben wahrzunehmen und mit dem weiss des briefchens zu vergleichen zeigt - oder soll zeigen - wie wenig nahe ihm inzwischen alles geht: er hat mit der beziehung um die er in 5107 noch kämpfte offenbar bereits abgeschlossen. Doch schon im anschliessenden gedicht wird er sich eingestehen dass er des trostes durchaus auch bedarf. i

5111 Im freien viereck mit den gelben steinen

Ähnlich wie in 5105 mit ihrer beobachtung der schwäne weckt sie die milde spottlust des sprechers hier durch ihr interesse an den sternen. Was derweil in ihm vorgeht wahrzunehmen fehlt ihr erneut das einfühlungsvermögen. Vielmehr hat sie nur das bedürfnis nach einem »flüchtigen« gespräch. Wol um die sterne besser beobachten zu können ist sie aus dem schutz der kiefern ins freie und dort auf die steinerne einfassung des holzbehälters getreten wo sie aber auch dem kalten wind mehr ausgesezt ist. Sie bemerkt zwar seine traurigkeit aber wie bereits in 5105 und im gedicht zuvor gibt er im gespräch sein inneres nicht preis. 

Innerlich ist für ihn die trennung bereits vollzogen: sie werde schon sehr bald seinen »traum nicht mehr bewohnen«. Ihre briefe (und die abschriften seiner eigenen) und der zu beginn des zyklus erwähnte kranz aus inzwischen getrockneten blumen (der hier strauss genannt wird um das schliessen des kreises nicht aufdringlich wirken zu lassen) würden reichen um ihn im bevorstehenden winter ein wenig zu trösten. Es ist ein kühler abschied.

52  WALLER IM SCHNEE 5201-10

Der name des zyklus erinnert an die PILGERFAHRTEN. Der pilger oder wallfahrer steht abseits des bürgerlichen alltagslebens mit seinen üblichen zielsetzungen. 

5201 Die steine die in meiner strasse staken

plan : anknüpfung an 5110

trügen : starker konjunktiv für »tragen würden«

Dieses gedicht schliesst direkt an den ausgang von NACH DER LESE an sofern es - aber erst für das ende des winters - einen neuen bewohner des traums andeutet. Damit weist 5201 bereits auf den SIEG DES SOMMERS voraus und ermöglicht die rundung des zyklus durch 5210 wo eine ähnliche andeutung gemacht wird. Zudem wird die ganze bevorstehende niedergeschlagenheit der wintergedichte bereits von vornherein gewissermaassen zurückgenommen: man darf im verlauf der lektüre nur die hier schon erwähnte »junge hoffnung« nicht vergessen.

Nicht wieder angesprochen wird der in 5111 angedeutete trost durch »strauss und brief«. WALLER IM SCHNEE beginnt vielmehr mit gleich zwei starken bildern für die gänzlich verloren gegangene orientierung. Mit der einsamkeit des sprechers in »grauser nacht« ist der tiefpunkt genau in der gedicht-mitte erreicht. Der anschliessende todeswunsch wird für den fall dass die todeswinde ihn nur »gelinde« träfen sofort zurückgenommen: die suche nach tor und dach ist nichts anderes als ein ja zum leben und die »junge hoffnung« - die formulierung bezeichnet zugleich die hoffnung und ihr objekt - genügt als einzige begründung. 

Noch aber richten sich die gedanken nach hinten: die wintergedichte können als nachträge zu dem bereits in NACH DER LESE abgeschlossenen erlebnis aufgefasst werden. Allerdings entstanden viele von ihnen schon sehr früh im winter 1892/93.

5202 Mir ist als ob ein blick im dunkel glimme. 

benedeite : guthiess · der sprecher gab ihrer bitte nach und nahm die beschwerliche wanderung in kauf.

Vers 7 : Das verb ist ausgelassen. Zum kühlen charakter der nächtlichen erde gehört die gedämpftheit der leidenschaft. Weder freude noch klage werden laut geäussert.

Nur die erste zeile steht im präsens. Sie deutet an wie sehr noch immer sie zu ihm hin orientiert ist während sein verhältnis zu ihr eher distanziert erscheint: er empfand ( ! ) eher mitleid und gibt ansonsten nichts von sich preis. Während sie vor der wanderung noch im gespräch mit ihm vor erregung bebte spricht sie unterwegs nur noch von ihrem natur-eindruck. Für den sprecher mag sie daher ähnlich unterkühlt und »keusch« wirken wie die erde selbst. Dennoch stimmt er klaglos in ihr loblied auf die schönheit der naturerscheinungen ein. Dass ihm die spröden winter-nächte tatsächlich besser gefallen als die (dann wol gänzlich freudlosen) abende im mai muss man nicht unbedingt glauben. 

Das verhältnis zwischen beiden ist dasselbe wie im ersten zyklus. Gleichwol bestreitet M dass die begleiterin in diesem gedicht dieselbe sei. Zuzustimmen ist ihm in der bemerkung dass beide Einsame seien. Und beide überwinden ihre einsamkeit in dieser beziehung nicht. Wenn er mit ihr in allen ihren äusserungen übereinstimmt sollte nicht vergessen werden dass er sich in 5103 solche freundlichkeit selbst zur pflicht machte. Und mehr als das geht von ihm nicht aus. 

5203 Mit frohem grauen haben wir im späten

reif : ermöglicht zugleich die assoziation mit kälte und beklemmender enge 

grüften : M denkt hier wie oft sehr konkret · diesmal an den Bingener friedhof. Ob er tatsächlich das von ihr erkorene ziel des nächtlichen spaziergangs war ist vielleicht unerheblich. Es geht jedenfalls um den symbolischen wert der grüfte im hinblick auf die - wenn die bezeichnung richtig ist  - liebesbeziehung und die tragische ironie: ihr scheint die symbolik dieses ziels gar nicht klar zu sein. 

Dass beide in der vergangenheit »oft denselben weg« nahmen macht aus gemeinsamen spaziergängen im nachhinein ein eher zufälliges nebeneinandergehen und kommt so einer leugnung oder verdrängung des damaligen wollens gleich. Nicht in frage gestellt wird aber das kurzlebige hochgefühl als die auf sie niedergefallenen schneeflocken wie blüten und das gehölz wie ein zauberwald erschienen. Damit ist es schnell vorbei: was er unter ihrer führung in den »verwunschenen« erotischen tälern zu sehen bekommt - und auch nur »von weitem« - entspricht seinen erwartungen ganz und gar nicht. »Nackte helle« und nur »blasse düfte« verweisen auf die abwesenheit von attraktion und leidenschaft. Das muss nicht als vorwurf zu verstehen sein. Vielmehr hat sie ihn zur selbsterkenntnis geführt. 

5204 Ich darf nicht dankend an dir niedersinken

Ich darf nicht : weil sie es nicht zulässt (vor ihr niederzusinken wäre ja auch als eine sexuelle geste aufzufassen die sie nicht wünscht. Das wird deutlich gemacht durch den unmittelbaren anschluss an die zweite strofe von 5203.)

dankend : er würde ihr ja danken für ihr »inneres Verwandtsein« das er in beider »Leid des Gesondertseins« sehe (M) doch ist sie bei aller wehmut für keinen trost empfänglich. Das mag daran liegen dass sie sich selbst ihr leid nicht eingesteht. Dass sie mit zwei begleitern - diesem leid und dem sprecher -  zum gang entlang des winterlichen flusses aufbrechen wird die sie doch beide eigentlich gar nicht wahrnehmen will entbehrt nicht einer gewissen komik.  

Vers 2 : anspielung auf die Bingener herkunft der beiden 

5205 Ich trat vor dich mit einem segenspruche

den demanten : nicht unbedingt aber womöglich doch auch als symbolische bezeichnung einer dichtung zu verstehen - oder eines antrags. Dass George der Ida Coblenz einen edelstein schenkte ist überliefert. 

Des festlichen altars : metafer für den sprecher selbst

schimmern : drittes glied der substantivischen aufzählung

Hier stehen gleich zwei erfolglose gesten der zuneigung am anfang: der vortrag des »segenspruches« und das überreichen des diamantschmucks - für den sprecher sehr wol ein »opfer«. Sie scheitern an ihrem völligen unverständnis. Ihre zögerliche und gar nicht freudige entgegennahme zeigt dass sie den wert des geschenks nicht ermessen kann. »Du aber weisst nichts« - woran drei viertel des gedichts hängen - könnte vordergründig auf ihre jüdische herkunft anspielen. Gemeint ist aber eher dass für sie alles fremd ist was für den sprecher zum Heiligsten zählt. Dazu gehören auch sexuelle »wünsche« (oder »erdhaftes Begehren« in Ms diskreter sprache). 

5206 Ich lehre dich den sanften reiz des zimmers

Drei attribute hängen an dem »sanften reiz« der an der verständnislosigkeit der Angesprochenen dreimal so abprallt dass sich der sprecher resigniert ins nebenzimmer zurückzieht wo er durch den spalt des vorhangs beobachtet wie sie unverwandt ihre körperhaltung beibehält - bild ihrer inneren unbeweglichkeit. Ihre wahrnehmung ist nicht auf den sprecher gerichtet. Vielmehr hängt sie den eigenen gedanken nach. Der sprecher wirkt erschrocken über das beobachtete depressive insichgekehrtsein und wendet sich in stummem gebet an Maria (als consolatrix afflictorum · die trösterin der betrübten · die er wegen des verlusts Jesu als die selbst schlechthin »betrübte« bezeichnet). Darin geht es allein um die fehlende kraft aus sich selbst heraus »trost« zu erzeugen. Äussere faktoren werden demnach als unabänderlich angesehen. M weist auf Georges glauben an die (den betenden) erhebende kraft des gebets hin und verschweigt nicht dass der Dichter sich aber »den äusseren Vorschriften der Kirche« nicht unterworfen habe. Dem entspricht der text genau. Der sprecher nennt sich selbst als betenden ungeübt und sogar vertrauenslos - in dem sinne dass an einer wirkung des gebets auf die partnerin und an der kraft der im gebet angesprochenen Muttergottes gezweifelt wird. Folglich kann der wert des gebets tatsächlich nur in der von M angesprochenen wirkung auf den betenden gesehen werden. So lässt es sich ja auch verstehen: der seele der partnerin gilt dieses flehen nur auf den ersten blick · in wahrheit aber der eigenen. Denn zweifellos bedarf der sprecher selbst ja auch des trostes (dass er leidet zeigt bereits das übernächste gedicht). 

5207 Noch zwingt mich treue über dir zu wachen

Die (durch das gebet?) wiedergefundene stärke des sprechers erweist sich nun in dessen fähigkeit erstmals die trennung zu denken. Mehr noch - schon das erste wort macht eigentlich klar dass der entschluss bereits gefallen ist. Höher gewichtet als die ethische wird die ästhetische begründung dafür dass die trennung nur nicht sogleich vollzogen werden kann. In dieselbe richtung geht der ethisch kaum ernstzunehmende aber schöne gedanke des gewollten traurigseins. Weil es schön ist darf dieses streben sogar heilig genannt werden. M betont die besondere macht der treue der George sich unterworfen habe. Das ist ja auch gar nicht ganz falsch. Gleichwol darf gesagt werden dass doch nun gerade bei George treue in gewisser hinsicht nicht unabhängig vom verfall der schönheit und dementsprechend als etwas durchaus vergängliches gedacht wird. Das war Morwitz natürlich auch bekannt · hat ihn in seiner treue aber nie erschüttert.

Der winterliche fund bezieht sich auf das zugeordnete reimwort »bund«. Weil dieser den herbst und winter hindurch bestehende bund nun vor der auflösung steht wird von seinem »herben schicksal« gesprochen. Dass von ihrer seite jeglicher »warme anruf« ausbleibt beinhaltet bereits die rechtfertigung das joch der treue bald abschütteln zu dürfen.

5208 Die blume die ich mir am fenster hege

scherbe : blumentopf aus ton

Das lezte zögern vor der trennung ist nun auch überwunden. Das knicken der nicht mehr lebensfähigen blume erscheint einfach nur folgerichtig - und wirkt in ihrer für George nicht untypischen konsequenz dennoch fast herzlos. Diesen eindruck korrigieren die beiden lezten verse aber eindrucksvoll. Dass der sprecher in seiner unerbittlichkeit selbst am meisten leidet ist freilich kein grund sie noch einmal in frage zu stellen. 

Ms hinweis dass George es geliebt habe menschliches in bildern aus dem leben von pflanzen darzustellen sei hier erwähnt weil M zugleich erwähnt dass George zu solchem zweck tiere nicht verwandte - aus achtung vor ihrem ganz eigenen charakter. Selbst die haltung eines haushunds als begleiter habe George daher verurteilt. Für sich selbst habe er sogar topfpflanzen »oder selbst Schnittblumen im Zimmer« abgelehnt - den druck der verantwortung dafür habe er als unerwünschte ablenkung empfunden. Schon in 5109 zeigte sich der sprecher sehr empfindlich angesichts des sterbens der vegetation.

5209 Dein zauber brach da blaue flüge wehten

zauber : ihre macht über ihn

Der frühling dient hier als bild für seine situation des aufbruchs der den abschied eigentlich bereits überlagert. Auch die ergrünenden grabhügel (man erinnert sich an die trüben grüfte in 5203) · selbst die kirche in ihrer mitte (eine reminiszenz an 5205) können ihm nicht widerstehen. In dem hastigen gebet dort (bei dem noch mehr als in 5206 beide schmerzbeladenen frauengestalten zusammenfliessen) wird für nichts mehr gebetet und niemand mehr angebetet. Deswegen steht es im gedicht: um darzustellen wie gleichgültig die winterfreundin wurde ist nichts geeigneter als dieses sinnentleerte alltagsritual. 

Das gedicht erweist Georges stärke gerade in belastenden situationen: als unterlegener geht er nicht mehr aus ihnen hervor. Dahinter steht eine art pflichtgefühl sich selbst gegenüber. Es verbietet dem sprecher geradezu die trennung von der winterlichen gefährtin bis in den frühling aufzuschieben. Dennoch empfindet man noch stärker als im vorigen gedicht die kälte des sprechers (mitleidlos besonders zu beginn der zweiten strofe) von dessen leiden nun keine rede mehr ist.  

5210 Wo die strahlen schnell verschleissen

Eine noch intensivere variation des frühlingsbildes. Die aufbruchsstimmung ist so übermächtig dass die grobheit des bilds vom scheiterhaufen der für das und die vergangene errichtet wird gar nicht mehr in den blick gerät. George ist selten sentimental und manchmal nicht einmal sensibel. Stark ist auch das bild der sonnenstrahlen die die nur noch als leichentuch empfundene schneedecke ebenso mitleidlos vernichten. Das natur-beispiel rechtfertigt also seinen ganz ähnlichen scheiterhaufen den er aber rasch zurücklässt um sozusagen am anderen ufer - dem »lächelnden gestade« von 5101 - seelisch wieder aufzublühen. Das frohe banner verspricht viel mehr als die vergangenen »spröden freuden«. 

Der es schwenkt ist im augenblick des sprechens schon kein fremder mehr. Ein bruder wird er genannt: er ist von gleicher art · von gleichem wert. Auch das lezte gedicht dieses kreises ist also wie die anderen zuvor aus zeitlicher distanz gesprochen. Und schon das erste wird bereits gewusst haben dass die »junge hoffnung« längst in erscheinung getreten war. 

In der tat hatte George im juli 1892 in dessen villa in Tilff bei Lüttich Edmond Rassenfosse kennengelernt. Der damals achtzehnjährige veröffentlichte bereits im folgejahr seine erste (und einzige) gedichtsammlung und traf sich in den anschliessenden jahren mehrmals mit George · einmal auch in Bingen. Zulezt · 1902 · arbeitete er aber schon in Konstantinopel für eine eisenbahngesellschaft und war bereits verheiratet. Zehn jahre zuvor schien er ein dichter (und insofern »bruder«) zu sein - einer der das geschenk des demanten nicht wie in 5205 nur »fragend kalt und unentschlossen« entgegennehmen · der sein werden aus gluten und tränen wertschätzen würde. Dass er die dichtkunst aufgab und ein bürger wurde muss George tief erschüttert haben. 

53  SIEG DES SOMMERS 5301-10

Im sommer 1892 aber war die wol durch familiären druck verursachte wendung in Rassenfosses lebensweg noch ebenso wenig absehbar wie die dadurch unausweichlich gewordene entfremdung von George - abgesehen davon dass nun einmal kein sommer ewig währt. Das wird von George allerdings auch gar nicht behauptet: im lezten gedicht 5310 werden die nun wieder reifen früchte darauf hinweisen dass der zyklus sich schliesst - und auch von scheidestunden wird die rede sein.

Als das JAHR DER SEELE 1897 erschien war die episode mit Rassenfosse auch längst vorbei. Es bleibt aber festzuhalten dass das in Georges leben Gleichzeitige - beziehungen zu Ida Coblenz und zu Edmond Rassenfosse - hier als ein Nacheinander dargestellt wird was den eindruck hinterlässt als sei ein erstes und durch und durch mit bedrückenden defiziten behaftetes durch ein ungleich besseres zweites erlebnis abgelöst worden. Die verwendung des begriffs »sieg« macht vollends klar dass das JAHR DER SEELE etwas ganz anderes meint als melancholisch-verträumte spaziergänge im park. Es ist ein buch des kampfs und feiert den durchbruch und die überlegenheit der besseren liebe. NACH DER LESE und WALLER IM SCHNEE sind nur die triste folie vor der sich der SIEG DES SOMMERS um so triumfaler abheben kann. Deshalb ist das JAHR DER SEELE eben weder »pessimistisch und einsam« noch »Ausdruck einer Müdigkeit« (David 1967, 132) und das war schon eingangs in 5101 klar zu erkennen. 

5301 Der lüfte schaukeln wie von neuen dingen

Entbietet : Den angesichts dreier subjekte eigentlich nicht korrekten singular erklärt M damit dass man etwa »das alles« davorzusetzen habe. 

So viel fast ungebrochene sieghafte euforie bietet George sonst nur selten. Der natureingang ist dreifach gegliedert und deutet mit dem hinweis auf den tauwetter bringenden milden wind · die noch nicht starke frühlingssonne und die rückkehr der zugvögel auf die neue jahreszeit. Zu recht weist M darauf hin dass das Adjektiv »neu« in der ersten strofe wiederholt wird (was George ansonsten eher als unschön vermeidet). 

Stark ist auch die anrede des du als »glanz und glaube«. Auch hier empfindet M sicher richtig dass dieser hymnische ton (erst recht mit der feierlichen alliteration) sich nicht so sehr auf eine einzelne person bezieht als auf jenes wunschbild auf dessen in-erscheinung-treten der sprecher immer schon - also auch während der beziehung mit der herbst-gefährtin - hoffte (und vor dessen ausbleiben er angst hatte). Deshalb muss mit dem »laub« nicht unbedingt der park von Tervueren gemeint sein. Denn auch bei den herbst-spaziergängen war der sprecher - wie er selbst gesteht - auf das hier angesprochene du bezogen: die bäume als zeugen dieser sehnsucht waren ja zum glück stumm - und ihr laub das gleiche · ob in Nymphenburg · Bingen oder nun in Belgien. Vergangenheit und gegenwart fliessen in diesem gedicht untrennbar ineinander wenn du erkennst dass der beginn der sechsten zeile an die vierte anschliesst und der rest der sechsten (nach dem hochpunkt) an die fünfte · so dass »glanz und glaube« nicht nur zu einem geradezu endlosen zeitraum in beziehung gesezt werden sondern auch zu einem ähnlich grenzenlosen ort - wo immer es bäume gibt. Aber auch ganz für sich genommen ist die fünfte zeile sicher eine von Georges besten. 

Zur lezten strofe sei nur gesagt dass sie nicht vom glück handelt sondern von dessen erwartung. Sie ist der grund der euforie. Die frageform gibt aber ebenso zu denken wie Ms erinnerung daran dass »abenteuer« immer einen ungewissen ausgang haben.  

5302 Den blauen raden und dem blutigen mohne

Das gedanklich simple gedicht bezieht seinen reiz aus der bunten anschaulichkeit der bilder. Der sprecher fordert sich selbst auf den neubeginn nicht durch das grübeln über die vergangenheit zu gefährden. Dabei spricht er sich im plural an. Er verbietet sich den weg durch das feld mit den giftigen violettblauen kornraden (die M mit kornblumen verwechselt) · den als ähnlich gefährlich gekennzeichneten mohnblumen und dem korn dessen lispeln      Es ist naheliegend das fruchtbare feld dem weiblichen · den wald aber eher dem männlichen bereich zuzuordnen. 

sinnens ohne : ohne über das vergangene nachzusinnen

zeichen in den birken : nicht nur liebespaare verewigten ihre monogramme gern durch einritzen in baumrinde

Geschwunden sei : konjunktiv des wunsches dass die erinnerung an die hand schwinden möge 

5303 Du willst mit mir ein reich der sonne stiften

triften : viehweiden oder auch die feldflur

süss : wird in Georges lyrik (anders als im privaten verkehr mit freunden) mit unterschiedlichen bedeutungen verwendet. 

gefüge: fügsam. Die klagen ordnen sich also dem kunstvollen wort unter und fliehen wie verscheuchte vögel. 

Dieses gedicht wirkt wenigstens im ersten augenblick wie ein früher entwurf des schönen lebens das im VORSPIEL 61 eine zentrale rolle spielen wird. Es preist die freude die wald und feld genauso wie den sprecher und seinen freund erhöht (oder bildlich gesprochen: schon zu lebzeiten heiligspricht - Georges dichtung ist entschieden auf das diesseits gerichtet.) Die parallelisierung des verlusts der eigenen pracht mit dem der bäume - also dem herbstlichen fall der blätter - muss aber auch als erster hinweis darauf gewertet werden dass auch dieser freundschaft ein nicht so fernes ende gesezt sein ist. 

Die fünfte zeile wiederholt den säkularen gedanken: mehr als ein »süsses« diesseitiges leben ist nicht zu erstreben. Ausschlaggebend für dieses leben ist die kunst - und es ist ein bemerkenswerter liebes-beweis dass hier allein von der kunst des freundes gesprochen wird. Andererseits bleibt dadurch im dunkeln ob der sprecher die euforie des freundes wirklich teilt · ob er von dem bevorstehenden reich der sonne ebenso überzeugt ist. Ja es ist nicht einmal klar ob die konjunktive der zeilen zwei bis fünf durch das gemeinsame wünschen bedingt sind - oder lediglich durch die indirekte rede. Dann würden zumindest die ersten vier strofen lediglich die begeisterung des freundes referieren - und der sprecher stünde recht unbeteiligt daneben. »Du« ist nicht »wir«.

Das JAHR DER SEELE gilt als leztes von Georges frühwerken. In 5303 gibt es einen weiteren verweis auf den späteren George: die vorstellung dass dichtung lehrende · also bildende funktion habe. Hier geht es um die selbstbeherrschung · um das erdulden und gefasste tragen von leid worin eine voraussetzung für die herrschaft der freude gesehen wird. Die scheu wie sie der freund besizt (dem sie schliesslich das schöne lächeln ermöglicht) spielt dabei eine rolle weil die ehrfurcht vor anderem davor bewahrt allein das eigene ernst zu nehmen. Solche ehrfurcht finde sich bei menschen die der sprecher in zwiespältiger bewunderung »einfach starke« nennt (denn ihre stärke geht einher mit ihrer geringeren sensibilität) · und vögel · falter und blumen werden als orientierung stiftend genannt. Auch in diesen gedanken kündigt sich das ende des nicht immer so bodenständigen frühwerks an - und der beginn eines anti-intellektuellen konservatismus.

5304 Die silberbüschel die das gras verbrämen

das gras verbrämen : verdecken oder aber die (im park) ein rasenstück säumen. Dazu passt »silberbüsche« in der ersten handschrift von 1895 besser. Die in vers fünf genannten zweige wären damit schnell erklärt. Schon Landmann neigte zu dieser auffassung (in SW Band 4).

tageskerze : M denkt an eine königskerze. Jedenfalls kommt keine wildpflanze in betracht. 

Ganz anders als in den beiden vorigen gedichtkreisen nehmen sogar die pflanzen am glück der beiden freunde anteil denn ihnen scheint es jenes anderer paare zu übertreffen von denen keines von einem ebenso günstigen stern geleitet wird. Das den zweigen zugeschriebene streichen über das haar ist eine geste der zuneigung (und für George wiederholt bezeugt). 

Die ersten begegnungen dieser art eigentümliche unsicherheit und das erforschen des anderen waren auch in 105 und erst recht im danach benannten ERKENNTAG 4102 ein wichtiges thema. Diese unsicherheit zu überwinden fordert die zweite strofe - der kuss mache worte oder das befragen des anderen unnötig - nicht ohne erfolg wie sich gleich im anschluss zeigt. Denn nun besteht kein anlass mehr vor dem bedrohlichen schicksal der einsamkeit besorgt zu sein · hat doch inzwischen einer »des andren heisses leben» getrunken - ein sehr dichterischer ausdruck für die intensive vereinigung. Wer ausgerechnet George so gern sexualangst attestiert hat nicht viel verstanden.

So wagen die beiden den blick nach unten auf das eigene spiegelbild (denn es geht nicht wirklich um das sich im wasser spiegelnde himmelsblau) durch den sich auch schon andere - in der legende FRÜHLINGSWENDE 052 und 4102 - an besonderen augenblicken ihres lebens selbstbestätigung verschafften.

5305 Gemahnt dich noch das schöne bildnis dessen

Um diese selbstbestätigung geht es auch hier: das gedicht kann geradezu als direkte fortsetzung von 5304 aufgefasst werden zumal ein gewässer in beiden gedichten für eine zusätzliche verbindung sorgt. Im blick auf die wasseroberfläche mit seinem spiegelbild erinnert sich der sprecher an seine kindheit als er noch schöne schmetterlinge jagte. Nun erscheint die in 5304 dargestellte gegenwart als erfüllung der schon damals vorhandenen wünsche die sich in noch kindlicher form äusserten: im kosten des dickflüssigen nektars der blütendolden · im freiwilligen vertrauensvollen zu-ihm-kommen des schönen schwans - im sanften streicheln des schwanenhalses. Und er erinnert sich wie er damals ebenfalls am wasser sass und zu ergründen suchte was tief in ihm noch heimlich angelegt war. 

Das ist es weshalb das in der erinnerung vor ihm stehende bildnis »schön« genannt wird.

Woran aber soll dieses bildnis eigentlich mahnen? Das gedicht will diese frage demonstrativ nicht beantworten weil eine solche mahnung nur in den beiden ersten zyklen sinn ergeben hätte.

5306 Wenn trübe mahnung noch einmal uns peinigt

gartenwald : die bäume des parks in dem sich ja das geschehen des ganzen zyklus abspielt

versöhnlich ernst : adjektive die auf den augenblick des todes verweisen wenn die gegensätze des lebens als nichtig empfunden werden.

Der freund erscheint zuversichtlicher (aber ähnlich 5303 vielleicht auch oberflächlicher) gegenüber dem doch wieder von befürchtungen gepeinigten sprecher die er als »flüchtig« nicht sonderlich ernst nimmt. Der aber schliesst sich dieser zuversicht nur unter einer bedingung an: er möge sich nicht aus seinem »schutz« zu entfernen - so lange bis das tageslicht untergeht: also lebenslang. M legt diese forderung dem freund in den mund. Dann wäre sie lediglich eine variation des in den versen drei und vier schon gesagten. Für einen jüngeren freund wäre sie eher etwas unpassend. Und George hätte sich nicht gern als schutzbedürftig bezeichnet. Doch könnte man einwenden dass in dieser beziehung der sprecher stets der etwas zurückhaltendere war und ihre beendigung wol auch eher von ihm ausgeht. 

5307 Wie ein erwachen war zu andrem werden

Die bedeutung der in 5304 gefeierten »hohen stunde« der vereinigung wird hier als ein »erwachen zu andrem werden« noch einmal unterstrichen. Und ähnlich wie in 5305 erscheint dieser augenblick als das seit langem verfolgte · nun aber nach grossen mühen erreichte ziel während alle stunden davor nur der vorbereitung darauf dienten. Mit dieser stunde sieht der sprecher alle »gestalten und gewalten« überwunden (die früher als hemmnisse dem zueinanderfinden im weg standen). 5307 markiert ohne zwischentöne und brechungen den augenblick der intensivsten nähe zwischen beiden freunden. 

5308 Die reichsten schätze lernet frei verschwenden

5308 wirkt hingegen als sei es bereits in kenntnis des bevorstehenden endes gesprochen und würdigt - Epikur noch überbietend - diese freundschaft in umso höheren tönen. 

Und törig nennt : imperativ (nennt es töricht !)

als übel zu befahren : »darüber zu trauern« (M) oder als übel zu empfinden

Die ersten strofen können im sinne des »reichs der sonne« (5303) als aufruf zu einem gesteigerten lebensgefühl verstanden werden das mit dem vollen ausschöpfen der sinnlichen möglichkeiten einhergeht. Dazu gehört sich den wetter-extremen auszusetzen oder dem wofür regen und heisse sonne nur bilder sind - und in der liebesbeziehung: die bereitschaft zu vollem genuss. Die dritte strofe wendet sich den eher seelischen bedingungen zu. Hier geht es in hedonistischer tradition eher um das vermeiden von allem unangenehmen. Demnach sollen erinnerungen an eigentlich schon fern liegendes ebenso wenig zu leiden führen wie der unterschied zwischen dem erträumten und dem dahinter zurückbleibenden wirklich erfahrenen »kuss« · also die unzufriedenheit. Die bald einsetzende trennung der freunde scheint aber ein fingerzeig zu sein dass dieser vorsatz entweder von vornherein untauglich oder aber kaum zu verwirklichen sei. Der preis wäre ja der weitgehende verzicht auf die eigenen ansprüche (denen der begleiter wol doch nicht ganz gewachsen war).  

5309 Wenn von den eichen erste morgenkühle

perlen : tropfen aber mit einem anklang an tränen.

tau : Auch hier kann mit noch mehr recht an tränen gedacht werden doch ist dies eben auch nicht zwingend. Diese unschärfe verhindert hier jeden anschein von sentimentalität.

Das fast unmerkliche abkühlen der beziehung wird im ersten vers schon angedeutet und dann mit zarter trauer ausgeführt ohne dass die geringste bitterkeit ins spiel kommen würde. Es ist nur ein wenig kalt · nur ein wenig nass · der klang des kieses kaum hörbar hart und die form der kiesel kommt dem sprecher nicht richtig gerundet und sogar spitz vor. Der gemeinsame weg durch den bekannten park weckt erinnerungen - auch an gefühle die jezt schweigen? - oder sind die schweigenden gefühle akkusativobjekt? Die eigentlich belanglose unschärfe trägt bei zur zartheit des gedichts. Dass die gefühle nicht mehr so lebendig sind ist eindeutig genug. Dabei bewegen sich die beiden noch im gleichtakt und so nahe beieinander dass der puls des anderen spürbar ist und noch immer als verwandt empfunden wird. Aber feinfühlig spürt der sprecher dass der begleiter unter einer bangen ahnung leidet. Dass er ihn an sich zieht genügt schon um seine tränen zu trocknen. Aber es ist eben nur ein »laues schmiegen«. So ist es recht eindeutig der sprecher von dem die beginnende entfremdung ausgeht. Er spürt es selbst am ungewollt »rauhen« klang seiner stimme.

5310 Ruhm diesen wipfeln ! dieser farbenflur !

Während die trennung von der begleiterin im winter ein quälend langer prozess war geht es nun ganz schnell. Der abschied ist ausweislich des präteritums der achten zeile sogar bereits vollzogen - George gibt ihm mit hilfe des wimpels (einer reminiszenz an das banner im lezten gedicht des vorigen zyklus) den anschein eines aufbruchs · lässt offen ob die in eine zukunft verbannten · sachlich wie ein wetterbericht vorhergesagten tränen auch beim sprecher rinnen und versteckt den heiklen moment hinter den zwei punkten. Die mit dem scheiden des freundes wol für immer beendete beziehung - die geringe wahrscheinlichkeit einer rückkehr schmerzt den sprecher offenbar weniger - wird aber nicht als verlorene zeitspanne begriffen sondern bleibt als wenn auch kurzfristige begegnung mit dem glück geschätzt. Sie hat etwas hinterlassen - aber · das macht der vergleich mit dem schmelz der früchte deutlich · es ist doch eher nichts · viel allenfalls als erinnerung. Genug um die in so vielen strofen dieses gedichtkreises bedachten bäume und damit den ganzen park - den ort des sommerlichen erlebens - noch einmal dankbar zu preisen. Dank dieser stärke des sprechers endet SIEG DES SOMMERS nicht in einer niederlage. Wenn liebe nur schläft muss sie ja mit sicherheit auch wieder erwachen.

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