91 9101-14
9101 GOETHES LEZTE NACHT IN ITALIEN
9102 HYPERION I · Wo an entlegnem gestade
9103 HYPERION II · Ahnung gesellt mich zu euch
9104 HYPERION III · Ich kam zur heimat:
9105 AN DIE KINDER DES MEERES I-IV
9106 DER KRIEG
9107 DER DICHTER IN ZEITEN DER WIRREN
9108 EINEM JUNGEN FÜHRER IM ERSTEN WELTKRIEG
9109 DIE WINKE
9110 GEBETE I
9111 GEBETE II
9112 GEBETE III
9113 BURG FALKENSTEIN
9114 GEHEIMES DEUTSCHLAND
92 921-4
921 DER GEHENKTE
922 DER MENSCH UND DER DRUD
923 GESPRÄCH DES HERRN MIT DEM RÖMISCHEN HAUPTMANN
Kulturgüter werden in kriegen zumindest dann nicht geschont wenn es um religion und eroberung geht. Bisweilen stehen die zerstörer auf einer kulturell eher niedrigeren stufe als die denen ihr zerstörerisches werk die identität oder einfach ihren reichtum rauben soll. Bekannte beispiele wären die hunnen · die germanen oder die persischen truppen die die Akropolis niederbrannten. Als kultiviert geltende völker verhielten sich aber nicht weniger barbarisch wie man sich gerade als Deutscher eingestehen muss. Trotzdem löst dieser eigentlich nicht ungewöhnliche und von den besiegten gern übertrieben brutal dargestellte vorgang immer wieder empörung (man könnte auch von reflexen und ritualen der empörung sprechen ohne ihnen damit jedes recht abzusprechen) aus: zulezt etwa bei den zerstörungen durch den Islamischen Staat oder die Taliban. Was hinter dem kulturvandalismus steckt hat vor kurzem Hermann Parzinger in einer gross angelegten untersuchung aufgedeckt: »Verdammt und vernichtet. Kulturzerstörungen vom alten Orient bis zur Gegenwart.« Das Buch erschien 2021 bei C. H. Beck und George hätte es bestimmt gekauft - oder von Karl Wolfskehl ausgeliehen. Da gerade bei dem vertreter eines zyklischen geschichtsbildes das interesse jedem untergang müde gewordener alter und dem aufstieg kraftvoller neuer · wenngleich ursprünglich eher primitiver kulturen gelten muss hat George eines seiner faszinierendsten und ganz gewiss auch schönsten gedichte diesem thema gewidmet.
Der mehr oder weniger regelmässige untergang eines kulturvolks und seiner kulturgüter gilt in zyklischen geschichtsbildern nicht als unglück und rückschlag sondern als bedingt durch eine gesetzmässigkeit (George nennt sie gern den »fug« also eine schicksalhafte fügung) gegen die auch die götter machtlos sind · die zwar verzweiflung hervorrufen mag der aber mit moralischer verurteilung der zerstörer zu begegnen nicht angemessen ist: Diese sieger werden neues errichten (oder einen neuanfang wenigstens ermöglichen) und auch ihre epoche wird nur von zeit sein · schliesslich ermüden und herabsinken · zulezt zerstört werden.
Dies bedeutet natürlich nicht das zwangsläufige akzeptieren jeder zerstörung von kulturgut. Nur wenn die alte kultur ihr lebensrecht verloren hat und die neue kraftvoll das tor zu einer zukunft zu errichten vermag (womit IS und Taliban überfordert sein dürften) muss die moral verstummen. Gegen das freisprechen der sieger und das Georges naturell eigentlich fremde (vgl. 4114) mitleidlose ignorieren des leides der anderen seite hat freilich auch der von ihm (wie selbst von Nietzsche) geschäzte Jacob Burckhardt eindrucksvoll protestiert (wenngleich dabei mehr auf das Hegelsche geschichtsdenken zielend). Seine »Weltgeschichtlichen Betrachtungen« von 1905 waren im Kreis bestandteil des literaturkanons - als einziges werk eines modernen historikers unter den »Nötigen« (vgl. Groppe 2001, 485). Georges standpunkt in dieser frage geht aus 924 deutlich hervor. Trotzdem sei · auch wenn es überflüssig ist · daran erinnert wie sehr gerade in Georges gedichten kulturgüter wie kirchen schlösser und parks immer wieder eine herausragende rolle spielen und welche zuwendung der ständig reisende Dichter ihnen an seinen wechselnden aufenthaltsorten entgegenbrachte. Auch die jüngsten im Kreis übernahmen dieses interesse - Michael Stettler wäre nur ein beispiel. Es ist unsinnig ganz undifferenziert den eindruck zu erwecken George würde als »Virtuose des Abbruchs« deren untergang zugunsten einer »Tabula rasa« jemals feiern (so Osterkamp 2010, 246).
Der am ende dieses in klassische blankverse gesezten einakters den flammen zum opfer fallende tempel war in besseren zeiten religiös-kultureller mittelpunkt eines nun aber von barbarischen nomaden eroberten staats (und ist es längst nicht mehr) dessen fürsten zulezt keine rühmliche rolle spielten. Der vorlezte war geistesschwach und der lezte floh noch in der verlorenen schlacht und verlor dabei sein leben. So ist die regentschaft den tempelpriestern zugefallen. Das gespräch von fünf von ihnen bildet den ganzen inhalt von Georges denkbar undramatisch konzipiertem drama und so wie die römischen geschichtsschreiber die brutalität der plündernden und blutrünstigen westgoten und vandalen maasslos übertrieben · so verzerren auch die priester das handeln der fremden eroberer und den charakter ihres anführers. George hat dieses gesetz der geschichtsschreibung aus der sicht der unterlegenen genau abgebildet. Jeder ernsthafte germanist wird diese perspektivität berücksichtigen und nicht das übertriebene auch noch seinerseits übertreiben.
Den adel des landes hat der glaube an den sieg verlassen - und damit seine existenzberechtigung. Das handel treibende bürgertum kennt - wenig überraschend - kein anderes interesse als einen niedrigeren steuersatz. Die masse des »stumpfen volks« ist erwartungsgemäss auch nicht besser: mehr als brot und spiele verlangt sie nicht. Keiner weint der feigen und geistig unterdurchschnittlichen regierung eine träne nach. Und natürlich gibt es als untrüglichste zeichen der »fäulnis« die populisten die bildzeitung und all die verräterischen sogenannten bündnisse und alternativen: »giftige eifrer« die gesetz und staat schon immer verachteten der gleichwohl auch hier »lass« also nachlässig genug war seine inneren feinde zu schonen die längst genau wie heute mit den äusseren gemeinsame sache machen. Man muss George nicht als einen profeten verehren - er beschreibt doch nur die immer gleichen symptome einer sterbenden gesellschaft die ihm von den antiken historikern her so vertraut waren wie den heutigen von ihrer tageszeitung. »Der staat ward faul/ Und flach und dreist der bürger« heisst es in 9339.
Die biederen priester verdienen keinen spott - aber format hat ganz allein eine junge charismatische frau: Pamfilia die in der thronfolge die nächste wäre und von den priestern zu verhandlungen mit dem jungen eroberer geschickt wird. Dort tritt sie mutig auf und argumentiert klug. Als sie dennoch nichts für den tempel erreicht - vielleicht (das ist fraglich) sogar nichts erreichen kann wo der untergang ja eben aus dem fug resultiert - gibt sie sich voll trauer selbst den tod. Den priestern ist damit die lezte hoffnung aber nicht der moralische leitstern genommen. Sie alle bezeichnen Pamfilia und ihre selbsttötung in ehrenden worten als vorbildlich - was beweist dass sie ethisch noch immer über substanz verfügen und nicht ohne den von Pamfilia neu geweckten stolz sterben werden: vielleicht schon in den nun auflodernden flammen (weshalb nur der neu hinzutretende »fünfte« (mit dem ältesten sechste) priester sozusagen irrtümlich »Rettet euch!« rufen kann). Damit hätte die junge frau noch im tod einen lezten achtung gebietenden beitrag geleistet und zudem das sinnlose dahinvegetieren einer überflüssig und würdelos gewordenen elite verhindert.
Auf der gegenseite überstrahlt der namen- wie bartlose junge barbarenfürst alles mit seinem scharfen verstand und hohen ethos. Das gerücht Pamfilia habe sich in ihn verliebt findet nur der älteste priester in seiner beschränktheit »widrig« - tatsächlich wäre nichts naheliegender als eine verbindung der beiden. Mit der hoffnung »dass sie ihn rühre« hat sich der zweite aber gründlich verrechnet. Der junge barbar den sein freund (der offenbar in kluger schonung aus politik und krieg noch herausgehalten wird und demzufolge noch jünger sein muss) »Ili« nennt hat für ihre reize nichts übrig weil er von seiner geschichtlichen sendung überzeugt ist die er das »recht« nennt (hier ist die parallele zu dem bild das der junge George von sich zeichnete unübersehbar). Darin besteht seine glut und seine verantwortung und gegen die ablenkung durch ein junges mädchen ist er so immun wie gegen jegliche schmeichelei (weshalb der vierte priester ihn in seinem botenbericht sogar »keusch« nennt) oder das versprechen von ruhm falls er den tempel verschone (womit Pamfilia ihn auf geheiss der priester zu locken versucht).
Sein sprechen ist unmissverständlich wenn er die handelsherren die nichts verstanden haben und ihn mit einem ihrer gewohnten herrscher verwechseln mit der verdienten antwort abblitzen lässt: sie werden ihre ansprüche der neuen zeit anzupassen haben. Und nicht alle neugeborenen stellt er unter staatlichen schutz. Die Tibeter des zwanzigsten jahrhunderts waren nicht die ersten die erfuhren dass eroberer zur stabilisierung der verhältnisse bevölkerungspolitik betreiben. Auch müssen in nachkriegszeiten · den zeiten der knappheit · prioritäten gesezt werden - das ist moralisch nicht verwerflich sondern geboten. Osterkamp gibt sich sehr empört über die angeblich »unüberbietbare Brutalität« (2010, 246) in Ilis antwort an die schwangeren bittstellerinnen (2010, 247). Hätte sich der Goetheforscher doch einmal erinnert wie gnadenlos der barbarenkönig Thoas aus persönlichem zorn seine soldaten auf zwei wehrlose fremde hezt und sie zu töten befiehlt während Ili · was Osterkamp natürlich wieder einmal übersieht · lediglich klagen zurückweist und ansonsten nur den konjunktiv verwendet ! Freilich spricht mit Ili ein viehzüchtender nomade der es anders als die einheimischen gewohnt ist dass bei futtermangel notfalls ein »wurf« geopfert werden muss.
Auch wenn er die regeln der diskursethik und die tabus heutiger political correctness nicht kennt vermag Ili höflich und pointiert zu argumentieren. Er ist alles andere als ein ungehobelter »Gewaltherrscher« (Osterkamp 2010, 246). Pamfilia wird in ehren zu einem echten gespräch auf augenhöhe empfangen. Er ist überzeugt als ein »gesandter« einer höheren gesetzlichkeit den besiegten härte zu vermitteln indem er ihnen das erschlaffende nimmt. Deshalb beeindruckt es ihn nicht als Pamfilia die »gnade« ins spiel bringt - eine kulturelle errungenschaft. Er ersezt den begriff durch den der weniger religiös festgelegten »milde«: sie sei dann berechtigt wenn sie nicht »sinn« verletze - wenn ihr das vom »recht« beabsichtigte nicht entgegensteht. Dies ist für ihn zugleich eine frage des eigenen überlebens: milde zu sein wo er es nicht darf würde ihn »morgen brechen«. Das ist konsequent gedacht: dem fug nicht zu dienen wäre ein versagen und das schicksal würde ihn dafür strafen. Hier pubertär über seine »phallische Härte« zu spotten ist für einen journalisten eine alltägliche · für einen germanisten aber eine peinliche fehlleistung (Osterkamp 2010, 248). Härte die zudem immer auch als härte gegen sich selbst gedacht ist (auch bei Ili: dass er sich der staats-räson beugen und den vertrauten begleiter Clelio opfern musste verdüsterte sein ganzes wesen) stellt für George nicht aus persönlicher vorliebe in jeder hinsicht eine zentrale kategorie dar. Im einundzwanzigsten jahrhundert mag ein in gesicherten und liberalen verhältnissen lebender professor härte für altbacken halten. Ob · wenn alle sie sich gänzlich abgewöhnt haben und niemand sie mehr sich und anderen zumuten will · unsere welt-krisen noch zu bewältigen sind ist aber noch lange nicht ausgemacht.
Ilis sendungsbewusstsein ist natürlich nicht einzigartig und findet sich ähnlich bei Robespierre · Lenin oder Himmler · was weder für noch gegen ihn spricht. Keinesfalls ist sendungsbewusstsein von vornherein ein freispruch. Doch dürfen eben die grossen unterschiede nicht übersehen werden:
George hat mit aller sorgfalt dafür gesorgt dass bei Ili nichts auf persönliche befriedigung · bereicherung oder ruhmsucht als triebfeder seines politischen handelns hindeutet. Es fällt Ili nicht einmal leicht seine rolle zu spielen (er zögert bevor er das bittgesuch für den tempel ablehnt) - Ili zielt vor allem nicht auf vernichtung (als selbstzweck) sondern auf erneuerung denn diese litterarische figur entsprang Georges zyklischem geschichtsbild. So wie er persönlich frei von jeglicher unbeherrschtheit ist · den jähzorn nicht kennt · »zu kühl zum hass« ist und beinahe einer maschine ähnelt · so frei ist sein politisches handeln von jeder gewalttätigkeit gegen menschen. Keinem und vor allem: keiner hat er je ein haar gekrümmt !
Ihn als »vernichtungsvirtuosen« (Osterkamp 2010, 247) zu dämonisieren beruht auf schludrigem germanisten-handwerk - oder auf obsession. Vernichten will Ili nur den tempel - die heutige germanistik kennt er ja nicht. Nicht vernichten sondern »härten« will er die priester · nicht gegen andere menschen. Im gegenteil: härte hat mit vitalität und leben zu tun. Ihre erfordernis ergibt sich daraus dass die priester »erschlafft« sind und ihre glut verloschen ist - weshalb sich sonst niemand aus der bevölkerung auch nur in der nähe des somit überflüssig gewordenen tempels blicken lässt. Weil sie härte erst wieder gewinnen müssen sind sie nicht fähig sich diesen status einzugestehen. Der brand ihres geliebten tempels ist mittel zu diesem zweck denn nichts härtet besser als ertragenes leid. Selbst die handelsherren müssen nicht sterben: als alternative wird ihnen der verzicht auf ihren egoismus angeboten.
Nicht maschine sondern sehr mensch war hingegen Ilis »einziger vertrauter« Clelio der von Stefan George deutlich als kontrastfigur eingeführt wird: sein untergang ist nicht wie Osterkamp missverstehen will von George als folge seiner »Anfälligkeit für Weiblichkeit« (2010, 246) gestaltet. Solch misstönendes gekrächz dürfte selbst an Ilis barbarenhof die ewige verbannung nach sich gezogen haben. Nur die deutsche germanistik feiert jeden noch so unbeholfnen stammler.
Clelio aber starb weil er sich vom feind mit gold und sex bestechen liess - und Ili ist nicht konsequenter als heute Selenski. Korruption lässt sich mit Ilis ethischem anspruch an politische oder militärische führung nun einmal nicht vereinbaren. Er gibt dem ehemaligen freund dennoch - so menschlich wie ritterlich - die möglichkeit zum freitod. Und selbst das ist gerade nicht - Osterkamp kann einfach nicht lesen - als »Befehl« (ebd.) sondern von George mit einigem aufwand ausdrücklich als »bitte« gestaltet. Und selbst dazu ringt Ili sich erst nach drei tagen bedenkzeit durch: lieber hätte er den Clelio wol ganz verschont. Der könnte sogar fliehen - aber in Ilis welt haben selbst die verbrecher noch anstand und halten ein gegebenes wort. Ili ist feinfühlig genug um seitdem schwer darunter zu leiden dass er seine persönlichen wünsche dem politisch oder geschichtlich gebotenen unterordnen musste.
Ein ähnlich schmerzliches opfer verlangt er - und weil er es selbst erbrachte mit grösstem recht - auch anderen ab. Den politischen (und unangebracht überall mildernden) einfluss seiner mutter als »gefährtin und beratrin« beendet er durch ihre ehrenhafte verbannung in ein nahe gelegenes kloster. Ein echter »Gewaltherrscher« hätte missliebige familienangehörige und hochverräter einfach umgebracht. Aufgabe eines germanisten wäre gewesen Ili vor der verwechslung mit Kim Jong Un zu bewahren. Stattdessen führt er sie erst gezielt herbei: Osterkamp ist ein germanist der versagt.
Ili jedoch zeigt dass seine wertschätzung der milde viel mehr als rhetorik ist und zögert auch nicht sich mit dem kloster einer kulturstätte der besiegten zu bedienen. Das deutet nicht nur auf persönliche grösse sondern ist ein weiterer hoffnungsvoller fingerzeig dafür dass die entwicklung immer wieder in richtung der kultur gehen wird. Wie schlecht muss man lesen · wie verbohrt muss man sein um dieses zukunftsfrohe gedicht als einen »Text von stupender Inhumanität« (Osterkamp 2010, 245 - und nochmal genauso in OF 2010, 13) misszuverstehen ! Mit genau derselben formulierung hatte Osterkamp übrigens schon den ganz anders gearteten Algabal gegeisselt (2005, 242). Vor lauter besessenheit scheint ihm der überblick über seine austauschbaren leerformeln manchmal abhanden zu kommen.
Als die mutter vergleichbar mit Pamfilia eine ethische argumentation beginnt und auf eigentlich sehr geschickte und eindrucksvolle weise die tugend der dankbarkeit anspricht entgegnet er ganz ähnlich: von einer so gearteten moral geleitetes handeln wäre gleichbedeutend mit seinem verderben. Selten hat George ein so ergreifendes bild weiblicher mütterlichkeit (es gibt auch andere mütterlichkeit · vergleiche 113) gezeichnet wie hier wo die alte frau sich erinnert wie sie ihren sohn vor den wölfen rettete und wie ihr keine mühe zu schwer war ihn als kind täglich aus engem felstal die berge hinaufzutragen · wol wissend dass nur das licht der sonne ihm stärke und glück verleihen würde. Der mutter so viel raum zu geben · eine solche kampagne für weiblichkeit und mütterlichkeit zu führen wäre für den verlauf der handlung nicht erforderlich gewesen. George hätte die mutter auch als einfach nur nervendes klageweib schnell abwickeln können. Ilis mutter ähnelt übrigens der Georges. Sabine Lepsius berichtet dass Eva George »eine herbe, opferbereite Mutter« gewesen sei »die zum Beispiel ihre drei Kinder umschichtig täglich den Berg herauf in die Sonne trug, die ihnen nach überstandener Krankheit Heilung bringen sollte.« (1935, 41) George selbst gab ihr im KINDLICHEN KALENDER T02 züge der Hildegard von Bingen.
In diesem zusammenhang hat eine aussage Ilis viele interpreten sehr verunsichert: Die stimme einer frau habe nur »in der zeit der zelte und der züge« ihr recht. Nicht aber später - nach den errungenen siegen - »im palast«. Dabei ergibt sich das richtige verständnis der vermeintlich misogynen aussage aus dem kontext heraus ganz einfach und folgerichtig: Um die herrschaft - den palast - kämpfen in der zeit der züge viele. George denkt eben doch ganz offensichtlich stark vom modell der völkerwanderungszeit her und lässt Ilis volk nicht zufällig unscharf die »Heunen« · Ili aber ausdrücklich einen »Hunnen« nennen. Nur der sieger unter diesen nomadisierenden völkern - der besitzer des eroberten festen »palasts« - darf sich als vollstrecker eines höheren willens wähnen. Dann aber - erst dann · für den kurzen moment der vernichtung (oder vitalisierung) des besiegten alten - ist es sein recht wie seine pflicht in einem vollkommen rationalen akt und »zu kühl zum hass« alle auf milde · gnade und moralische orientierung zielenden tendenzen in die schranken zu weisen. Den weiblichen einfluss auf die politik deshalb für eine zeit auszuschliessen - und dem weiblichen ganz nebenbei damit vornehm zu ersparen sich hände und seele schmutzig zu machen - hat überhaupt nichts zu tun mit einer von Osterkamp behaupteten errichtung »des Neuen Reichs der reinen Männlichkeit« (2010, 251) in dem alle frauen der »Exorzierung von Weiblichkeit« zum opfer fallen (2010, 248). Dann hätte die für Ilis überleben und damit für das weltgeschichtliche geschehen völlig unverzichtbare rolle dieser mutter im NEUEN REICH doch gerade keinen platz erhalten dürfen !
Für die sich anschliessende kulturelle entwicklung gilt die frau bei George erst recht als unentbehrlich. Da passt kein blatt papier zwischen ihn und den Goethe der »Iphigenie« - nur ist kultur eben nicht jederzeit der höchste wert. Aber niemals würde der barbar Ili das andere geschlecht so hemmungslos verhöhnen wie es der barbar Thoas sich ungestraft erlauben darf: »Sei ganz ein Weib und gib/ dich hin dem Triebe, der dich zügellos/ ergreift« (V. 465ff.). Und diesem Thoas lässt Goethe als moralischem sieger das lezte wort - ohne von Osterkamp dafür je gerügt zu werden. Freilich ist Thoas zulezt nicht mehr so böse - aber Ili war es schon zu beginn nicht. Das ist bezeichnend: Osterkamps irrationale obsession gegen George hat eben spezifische wurzeln wie sie bei Goethe nicht vorliegen. Und dieser obsession opfert er die elementarsten regeln philologischen arbeitens: »alle alten Tempel« setze Ili in brand · »alle alten Ordnungen« reisse er nieder · »alle alten götter« stürze er. Und »Geissel Gottes« lasse er sich nennen - das macht den leser glauben er steuere gar die medienpolitik wie Stalin (2010, 245f.) Es klingt beeindruckend aber nichts davon ist wahr. Kein erstsemester dürfte philologisch derart schlampig arbeiten. Osterkamp aber schlampt nicht - er verfälscht wissentlich und um der dramatisierenden wirkung willen. Ili nennt sich selbst »Geissel Gottes«. Die »Geissel Gottes« ist kein mörder sondern der arzt. Geisseln töten nicht - sie sind ein instrument der vom höchsten »recht« geforderten busse. Dass Ili alle ordnungen einreisst wird bei George nirgends behauptet - man hört allenfalls von einer aufgerissenen strasse. Ein einziger tempel brennt. Kein einziger gott wird gestürzt - nicht einmal eine statue. Das wäre - und das ist wichtig - ja auch gar nicht nötig denn die alten götter sind kraftlos geworden (wie alle götter wenn der glaube nachgelassen hat). Der besiegte staat ist wie ein organismus verwelkt. Man kann es leider nicht anders sagen: Osterkamp zeigt hier keine ahnung von Georges geschichtsbild. Natürlich kennt er es. Aber er braucht die dämonisierung von Ili-George. Denn das brutale Ili-bild zielt allein auf George · den ebenso brutalen vernichter der moderne.
So wie Ili nur symbolisch ein zerstörer ist kündigt sich aber bereits unter seiner herrschaft auch ein neuer kreislauf · der erneute aufbau von kultur an. Das macht Stefan George schon im ersten satz des gedichts klar: die pflastersteine der handelsstrassen werden zwar aufgerissen - aber es wird auch gras gesät (eine eindeutige geste ! Der blosse zerstörer hätte es sich selbst aussamen lassen) · ein erster schritt. Sein heer »hält er in zucht«: wilde ausschreitungen der soldateska gibt es schon nicht mehr. Nicht gewalt ist mehr grundlage des ihm von seinem volk entgegengebrachten gehorsams sondern das hohe ethos das er sich selbst auferlegt (und dessen verfall stets zeichen einer kultur im niedergang ist) wenn er »mässig« (für die mehr luxus gewöhnten priester sogar »dem bettler gleich«) lebt und sich als »schlichter kriegsgenoss« denselben gefahren aussezt wie seine soldaten. Auch erste religiöse rituale haben bereits begonnen. Das gibt sogar den priestern eine tröstliche perspektive: In fünfhundert jahren werde der tempel neu entstehen. So ist der lezte satz die fortführung des ersten: auch die mit der aussaat des grases begonnene kultur wird eine blütezeit erleben.
Pamfilia aber - Georges Iphigenie - ist die tragische heldin in diesem schauspiel. Osterkamp sieht in ihr lediglich das opfer von Ilis brutalität. Schlimm weil ihm dadurch entgeht dass sie als autonome persönlichkeit in den selbst gewählten tod geht: sie hat in dem aussichtslosen kampf gegen das schicksal ganz gewiss nicht versagt und könnte in ehren zu ende leben - aber es kommt ihr darauf an den priestern ein vorbild zu geben: es gilt den stolz zu bewahren. Sie sei gestorben - so erklärt es der Älteste - weil sie es nicht ertragen wollte vor dem gegner als flehende bittstellerin aufgetreten zu sein. Mit ihrem stolzen »hochgemuten herz« und ihrer opferbereitschaft erfüllt sie gerade die charakterlichen ansprüche Georges und lässt sogar Iphigenie alt aussehen. Osterkamps lieblingswort von der »ethischen superiorität« (die George angeblich immer nur männern oder sich selbst zuschreibe) könnte hier einmal mit recht verwendet werden. Aber Pamfilia ist dem sonst so gern moralisierenden germanistikpapst kein anerkennendes wort wert: zuzugeben dass George ausgerechnet im angeblich frauenlosen NEUEN REICH eine solch strahlende frauengestalt geschaffen hat würde das mühsam zusammengebastelte zerrbild von diesem autor und seinem lezten grossen werk ad absurdum führen. Wie gebannt starrt der virtuose der dämonisierung nur auf Ili und schiebt dessen »Annihilierungsblick« ( ! ) auch noch die schuld am tod ihrer mägde in die schuhe. Dabei hat der ja nicht einmal Pamfilia in den tod gezwungen. Die mägde aber sterben weil das die treue gegen ihre charismatische herrin demonstriert der sie dienen: anders als bei all den korrumpierten männern · dem mutlosen adel · den geldgeilen händlern und den giftigen eiferern hat Stefan George die welt der frauen noch als intakt gezeichnet. Sie müsste all den männern · den dekadenten verrätern der kultur die schamröte ins gesicht treiben. Nur indem Osterkamp über beide frauengestalten - Ilis mutter und erst recht Pamfilia - lieblos und unsensibel hinweggeht · sie für seine zwecke missbraucht · in ihrer eigenständigkeit sie aber gar nicht wahrnimmt kann der unsinn im spiel bleiben: Georges NEUES REICH sei eine "Welt, in der es keine Frauen gibt" (in OF 2010, 13). Die frauen aber um die Osterkamp so effektvoll seine tränen vergiesst interessieren ihn doch gar nicht. Er selbst ist es - nicht George - der "die Auslöschung von Weiblichkeit" (ebd.) auf dem gewissen hat.
Ray Ockenden bietet im Werkkommentar 2017 eine ganz unaufgeregte interpretation des kleinen dramas (621-7) in der er zeigt wie differenziert George die einzelnen priester gezeichnet hat und welchen »grundsätzlichen einwand« (624) Ili gegen sie vorbringt. Er kann als Ilis eigentliche botschaft verstanden werden. Den kern seines handelns sieht Ili nämlich im befreien: »vom wust«. »Wust« ist das funktionslos gewordene (und natürlich auch das immer schon überflüssige): »götter die euch nicht mehr helfen« und »bücher bilder die euch nicht mehr heben«. »Wust« ist deshalb auch der tempel der solche bücher und bilder birgt. Sie haben nur noch musealen charakter und wirken nicht mehr. Sie loszuwerden ist gewinn - und fällt doch unendlich schwer · nicht nur den priestern. Ilis zentraler vorwurf den Ockenden meint zielt auf die intellektuelle schwäche der priester: »Ihr wisst nicht was euch nüzt«. Ili weiss es: alles loszuwerden was nicht »hebt«. Was uns »heben« kann und was mit »heben« gemeint ist zeigt eigentlich Georges ganze dichtung - und sie ist es auch selbst. Weil sie ein höheres lebensgefühl vermittelt haben sich so viele ihr geöffnet und sind bei ihr geblieben.
So lässt sich der erkenntnis-vorsprung ermessen den Ili auch vor Pamfilia hat die sich lieber umbringt als Ilis wahrheit auch nur zur kenntnis zu nehmen · geschweige denn ihm dafür auch noch zu danken. Der vorwurf wiegt nicht allzu schwer: auch die klügere Kassandra war ihren Troern keine rettung mehr. Dass Ili die intellektuell ähnlich den priestern nicht mehr Zeitgemässe nicht als ihm ebenbürtige partnerin akzeptieren kann (was er sich vielleicht sogar noch offenhielt als er sie »gleich einer königin« empfing) ist folgerichtig. Ihr tod den abzuwenden ihr die einsicht fehlte ist es auch. Die Troer gingen ähnlich ehrenhaft unter - nur intellektuell waren sie den Griechen nicht mehr gewachsen.
Ockenden zeigt wie stark sich die diskussion der forschung um die frage drehte ob sich George selbst mit Ili identifizierte. Angesichts der dargestellten botschaft Ilis und ihrer unermesslichen bedeutung für eine konsumgesellschaft · angesichts der ähnlichkeit der mütter Ilis und Georges · und natürlich auch weil beide künder der erneuerung keine frau an ihrer seite haben kann kein zweifel bestehen dass diese identifikation tatsächlich weit geht. Vielleicht ist sie nicht unbegrenzt. Der älteste priester scheint ganz zulezt einen verborgenen hinweis zu geben: »jener Hunne« . . würde dann wol die neue kultur nicht errichten und hätte im grunde seine funktion bereits erfüllt. Denn nach Attilas tod (es wäre fast geschmacklos hier auf dessen nähere umstände einzugehen) verschwanden die Hunnen aus der mitte Europas · die katalysatoren der veränderung · ohne nennenswerte spuren zu hinterlassen. Der gar nicht so radikale neuanfang wurde von anderen kräften geleistet. Dann wäre Ili weit davon entfernt von George in ein absolutes recht gesezt worden zu sein. Indem ihm eine erziehung der starrsinnigen Besiegten misslingt - und dadurch auch die vielleicht beabsichtigte verschmelzung (worauf sein insgesamt doch zur schonung der Besiegten neigendes vorgehen deutet) ist er sogar schon ein scheiternder - auch darin George ähnlich. Ganz offensichtlich sollte er Georges gedanken der »friedlichen Durchdringung vom Geistigen her« erproben den George 1919 alternativ zur umfassenden vernichtung als voraussetzung der erneuerung formulierte (E. Landmann 1963, 70).
Vielleicht aber will der gottesmann angesichts des erschütternden tods seiner liebenswerten Herrin den in seinen augen schuldigen nur schmähen. Der begriff »Hunne« war nach Wilhelms hunnenrede von 1900 im weltkrieg · als das gedicht entstand · zum schimpfwort für die Deutschen geworden (und blieb es noch im zweiten) und man darf womöglich erwägen ob Ili mit diesem wort nicht beinahe zum Deutschen · gar zum alter ego Georges wird.
Womöglich kann der älteste priester mit seinem begrenzten verstand den Ilis worte nicht erreichten auch einfach nicht begreifen dass der junge herrscher mehr als ein Hunne ist - und Morwitz’ kommentar der Ilis hunnentum bestreitet und auf die herkunft der »Heunen« von den hünen · den riesen verweist lag ihm ja nicht vor. Geschichte lässt sich nicht vorhersagen: man weiss es eben nie im voraus wer nur Hunne ist. Es ist aber auch gar nicht das wichtigste.
Das sind Ilis worte. Sie sind der grund dass der brand dieses tempels mehr ist als die meisten der von Parzinger beschriebenen schändungen. Sie nicht zu hören bedeutet den eigenen untergang. So ist der BRAND auch eine lezte warnung.
Ilis worte mögen darüber hinaus ausdruck jenes »Vernichtungsblicks auf die Moderne« sein den Osterkamp seinem autor zuschreibt (H 2016, 215). Man kann ihm ja auch einmal recht geben. Aber dass die moderne - würde sie ihren wust nur aufgeben - überleben dürfte hat Osterkamp nicht gesehen. So dünkelhaft wie der priester · der Ili trotz seines sieges nicht ernst nimmt und als minderwertigen Hunnen unterschäzt ignoriert Osterkamp starrsinnig was George-gedichte zu sagen haben: »eine Botschaft haben sie nicht« (2002, 43).
DER BRAND DES TEMPELS hatte übrigens einen vorgänger: DIE BRIEFE DES KAISERS ALEXIS AN DEN DICHTER ARKADIOS T051. Hier haben nicht die hunnen das land erobert aber die skythen stehen schon an der grenze des augenscheinlich kleinasiatischen reichs. Alexis ist sein schwacher jugendlicher herrscher. Die wahre macht liegt bei seiner mutter - der "Augusta". Ihr aber fehlt gänzlich die warmherzige fürsorglichkeit von Ilis mutter. Unberührt von der verzweiflung ihres sohnes sezt sie durch dass Alexis' freund Eumenes - das pendant zu Clelio - wegen einer angeblichen respektlosigkeit sterben muss. Das prosastück entstand spätestens 1893. Im viel jüngeren BRAND DES TEMPELS wird die mutter des herrschers - in den BRIEFEN noch eine art Katharina von Medici - nun zum inbegriff elterlicher fürsorglichkeit und unverdientermaassen zum opfer männlicher unerbittlichkeit.
Bei George nehme die misogyne tendenz von jahr zu jahr · von band zu band zu: was Osterkamp seinen lesern wieder und wieder einzutrichtern versucht beruht allein auf seiner selektiven wahrnehmung. Ein vergleich des BRANDS mit den BRIEFEN belegt genau das gegenteil.
93 SPRÜCHE AN DIE LEBENDEN 9301-43
9301 wartend am kreuzweg stehst du in schweben:
9302 Da das zittern noch waltet
9303 Tauch hinab in den strom
9304 Freu dich an dem wert der gabe
9305 Solches bleibt nunmehr zu tun:
9306 Liebe freilich nennt kein maass
9307 Wenn es dein geist von selbst nicht finde
9308 Rätsel flimmern alt und neu
9309 A. I
9310 A. II
9311 A. III
9312 B. I
9313 B. II
9314 B. III
9315 W, I
9316 W. II
9317 W. III
9318 P.
9319 G. R. H.
9320 H. M.
9321 L. I
9322 L. II
9323 F. W.
9324 J.
9325 E.
9326 R. . .
9327 S. . .
9328 A. VERWEY I
9329 A. VERWEY II
9330 A. VERWEY III
9331 A. VERWEY IV
9332 A. VERWEY V
9333 M.
9334 DER TÄNZER
9335 B. v. ST. I
9336 B. v. ST. II
9337 DER HIMMEL
9338 DER SCHLÜSSEL
9339 LEIB UND SEELE
9340 DER WEISHEITSLEHRER
9341 ERZIEHER
9342 BELEHRUNG
9343 ZWEIFEL DER JÜNGER
9344 Lang ist gang in gleicher spur:
94 SPRÜCHE AN DIE TOTEN 941-8
941 Wenn einst dies geschlecht sich gereinigt
942 HEINRICH F.
943 WALTER W.
944 WOLFGANG
945 NORBERT
946 BALDUIN
947 BALDUIN
948 VICTOR · ADALBERT
95 DAS LIED 9501-12
9501 Welch ein kühn-leichter schritt
9502 DAS LIED
9503 SCHIFFERLIED
9504 Horch was die dumpfe erde spricht:
9505 SEELIED
9506 DIE TÖRICHTE PILGERIN
9507 DER LEZTE DER GETREUEN
9508 DAS WORT
9509 DIE BECHER
9510 DAS LICHT
9511 In stillste ruh
9512 Du schlank und rein wie eine flamme
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