6  DER TEPPICH DES LEBENS 
UND DIE LIEDER VON TRAUM UND TOD · MIT EINEM VORSPIEL

61  VORSPIEL 6101-24

 
62  DER TEPPICH DES LEBENS 6201-24 
63  DIE LIEDER VON TRAUM UND TOD 6301-24

erschien ende 1899 in einer wieder von Melchior Lechter gestalteten prachtausgabe die bei Otto von Holten in Berlin dreihundertmal in rot und schwarz auf bütten gedruckt wurde. Enthalten waren die drei im titel genannten bücher aus je 24 gedichten · jedes in vier strofen · jede strofe mit vier versen. 

Die öffentliche ausgabe kam bald danach - datiert auf 1901 - in die buchläden wo sie bis 1932 zweiundzwanzigtausendmal verkauft wurde.Ein leztes mal war eine öffentliche ausgabe mit einer widmung versehen: 

          MELCHIOR LECHTER 

Da diese allgemeine ausgabe den schmuck der ersten entbehren muss: zu den kostbaren einfassungen die bilder des über wolken thronenden engels · der lebenergiessenden blumen und der harfe in der hand der lezten leidenschaft: so sei es mir vergönnt den erlauchten namen vor diese seiten zu schreiben der mit ihnen so eng verbunden ist und der sie auf immer ziere.

61  VORSPIEL 6101-24

6101 I Ich forschte bleichen eifers nach dem horte

Der engel mit seinen frischen rosen ist es der den bleichen sprecher aus dem bekannten grübeln über seine kümmernisse holt - wobei sich allerdings die frage stellt ob der engel ohne dieses grübeln auch erschienen wäre · ob das erscheinen also gewissermaassen herbeigezwungen wurde · ähnlich wolverdient wie einst der auftritt der muse in 101. Nun aber wird »ich« sogar ganz unverblümt an den beginn gestellt und damit schon ein hinweis auf den entscheidenden auslöser gegeben. Der augenblick der engels-erscheinung scheint eine zeitenwende zu markieren und einige gedichte des VORSPIELS könnte man schon auf das künftige Kreis-geschehen beziehen - doch wie bei so mancher zeitenwende bietet die zweite hälfte auch anzeichen von stagnation und rückwärtsbewegung - bis hin zu den klagen der einsamen seele. Denn der himmelsbote ist höchstens ein deus ex machina und gehört in eine reihe mit der muse · der seele oder Algabal (der allerdings nicht entstand um mit dem sprecher zu kommunizieren): er ist eine figur der selbstverdopplung Georges (das hat natürlich schon M gesehen) und dass seine stimme der des sprechers ähnelt und er nicht gekrönt ist und beide fast wie spiegelbilder sich gleichzeitig beugen soll geradezu darauf hindeuten. Auch Melchior Lechter hatte das schon so verstanden und ihm in seiner unverhüllten nacktheit männliche geschlechtsmerkmale gegeben (im SIEBENTEN RING). Wenig engelsgleich ist auch das eher menschliche missgeschick: die blumen entfallen ihm. Man mag einwenden dass es sich nicht um ein wirkliches versehen handelt - eher um einen trick um den kuss (freilich nur insgeheim · sozusagen unterhalb der tischkante) herbeizuführen der an den musenkuss anknüpft. Dabei würde das die these nur unterstützen: wer so mit verstellung und täuschung vorgeht soll gar kein engel sein wie man ihn sich gemeinhin vorstellt. Das wichtigste aber: die von ihm überbrachte botschaft ist gerade keine himmlische sondern eine sehr irdische. Es ist die einladung des schönen lebens das sich anschickt die stelle des (eigentlich hinter einem engel stehenden) Göttlichen einzunehmen und sich deshalb eines engels samt mandelblüten lilien und rosen bedient - in der sakralen tradition geläufige symbole (mehr einzelheiten dazu bei Zhou 2021, 56). Und die bereitschaft zur annahme der einladung dieses lebens-filosofischen Höheren ist hier deutlich erkennbar. Denn so wie er schon zu beginn die muse als seiner menschlichen stütze bedürftige konstituierte lässt George diesmal den engel vor dem sprecher knien - der ist natürlich gleich »beglückt« und lässt sich die gelegenheit zum kuss nicht nehmen: spiegelbild auch hier.

Lässt sich die antwort auf die frage nach dem schönen leben in Georges gedichten finden? Oder gar in seiner biografie? Für Morwitz ist es das "erhabene und erhebende Leben" · genau so sieht es Graf Vitzthum wenn er dabei ganz konkret wird: "dieses stolz gelebte, schöne Leben" habe Berthold von Stauffenberg geführt (2024, 153). 

Es wäre noch schöner gewesen hätte es länger als neununddreissig jahre gewährt. Seiner erhabenheit freilich konnte der frühe tod in Plötzensee zumindest keinen abbruch tun.

6102 II Gib mir den grossen feierlichen hauch

hauch und glut : ein gewissermaassen göttlicher anhauch · luftzug oder gar wind und die von George oft angesprochene begeisterungsfähigkeit als bedingungen einer hier als feuer vorgestellten stimmung die es schon dem kind ermöglichte in der hingabe an etwas grösseres den alltag zu überschreiten (der »opferrauch« ist sichtbares zeichen) · hier die bestätigung dass der sprecher künftig dem schönen leben angehören möchte der sich jezt noch in »dunkler kluft« wähnt · ganz unten am boden einer tiefen schlucht.

In ähnlich selbstbewusstem ton geht es weiter. Wie eine forderung wird die bitte um nicht weniger als eine erneuerte jugend vorgetragen · die wie die erste durch hauch und glut geprägt sein soll. Das ist wahrlich mehr als eine »krume« ! Und wer von »flügelschwüngen« träumt kann nicht zugleich wünschen künftig eingeschlossen zu leben - und sei es in einem heiligtum. Niemand soll sich täuschen und die unterwerfungsgesten der zweiten strofe für bare münze nehmen. Der engel jedenfalls kommentiert die unausgewogene antwort mit feinem spott und weist den anmaassenden ton zurück. Wie er mit der körperlichen gewalt fertig wird die nun seinen segen erzwingen will wird nicht gezeigt - doch muss es zu einer einigung gekommen sein. 

Die wenig souveräne haltung des sprechers sollte nicht zu stark irritieren. Sie ist diktiert von seiner einsamkeit und der sorge die gunst des engels wieder zu verlieren. Vielleicht hätte darüber hinaus auch manch anderer der unter der vorstellung leidet in seiner jugend · zu lange fruchtlos nach orientierung suchend · jahre verloren zu haben den kindlichen wunsch empfunden die zeit noch einmal zurückdrehen zu können.

6103 III  In meinem leben rannen schlimme tage

hader : streit

zum gelobten port : zum versprochenen ziel (eigentlich hafen)

Dankbarkeit und unterordnung kennzeichnen die strofe. Hatte sich der sprecher zuvor noch in kindlicher weise eine art gabentisch vorgestellt ist der gewinn nun ein viel grösserer: wenn die alte niedergeschlagenheit zurückkehrt setzt ihr der »gute geist« eine aufbruchsstimmung entgegen. Wenn von allen seiten gefahren drohen (die hier ein wenig an die Odyssee erinnern) oder das wetter die glückliche fahrt zu gefährden scheint greift er siegreich ein · Poseidon und Zeus aber auch Jesus zugleich. Antimodernes und antiliberales denken zeigen sich hier erstmals in aller deutlichkeit und vor allem: in einer grossen schönheit.

6104 IV  Zu lange dürst ich schon nach eurem glücke.

palmen : in christlicher tradition ein symbol des friedens. Besonders in 6106 wird deutlich dass der engel dem sprecher frieden brachte. Dass er diesen frieden nun zurückgeben möchte ist zeichen seiner verwirrung.

Herrschaft und dienst werden auch in dieser strofe nicht dauerhaft in frage gestellt. Die erneute unterordnung beruht nun aber weniger auf argumenten sondern auf der zauberischen steuerung der gefühle. »Bann« ist der richtige begriff dafür. Des engels geste - der erhobene finger - verweist auf eine natürliche autorität · sein »ton« ist so bestimmend wie es die gesänge der sirenen waren · und sein blick ähnelt dem des auferstandenen Jesus als er am See Genezareth (in seiner »heimat« Galiläa) den Petrus nach seiner liebe zu ihm fragte (Joh. 21,15). Der sinn des biblischen zitats ist ein doppelter: auch Jesus hatte damals die jünger die sich für ihr verhalten schämten nur freundlich behandelt und auf jede zurechtweisung verzichtet. Und wenn der engel den sprecher fragt wie Jesus den Petrus fragte macht er ihn damit zu seinem lieblingsjünger und stellvertreter.

Davor aber steht das kurzfristige aufbegehren des sprechers der zunächst einen menschen anspricht den er zu lieben glaubt nachdem er ihm »am weg« erschienen war und an dessen brust er nun die stirn schmiegen möchte. Das wäre »euer glück« · das glück der vielen das ihm für einen augenblick der schwäche nun doch auch erstrebenswert erscheint - mehr als der »einsame dienst« den der engel abverlangt und dessen herrschaft nun ein »joch« genannt wird. Es ist das trügerische glück dem der sprecher in den HÄNGENDEN GÄRTEN · in NACH DER LESE und in WALLER IM SCHNEE nachgejagt war. Das erste auftreten des engels muss demnach sehr früh gedacht werden - in der zeit der PILGERFAHRTEN oder der drei BÜCHER vielleicht. 

Verblendet fordert der sprecher statt des jochs · des diensts für den engel nun »freiheit« und würde dafür alle auszeichnungen hingeben die ihm der engel als hoffnungsvolle zeichen einer neuen morgendämmerung bereits verliehen hat. Aber nach nur zwei strofen erweisen sich die grossen worte als hohl und leer und sind schnell wieder vergessen - wie auch die menschliche erscheinung am weg. Dass der sprecher ohne das eingreifen des engels die versuchung vielleicht nicht bestanden hätte wird in VI noch einmal aufgegriffen. 

Eine andere deutung hat neuerdings Congshan Zhou in ihrer dissertation vorgeschlagen (2021, 69f.). Sie sieht in der ersten strofe eine absage an das christentum und mit »du« den engel · in der fünften zeile mit »Er« hingegen den christengott bezeichnet. Denn dieses »Er« steht nicht in versalien wie das »ER« das den engel meint. Andererseits kann das fehlen der versalien darauf beruhen dass der engel in der fünften zeile im unterschied zur neunten ja gerade nicht als autorität anerkannt wird · zudem sind die versalien auch in der zehnten zeile nicht gesezt. Auch hat sich George sonst nie als ein unter dem joch der christlichen religion leidender dargestellt. Vor allem kann Zhou den tadelnd erhobenen zeigefinger nicht erklären mit dem der sprecher »zurück«gelenkt wird. Schliesslich hinge die dritte strofe von VI mit dem vorwurf der verleugnung in der luft.

Sabine Lepsius in deren räumlichkeiten Georges berühmt gewordenen lesungen aus dem TEPPICH stattfanden verstand das gedicht »als eine unerbittliche Forderung, wie das Schwingen einer Fahne, der nicht zu folgen wie Verrat war.« (1935, 43)

6105 V Du wirst nicht mehr die lauten fahrten preisen

Mit dem TEPPICH liegt der bereich der jugenddichtung hinter uns. Das zeigt sich recht eindeutig im fünften gedicht des VORSPIELS wo der engel zum dritten mal spricht · den gefährlichen und weiten reisen ein ende sezt und für die reize der deutschen heimat wirbt: den im frühling milden und später kühlenden wind (im gegensatz zu den stürmen der ausländischen reiseziele hier als kindlich stammelnder »hauch« bezeichnet) - also das gemässigte klima - und die scharfen linien der rebhänge die an germanische runen und damit an die faszinierende eigene geschichte erinnern. Die antwort des sprechers klingt brav · richtet sich aber gar nicht an den engel sondern an die wellen des Rheins und beschwört mit der anspielung auf den nibelungenschatz erneut die eigene geschichte. Venedig und Rom seien nicht mehr so lockend wie die heimischen eichen · reben und jene schon in der romantik besungenen wellen als das deutsche nationalbewusstsein erwachte und von nun an auch bei George eine zunehmend grössere rolle spielen wird. 

6106 VI  Entsinne dich der schrecken die dir längst

blick : in 6104 hatte ein kurzer augenblick genügt und schon war der sprecher bereit sich vom engel loszusagen.

dein ruf der qual : die abkehr vom engel wäre einem freiwilligen herbeirufen erneuter qual gleichgekommen.

herde : der brandopferaltar. Hier ist das aufbäumen des opfertiers ein hinweis darauf dass dem priester des tempels nichts mehr gelingt. 

purpur : M denkt an einen purpurfarbenen vorhang im tempel

der säulen knauf : die kapitelle der tempelsäulen

wankte lichterloh : form der verkürzung für »wankte und brannte lichterloh«

In diesen worten des engels wird dem sprecher sein in 6104 geäussertes aufbegehren doch noch vorgehalten. Die ersten strofen fordern dankbarkeit ein · die lezten erinnern indem sie seine damaligen worte zitieren an die bereitschaft des sprechers "lehre und altar" des engels zu verleugnen - die formulierung gibt dem schönen leben den wert einer neuen religion. Und sie malen fast genüsslich ein eindrucksvolles bild in dem der abtrünnige sprecher als priester eines heidnischen tempels erscheint der beinahe untergegangen wäre. In erster linie aber zielt das gedicht gegen die liberale idee der individuellen selbstbestimmung: in grösserer freiheit hätte der sprecher nach jenem augen«blick« die falsche entscheidung getroffen und wäre gescheitert. 

Schon in 6103 fanden sich anklänge an 5210 die eine beziehung zum SIEG DES SOMMERS 53 nahelegten. Hier aber soll der unterschied ins auge fallen - die schöneren strände meinen gerade nicht dasselbe. Aus der welt des schönen lebens sind die durch leidenschaftlichkeit geprägten "trocknen sommer" verbannt die nur in die "heimatlosigkeit" des aussenseiters führen: sie werden nun als fruchtlos erkannt und durch den vom engel vermittelten seelen-"frieden" im sinne der stoa oder auch Epikurs ersezt. Es liegt freilich auf der hand dass ein blosser willensakt die sache auf dauer nicht so leicht entscheidet. Noch beim späten George kann diese "ruh" (9511) jederzeit gestört werden - ohne dass darüber geklagt würde. 

6107 VII  Ich bin freund und führer dir und ferge.

ferge : fährmann. Der engel bekam schon in 6103 die züge eines schiffsführers.

schwärme : religiöse eiferer werden häufig als schwärmer bezeichnet. 

DER STERN DES BUNDES wird gern als eine art gesetzbuch des Kreises dargestellt. Wesentliche grundzüge erscheinen aber bereits im VORSPIEL und dort nirgends so eindrücklich wie im siebenten gedicht. Hier ist es noch der engel der sie erstellt während der sprecher als jünger erscheint. Die erste strofe verlangt innere distanz zu allen vorgängen in der mehrheitsgesellschaft. Sie zu beobachten ist erlaubt - sich (mit ganzem einsatz) daran zu beteiligen nicht. Die siebente und achte zeile formulieren in imperativischer form das motto dieser durch ruhelose fortschrittsgläubigkeit (»traben«) und beständige lautstärke (der industriellen arbeit und der aufwendigen vergnügungen) geprägten gesellschaft: das gegebene zu erforschen und wirtschaftlich zu nutzen und sich die irdische welt unter grossen mühen zum paradies (im sinne einer vor allem konsumierenden lebensweise) zu machen. Neben dieser »weiten menge« gibt es längst nicht so grosse »schwärme«: in weihrauchnebel und freudlosem ernst laufen sie einem recht blass gewordenen heiland hinterher und beharren mit nur mehr geringer leidenschaft darauf dass die zeit des christentums noch immer nicht abgelaufen sei. Ausdrücklich klein ist schliesslich die dritte gruppe · sie folgt nicht linien des fortschritts sondern kreist in »bahnen« wie planeten. Und diese bahnen sind »still« und nicht »laut« wie die events der »menge« denen sie sich »stolz« verweigern. Das ideal ihres lebens sehen sie nicht in weiter zukunft sondern in der erneuerung des vergangenen: einer lebensform die von der griechischen antike herrührt. Dieses ideal - die formulierung in nur vier takten verleiht dem vers einen einzigartigen rang im VORSPIEL - wird »ewig« genannt - die kleine schar jedenfalls wird es niemals in frage stellen. 

Dass diese gruppe wachsen soll wird nicht proklamiert. Zu keiner revolution wird aufgerufen und zu keinem kampf. Auch das sind regeln. 

Schliesslich sollte noch einmal daran gedacht werden dass auch zulezt noch der engel spricht der zu beginn den normativen sinn seiner worte unterstrich: »Sollst du schaun«. Natürlich soll es beim blossen schauen nicht bleiben. Vielmehr legt der engel nahe dass sich der angesprochene für die dritte gruppe entscheidet. Wer sich fragt worauf die rede von »schönen leben« abzielt findet hier eine antwort: »Hellas«. 

6108 VIII  Du sprichst mir nie von sünde oder sitte.

denen weder lohn noch busse : das anschliessende verb ist ausgelassen so dass eine unschärfe entsteht.

Nun ist der sprecher nicht mehr nur der gefolgsmann des engels sondern das haupt einer gruppe von schülern deren frage nach dem wert der moral er ausführlich beantwortet: die kenntnis des sittlich gebotenen und des als sünde verworfenen müsse ihnen nicht gelehrt werden. Dafür nennt er zwei gründe. Dass sie »sprossen von geblüt« seien und »das edle« ohne mühen selbst erkennen (womit der im christlichen geläufigere begriff des »guten« vermieden wird) heisst im grunde: ohne eine sozusagen im blut liegende natürliche moralische befähigung wären sie gar nicht seine schüler geworden. Hinzu kommt dass die schüler das vorbild ihres lehrers so verinnerlicht haben dass er auch ohne seine anwesenheit die unsichtbare richtschnur ihres handelns sei. Die grosse idee der erwählten geistigen sohnschaft wird im lezten vers klar angesprochen - und »nach welchen Merkmalen der Dichter seine Schüler wählt« (M) wollen die drei lezten strofen zeigen in denen jeweils ein anderer schüler direkt angesprochen wird. 

»Schönes leben« ist mit der angst vor scham reue oder fluch nicht denkbar. Im denken des ersten schülers kommen diese begriffe gar nicht vor. Er wird sich aber niemals lustig machen über traditionelle ethiken (etwa die christliche) sondern sie »als märchen ehren«. Die ehrfurcht ist in Georges system fest verankert (wie schon das ganz frühe 0306 beweist) auch wenn sie das abgelebte nicht davor bewahrt überwunden zu werden. Wegen des in der untätigkeit der mittagsstunde still vor sich hinsinnenden gesichtsausdrucks wird dieser in sich gekehrte schüler geliebt. Ihm sei - meint M - später der junge Friedrich Gundolf  ähnlich gewesen sei.

Der zweite schüler zeichnet sich durch die bereitschaft aus das schicksal klaglos anzunehmen. M nennt das »ein Formen des Lebens entsprechend dem eignen Inneren«. Er vergisst nicht wen er als seine feinde ansieht aber ähnlich entschieden ist er auch in seinem lieben. Er teilt sein leben nur mit wenigen selbst auserwählten. Man könnte vermuten dass zulezt Victor Frank diesen typus verkörperte während man beim dritten natürlich an die brüder Stauffenberg denkt. Er zeigt die »völlige Unabhängigkeit von der öffentlichen Meinung«. Seine taten von denen er ausserhalb seines kreises - also vor all den unfreien menschen die sie in ihrem wahn nicht verstehen - gar nicht spricht beging er ohne dass die aussicht auf lohn oder strafe ihn beeinflussten. Die im ersten vers in verwundertem ton erfolgte feststellung ist die reaktion auf die ausgebliebene ethische bewertung dieser taten: der sprecher nahm sie nur achselzuckend und lächelnd zur kenntnis. Der zuerst angesprochene schüler muss diesbezüglich sehr gelehrsam gewesen sein · wenn er sich nicht schon von beginn an ähnlich distanziert zur gängigen moral verhielt. 

6109 IX  Nicht forsche welchem spruch das höchste lob

Kristalle : in Georges typischer manier nachgestelltes und verkürztes adjektiv zu »saat« · also »kristallene« oder »kristallklare«

Das gedicht führt die these aus dass verschiedene dichterische formen - sowol der singbaren wie der nur gesprochen vorgetragenen dichtung - nicht in absoluter weise beurteilt werden dürfen. Über lob und siegeskränze kann nicht ein- für allemal entschieden werden. Jede dichterische form kann ganz unterschiedlich in erscheinung treten: kristallgleich oder dunkel wie ein rubin · zart wie ein tautropfen oder lebhaft wie eine quelle. George dachte damals noch über die erneuerung des dramas nach und hatte folglich kein interesse bestimmte litterarische formen als nachrangig zu bewerten.

6110 X Verweilst du in den traurigsten bezirken

v. 5 : je länger der dichter sich dem licht des engels aussezt desto klarer wird ihm die antwort auf seine (anschliessend genannte) frage.

zagemut der väter : eine unsichere orientierungslosigkeit früherer dichter

Hier dagegen erscheint die in den mittleren strofen vom engel ausgeführte vielfältigkeit oder komplexität eher als eine gefährliche belastung gegen die er dem in seinem hain geweihten in den schlussversen ein motto als rezept verschreibt: die bedingungslose befolgung nur seiner form der dichterischen verkündigung. Sieht man den engel aber als alter ego des sprechers so bedeutet das gerade nicht die hingabe an einen anderen sondern die strenge verfolgung des eigenen wegs.  

Vielleicht wurde schon in der ersten strofe angedeutet worin sich die neue form des dichtens zu der der »ruf« des engels auffordert (und zwar so unwiderstehlich wie der leib zu »jeder lust«) unterscheidet. Die neue dichtkunst soll im gegensatz zu völliger untätigkeit (in schaffenskrisen) und jener der ersten gedichtbände »wirken« (womit die absage an das kreisen um sich selbst gemeint sein dürfte) durch das rühmen der »tat«. M dürfte recht haben wenn er unter den »starken« die »Täter« und unter den »bleichen« die »Geistigen« versteht. Freilich gab es ansätze zu solcher dichtung auch schon in früheren bänden: vielleicht in den PREISGEDICHTEN 42 und WIDMUNGEN 55 und bestimmt in den HIRTENLIEDERN 41.

6111 XI  Ihr bangt der Obern pracht nie mehr zu nennen

der Obern pracht nie mehr zu nennen : dichten (in dem ganz archaischen sinn dass dichten ein hymnisches rühmen der götter sei)

schal : abgestanden · nicht mehr frisch

Wie kinder weinen weil eine »selige stunde« allzu schnell vorbeiging · so sind auch künstler · die hier angesprochen werden · verunsichert ob ihnen nach glücklicher beendigung eines werkes · wenn ihnen nach langen mühen an einem neuen werk die schwere stirn schon mutlos zu sinken droht · überhaupt noch einmal die gunst der alles auslösenden inspiration der »Obern« zuteil werden wird die sich niemals erzwingen lässt. In diesem augenblick der beklemmung erscheinen den dichtern alle wörter abgeschmackt - befleckt als seien sie alle schon von der menge in den mund genommen · als seien selbst die süssesten schal weil jeder tor sie schon verwandte - und ein klagen und flehen beginnt bis die gefängnismauer bricht · ein silberner streif sichtbar wird und die stimme der Gottheit sich erhebt. 

6112 XII  Wir die als fürsten wählen und verschmähn

als fürsten : der scheinbar etwas anmaassende ton wird gemildert wenn man bedenkt dass »als« wie »wie« lediglich einen vergleich meinen kann. Zudem ist natürlich an die antike und vom vierzehnten bis achtzehnten jahrhundert erneuerte tradition der dichterkrönung zu denken. Der anspruch dass dichter und fürsten auf einer stufe stehen findet sich bei George mehrmals und wird in dieser ersten strofe recht nachdrücklich vertreten. Im neunten vers von XVII stehen die fürsten sogar unter dem Dichter. 

unsre götter : meint die von den dichtern gebildeten seelen die zunächst über eine gottähnliche vollkommenheit zu verfügen scheinen und sich zulezt als »schatten und schaum« erweisen 

Zulezt bietet der engel trostreichen zuspruch : es ist allein der dichter der einer seele deren bild seine kunst schuf »gross« zu sein verleiht - um sie lieben zu können. Deshalb  möge er nicht die fassung verlieren wenn sie sich dessen nicht würdig erweist - er würde dann ja nur den verlust dessen beweinen das diese seele ohne ihn gar nicht besessen hätte. 

Die ersten strofen beklagen die schwierigkeit der dichter solch eine geliebte seele überhaupt erst zu finden. Ihnen die sich eigentlich als »der liebe treuste priester« sehen wird daher sogar ein mangel an liebe - hier als das »höchste« bezeichnet - vorgeworfen. Die suche nach der geliebten person bekommt hier züge einer vom publikum geforderten inszenierung. 

6113 XIII  Seit jenem märchen wo ihr meine mündel

märchen : zeit der kindheit des sprechers

mündel : unmündiges kind. Demnach sah sich der engel schon sehr früh als vormund des sprechers und seiner seele (daher der plural) an. 

Die worte des engels in den ersten drei strofen sind an den sprecher gerichtet der in der lezten strofe nicht direkt antwortet sondern lediglich bekräftigt dass die (vom engel noch gar nicht näher erläuterte) »Eine liebe« tatsächlich unvergänglich geblieben ist: auch in den wirren der auf die kindheit fogenden jahre. Diese liebe sei verbunden mit der scheu (hier im herkömmlichen sinn einer natürlichen abneigung) gegen jeden massenbetrieb und alles unharmonische an körpern. Letzendlich sorgt der engel für eine ausdrückliche bestätigung und aufwertung des sprechers. 

6114 XIV  Du stiegest ab von deinem hohen hause

in deines webens gängen : bezug zum titel dieses gedichtbands

Die ausgangssituation erinnert an 201 doch ist von frauen nun nicht mehr die rede. In der selbstanrede reflektiert der sprecher das verhältnis zu »den vielen« · lebte er doch bisher wie auf berggipfeln deren schutz er aufgegeben hat als er sich freunden anschloss. Seine gesinnung - das »lauterste gewand« - will er aber unverändert beibehalten und deshalb meidet er wie schon bei früheren besuchen die annäherung an menschen die er als fremdartig empfindet. Die hier schon entschieden vorgetragene antibürgerliche haltung war insbesondere der jüngsten Kreis-generation dreissig jahre später selbstverständlich. Daneben ist nicht völlig auszuschliessen dass hinter der bezeichnung »gast von fernem strande« eine ähnliche andeutung steckt wie in 5210. Sie konnte 1897 bereits ebenso verstanden werden wie heute. 

Die distanz zu den »SCHMERZBRÜDERN« ist thema in 6211 und auch hier ist das geborgensein in einer »schmerzgemeinschaft« nur als gelegentliche ausnahme vorgesehen. Immerhin wird auch Entfernteren zugestanden dass ein »edles feuer« sich bisweilen auch in ihnen entzünden kann. Die schmerzgemeinschaft war für George · schreibt M · »auf dieser Lebensstufe die engste Form seiner Bindung sowohl an viele als auch an den Einzelnen«.

6115 XV  Dein geist zurück in jenes jahr geschwenkt

jenes jahr : nicht wörtlich zu nehmen. Gemeint ist die ganze zeit der jugendwerke.

Vliess : eigentlich das von Iason in der argonautensage geraubte widderfell. Hier für jegliche besonders wertvolle beute zu deren aufbewahrung eigene gebäude errichtet wurden (wie in 312).

dengeln : das schärfen der sense mit hilfe eines hammers

So sehr hat das erscheinen des engels das empfinden der einsamkeit verringert dass dem sprecher seine nur in lichtjahren darzustellende entfernung von mitmenschen nun unbegreiflich erscheint. Gemeint ist die zeit als er die HYMNEN den ALGABAL und das JAHR DER SEELE schrieb - motive daraus lassen sich in den mittleren strofen entdecken. Besonders betont wird offenbar der SIEG DES SOMMERS mit seiner lebens-bejahenden wende. Vielleicht ist es der engel selbst der zu ihm spricht. In der lezten strofe wechselt er ins präsens: indem die erde ihm zuruft und als seine heimat bezeichnet wird die er mit den schnittern gemeinsam hat ist die krisenhafte einsamkeit überwunden.

6116 XVI  Dem markt und ufer gelte dein besuch

Was das verhältnis zu den mitlebenden betrifft stehen bei George aufforderungen den abstand zu wahren und solche eher gegenteiliger tendenz geradezu nebeneinander. Selbst Algabal liebte es bisweilen sich unter die menge zu mischen (3206). Deren leben zeichnen hier immerhin zwei strofen in ungewohnt freundlichen farben. Zwei pole stehen für dieses leben : der markt wo die körperliche arbeit aller - gleich ob von kräftiger oder und schlanker statur (oder: von alten und jungen) - und das ufer wo bei spiel und sport die schönheit des leibes zu beobachten sind. Auch »streit« wird hier in seiner ganzen bedeutungsbreite eingesezt und meint einerseits den wettstreit wie andererseits das verbissene bemühen um ertrag. Es mag mit der idee des »schönen lebens« zusammenhängen wenn mit hilfe des futurs sogar diesem leben der menge eine versöhnlich günstige prognose gestellt wird. Aber dann macht das adversative »doch« unmissverständlich klar dass es jenseits von obstpaletten und badeanstalt eine andere welt gibt. Hier wird sie »der freunde nächtiger raum« genannt wo sich der sprecher um »tiefste schätze« bemüht. In diesem raum ist es möglich von einer »offenbarung« so »geschüttelt« - erschüttert - zu werden dass jener schauder verspürt wird der die anwesenheit eines Grösseren anzeigt. Diese offenbarung wird im gespräch erzeugt: dafür steht dieses »mächtige wort« das wie ein leit«stern« den lebensweg - dessen »furchen« dem betreffenden selbst bislang im verborgenen lagen - »heil«bringend bestimmen kann. Doch geht es eben um mehr als einsicht und erkenntnis. Es sind ja »ton und miene« - stimme und gesicht - die so erschüttern. Der in die seele einbrechende und dort noch »zuckende« pfeil dem dieses mächtige wort gleicht macht es unmöglich nicht an Eros zu denken. 

Um so mehr stellen sich die beiden ersten strofen schliesslich doch als recht harmloses »vorspiel« heraus: als blosse folie vor der das eigentliche erst richtig leuchtet.  

Das sechzehnte gedicht des VORSPIELS steht ganz im zeichen des im ersten verheissenen schönen lebens und füllt diese verheissung mit inhalt.

6117 XVII  Er darf nun reden wie herab vom äther

äther : himmel

im nachten : verb (das tätigsein der nacht ausdrückend)

täter : demnach sind dichter und täter nicht unbedingt entgegengesezte typen. Anders gesagt: mit der in den jugendwerken zumindest immer wieder proklamierten weltabgewandtheit ist es jezt vorbei. Selbst diese ersten jahre werden in diesem sinne umgedeutet als sei es von anfang an darum gegangen aus sicherer verborgenheit heraus das erlösungswerk zu beginnen.

seinen brüdern : »denen, die ihn verstehen« (M)

durch sein amt : durch seine tätigkeit

v. 9 : deshalb werden ihm (die anschliessend dargestellten) ehrungen zuteil wie sie nicht einmal fürsten (thronen) erbracht werden.

odem : eine art geistigen hauchs · eigentlich altertümlich-dichterisches wort für atem. In der Genesis bläst Gott dem menschen seinen odem ein.

brodem : rauch 

Die beiden ersten strofen zeigen dass George sich seiner erlösung bringenden wirkung bereits früh bewusst war: der erlösung vom schmachten in einem dumpfen zustand zugunsten »der Erhöhung des Lebens« (M). Zwar war der engel der bote des schönen lebens · der sprecher selbst  aber macht das verheissene wahr. Folgerichtig nennt er sich im vierten vers einen täter.

Anschliessend entsteht bereits die vorstellung eines dichter-lehrers der die besten unter den »knaben« auf ihre einflussreiche rolle vorbereitet (an der archaisierenden formulierung der zwölften zeile muss man sich nicht stören) indem er ihnen die stufen baut die sie zur bildung ihrer persönlichkeit bewältigen müssen. Diese jugend nennt Stefan George heilig (so auch im STERN 808): denn alles heilige ist unantastbar. Und die ehrfurcht davor verbietet es folgerichtig sie als eine blasse kopie des originals vorzustellen: nicht alles in ihrem odem stammt von ihm. Umgekehrt sind aber ihre lobgesänge auf ihn durchaus zu vergleichen mit dem rauch der von den den göttern als brandopfer dargebrachten tieren aufsteigt. Dass unter den mädchen gerade jene ihm huldigen die bereits wissen wem die zukunft gehört (wie im antiken mythos etwa Kassandra oder die Pythia) beweist ebenfalls dass alle selbstzweifel überwunden sind.

6118 XVIII  Einst werden sie in deinen schluchten spüren

spüren : nachspüren

Ein ähnliches selbstbewusstsein verrät das achtzehnte gedicht. Wie werden Spätere urteilen wenn sie im dichterischen werk des sprechers nach dem suchen was über die zeit hinweg lebendig geblieben ist? Der erste könnte in all den klagen · der zweite in der darstellung der landschaft die tiefe vermissen (wofür die geste des fingers steht dem die wellen zu flach sind). Der dritte könnte seine ablehnung damit begründen dass eine so weit ausserhalb der gesellschaft entstandene kunst keine früchte tragen könne. Die als »trost und beispiel« ins auge gefassten »höchsten meister« - in die sich der sprecher damit einreiht - sind bei Morwitz namentlich genannt: die drei grossen griechischen tragiker und daneben Shakespeare · Petrarca (der viele jahre in Fontaine-de-Vaucluse nahe Avignon lebte) und Dante.

6119 XIX  Zu wem als dir soll sie die blicke wenden

Angesprochen wird der engel als spender von »glück« - sicher eine reminiszenz an das geschehen in 6101 und der vor der ersten begegnung liegenden »bunten« (im sinne eines belanglos alltäglichen allerleis) tage - und »rausch«: der begriff beinhaltet in anlehnung an Platons Phaidros auch eine leidenschaftliche verliebtheit. Der engel gewinnt hier also züge des Eros der ja schon in der antike mit flügeln dargestellt wurde woran die lezte zeile anknüpft. Auch die vorstellung des seelenflugs die hier zur darstellung der ekstasis dient ist dem Phaidros entlehnt. Denn »sie« · die seele die wähnt bis zum anblick der götter gelangt zu sein wie die platonische zu dem der ideen ist vor trunkener freude satt und zitternd. Ihr sturz durch das all weiter hinauf zu den »väterlichen sonnen« - in ihrer hochstimmung also sich ganz mit dem ovidischen Phaeton identifizierend - wird vom engel mit hilfe »schwerer« flügel abgewendet so dass die seele vor dem schicksal des berühmten vorbilds bewahrt bleibt. Das klingt wie eine variation der dritten strofe von 6103 wo er als »guter geist« schon wie ein rettender schutzengel gefeiert wurde während ihm hier der dank für den rausch wie auch den schutz vor dessen gefahren gilt - dem wahrhaft »getreuen geist« der somit weit mehr bietet als der nur verführende Eros. 

6120 XX  Ihr ist als ob bei jeder zeitenkehr

v. 9 : »wenn wie ein« wäre wol die nicht verkürzte formulierung. Auch in der folgezeile ist »wie« ausgelassen. 

Mit der rede von der »heiligen zehr« wird noch einmal bezug genommen auf den olympischen göttertisch · also den höhenflug der nun in der nicht unerwarteten ernüchterung endet. Dieser tiefpunkt heisst hier »zeitenkehr«. Da kommt es der seele so vor als hätten selbst ihre leitsterne - Venus und Schwan - sie verlassen während ihr erst recht der »glanzumflossene« Eros nun als blender und gefährder erscheint und Phaeton nur noch als angebrannte motte übrig bleibt. Der trost-gedanke kommt diesmal nicht vom engel und ist zunächst so wahr wie abgegriffen: auf alle nacht wird stets ein morgen folgen. Das ist aber eigentlich schon in dem begriff der zeitenkehr enthalten und wesentlicher bestandteil der zyklischen zeitvorstellung Georges wie sie - auf die geschichte bezogen - etwa im BRAND DES TEMPELS 924 ausgeführt wird. 

Aber George bleibt nie bei einer floskel stehen. Der grund der hoffnung ist das eigene spiegelbild. Denn wo ein »tal« ist fliesst ein fluss. Der blick ins wasser lässt zwischen allerlei laubwerk das gesicht erkennen. Noch ist es jung: der hunger nach der heilgen zehr und die bedrohlichkeit des Eros waren »als-ob«-vorstellungen im augenblick der niedergeschlagenheit. Das »heimliche singen« - George hat die chiffre von Eichendorff - lässt sich nicht zum schweigen bringen. 

6121 XXI  Solang noch farbenrauch den berg verklärte

farbenrauch : vor einbruch der »grauen« dämmerung war der weg noch vertraut und leicht zu finden. Aber auch die anschliessend erwähnte wegbegleitung sorgte noch für abwechslung.

des endes ton : grillen sind nachtaktiv und zirpen abends.

aus feuchtem bühle : als bühl wird im süddeutschen ein hügel bezeichnet. Hier ist ein kirchhof gemeint aus dessen gräbern mit dem abendlichen tau eine ausdünstung steigt die hier als grabesodem bezeichnet wird.

Wie eine ergänzung oder gar korrektur von XX · denn hier wird nun doch noch der engel als entscheidender faktor für die »zeitenkehr« ins spiel gebracht nachdem zuvor für einsamkeit und todesnähe bilder von besonderer eindringlichkeit gefunden wurden.

6122 XXII  So werd ich immer harren und verschmachten

Im gegensatz zum vorigen gedicht ist in diesem dialog nun die erst noch bevorstehende mittagshitze das symbol der zeitenkehr. Aus der lezten strofe geht freilich klar hervor dass hinter allen bildern das wieder aufgebrochene empfinden der einsamkeit steht. Die klage vor dem engel wird aber mit der rigorosität zurückgewiesen die sich anschickt ein merkmal der künftigen ethik Georges zu werden: ein entgegenkommen würde nicht helfen wenn solche »kämpfe« für das gedeihen des individuums erforderlich sind. Zwar gebe es niemanden der seine blutigen wunden heilt · doch könne sich der sprecher wenigstens auf die woltuenden küsse des engels verlassen. Als der sprecher nach der rolle seiner schüler fragt die ihn verehren und von ihm so sanft gelenkt werden (wie schon in 6108 gezeigt) macht der engel diesbezügliche hoffnungen unerbittlich zunichte. Er bestreitet zwar nicht die liebe der »jünger« · nennt sie aber doch leztlich »schwach und feig«. Der sprecher wird mit diesem anklang an das abendmahlsgeschehen in die nähe des Heilands · und in die des gottvaters der engel gerückt der ihm zulezt noch einmal bekräftigt auf sich allein angewiesen zu sein. Dass lediglich der engel auf seiner seite bleiben werde ist eine trostlose prognose wenn man den engel bloss als verdoppelten sprecher auffasst. Und diese auffassung wird hier bestätigt. Denn das gedicht lässt keine zweifel daran dass die gesellschaft des engels allein auf dauer eben nicht befriedigt. Doch lässt die antwort der jünger nicht lang auf sich warten. 

6123 XXIII  Wir sind dieselben kinder die erstaunt

im erhellten traum : nicht im nächtlichen traum sondern in der visionären schau im wachzustand

Das direkte gegenstück folgt unmittelbar und lässt vermuten dass die worte des engels nur die halbe wahrheit waren. Die jünger bestreiten dass sie ihren herrn jemals im stich lassen würden und versichern ihm in bildern die dem mittelalter entnommen sind ihre innige gefolgschaft. Sie fühlen sich »verherrlicht und befreit« und wiederholen auf anderer ebene die in III bezeugte hingabe des sprechers. Hier beruht sie auf den seherischen fähigkeiten ihres herrn. Mit dem ausdruck seines blicks und einer aus antiken gladiatorenkämpfen bekannten geste kann er das ihnen zuerkannte schicksal - ehre oder untergang - zu verstehen geben. 

Es wird in der germanistik viel über Georges symbolismus und ästhetizismus geschrieben - meist mit geringem erkenntniswert zumal diese begriffe allenfalls eine kurze schaffensperiode treffen. Die sicht auf seinen realismus - einen dialektischen realismus - wird dadurch leicht verstellt. Gerade in ihrer widersprüchlichkeit bekommen gedicht-paare wie 6122 und 6123 wirklichkeit in den griff. Die anerkennung beider seiten belegt die überlegene · von aller ideologie weit entfernte weisheit des Dichters die alle glut durch seine illusionslose nüchternheit nicht auslöscht aber doch beherrscht. Nimmt man nur eines der beiden gedichte wahr · verschweigt man das andere lässt sich leicht ein falsches bild zeichnen. Manchmal fügt ein drittes gedicht eine nuance hinzu oder legt eine gewichtung nahe. So auch hier:

6124 XXIV  Uns die durch viele jahre zum triumfe

straussen : kämpfen (substantiv)

Treue erweist sich nicht in schwüren sondern immer nur in den augenblicken der schwäche dessen dem sie einst versprochen wurde. Hier gibt der zeitpunkt des sterbens endgültige auskunft in der frage ob die jünger zu viel versprachen. Dabei überrascht es kaum dass der nur vorgestellte engel in seiner perfektion jedem lebenden menschen überlegen sein muss. Diesem pessimismus steht ein versöhnlicher ausblick nur auf den eigenen lebensweg gegenüber - der ja eigentlich ein rückblick ist weil der sprecher als bereits verstorbener gedacht ist der sich an das »dunkel« seiner lezten stunde erinnert - als noch einmal längst vergangene kämpfe und siege an ihm vorüberzogen. Selbst des grabschmucks wird gedacht (M dagegen sieht in den blumen kindheitserinnerungen) und daran wie der engel schliesslich für ein sanftes hinübergleiten sorgte.

Die verheissung des engels aber muss sich zu lebzeiten doch noch erfüllt haben. Nur heisst das schöne nun »grosses« leben und so klingt die sprache in der ersten strofe künstlich so geschraubt dass sie allein der ehrung eines anerkannten epochalen meisters angemessen erscheint. Die kleine korrektur scheint unbedeutend zu sein und doch ist sie ein fingerzeig dass die unterwürfigkeit des sprechers gegenüber dem engel nicht bis ins würdelose geht · dass es in Georges vorstellung von herrschaft und dienst freiheiten gab. Daran ändert nichts dass der begriff »engel« hier erst zum zweiten mal (nach I) und wirkungsvoll am ende des gedichts und damit des ganzen zyklus verwendet wird.

Als Stefan George in der nacht vom dritten auf den vierten dezember 1934 im krankenhaus Sant’ Agnese in Muralto starb war er nicht allein. Ohnehin immer bei ihm gewesen waren Victor Frank und Clotilde Schlayer. Deren freund Walter Kempner · ein junger arzt an der Berliner Charité · kam bei der verschlechterung des gesundheitszustands ohne auf eine beurlaubung zu warten · Robert Böhringer kam aus Paris · und ebenso waren auch Walter Anton · Albrecht von Blumenthal · Cajo Partsch · die drei Stauffenbergs und Ludwig Thormaehlen im Tessin eingetroffen. Nimmt man die anschliessende totenwache in der friedhofskapelle in Minusio sowie das begräbnis vor dem sonnenaufgang des sechsten dezembers hinzu waren es fünfundzwanzig teilnehmer. Sogar Karl und Hanna Wolfskehl waren noch gerade rechtzeitig aus Rom angereist - sie hatten die bedrohung früh erkannt und Deutschland damals schon verlassen. 

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