Wie nahe Melchior Lechter der arts-and-crafts-bewegung von William Morris und John Ruskins stand ist hier gut zu erkennen. Den sakralen gefässen entsteigt ein weihrauchsdampf - das sagt etwas über die ursprünge der kunst. Der heilige dampf aber verleiht die schöpferkraft den händen: handwerk und kunst sind bei Lechter eng verbunden. Dagegen scheint ein dichter nichts einzuwenden der sein werk TEPPICH nennt.
63 DIE LIEDER VON TRAUM UND TOD 6301-24
6301 BLAUE STUNDE · an Reinhold und Sabine Lepsius
Reinhold Lepsius · sohn des direktors des Berliner Ägyptischen Museums war ein damals über Berlin hinaus bekannter maler und fotograf der vor allem mit porträts erfolgreich war. In seinem atelier in der Kurfürstenstrasse kam es 1896 zur ersten begegnung mit George. Im vorjahr hatte Richard Perls das ehepaar Lepsius bei einem empfang in der Casa Bertholdy in Rom auf George und durch überlassung einiger gedichtbände auf sein werk aufmerksam gemacht. Im jahr danach kam der einzige sohn zur welt: Stefan. Er fiel genau wie sein gleichaltriger freund · der geniale Otto Braun mit neunzehn jahren im weltkrieg.
Reinholds frau Sabine hatte in frühester kindheit ein aussergewöhnliche begabung im geigen- und klavierspiel gezeigt und besuchte deshalb zwei jahre lang die Musikhochschule wo ihr als mädchen aber die kompositionsklasse nicht zugänglich war. Deshalb entschied sie sich für den beruf ihres vaters der - ebenfalls maler - mit der ausgestaltung Berliner museen zu wohlstand gekommen war. Ihre ausbildung erhielt sie in Paris und Rom wo sie erneut mit ihrem jugendfreund Reinhold zusammentraf den sie 1891 heiratete. In ihrem gemeinsamen haus erst in der Kantstrasse · später in Westend betrieb sie einen exklusiven salon in dem eingeladene prominente und wissenschaftler ebenso verkehrten wie zahlreiche künstler: Otto Eckmann und seine frau Mascha von Kretschmann (die schwester der sozialdemokration Lilly Braun) · Rilke und seine freundin Lou Andreas-Salomé · der achtzehnjährige Karl Gustav Vollmoeller dessen gedichte dann in den BfdK erschienen. Selbst der alte Dilthey wurde mit George zusammengebracht - um anschliessend ein buch über den deutschen Geist von Leibniz bis George zu versprechen.
Wohn- und musikzimmer boten raum für grössere veranstaltungen. Georges lesungen nur im schein zweier klavierleuchten - 1899 aus dem TEPPICH - trugen zu seiner bekanntheit in diesen kreisen wesentlich bei. Die freundschaft mit George schwächte sich seit 1904 ab: seine zunehmende verachtung der musik · ihre vorstellungen von liberaler erziehung und der stellung der frau - Sabine war mit frauen wie Käthe Kollwitz oder Lilly Braun befreundet - sollen dazu beigetragen haben. Im alter schrieb sie ein erinnerungsbuch über die zeit mit George das gleich nach seinem tod erschien. Wer es gelesen hat wird Georges nachlassendes interesse an ihr verstehen. Er zog die substanzvollen gespräche mit ihrem tiefgründiger veranlagten und gebildeteren mann immer mehr vor · profitierte allerdings in den ersten jahren von ihrem organisationstalent und dem ausgezeichneten ruf ihres salons. Das buch beweist immerhin ihre nie erschütterte loyalität zu George und ist durch charakterisierungen und die überlieferung vieler einzelheiten wertvoll.
Die unterschiedliche qualität der zusammenkünfte deutet sich auch in der ersten strofe an: nicht alle brachten dem Dichter »frohe funde« - die weniger lohnenden nennt er hier »bleiche schwestern« der blauen stunde (der stunde der ersten dämmerung und der untergehenden sonne) in der offenbar in einer gartenlaube oder einem zeltartigen pavillon so »erregt und gross und heiter« miteinander gesprochen wurde dass ihr ende mit dem fortschreiten des abends bedauernd in einem starken bild zelebriert wird: wo sie als wolke mit den anderen vorüberzieht · als opfer der brennenden scheiterhölzer des abendrots aber bald »verglüht« noch einmal zur anschauung bringt (»sagt«) welchen genuss sie »verlieh«. Auch der sprecher würde sie deshalb am liebsten aufhalten auch wenn er an diesem abend (jedenfalls vorgeblich) noch etwas anderes vorhat - ein »dunkel« von »reicher lustbarkeit« das bereits »seine bögen« spannt mag als andeutung zu verstehen sein die aufhorchen lassen soll. Es geht hier aber nur darum möglichst überzeugend - das heisst über floskeln weit hinausgehend - das lob der blauen stunde auszusprechen und den gastgebern dadurch glaubhaft zu danken. Ein zweites bild ist als vergleich gestaltet und dürfte auf die musikliebende gastgeberin berechnet gewesen sein. »In neuem paradeise« bezieht sich auf das dunkel der lustbarkeiten. Selbst dort komme es vor dass man eine längst verklungene melodie nicht aus dem kopf bekommt · ja dass sie sogar dort noch »lockt und rührt« - und damit die aktuellen attraktionen in den schatten stellt. Wenn das kein kompliment ist ! Fast könnte man glauben dass George notfalls auch beim charmanten smalltalk der salon-runden mithalten konnte. Dieses geistreiche gedicht auf einen gemeinsamen spätnachmittag der dauerhafte eindrücke hinterliess - »gelegenheitsdichtung« heisst die gattung eigentlich und bringt sonst nur selten grosse gewächse hervor - ist jedenfalls an eleganter raffinesse nicht mehr zu übertreffen. Die erwähnung der »bleichen schwestern« darf es sich daher erlauben. Der Dichter hat aber gesellschaftliche veranstaltungen doch bald gemieden: sie waren ihm nur zu beginn ein notwendiges mittel zum zweck. Bald aber war es so weit dass in jedem befreundeten haus in das Reinhold und Sabine Lepsius eingeladen wurden bei ihrem erscheinen ein George-gedichtband wie zufällig auf dem tisch lag.
6302 DÜNENHAUS · an Albert und Kitty Verwey
Ein häufiger gast war George auch bei den Verweys in dem damals schon sehr bekannten seebad Nordwijk. Verwey - selbst ein bedeutender dichter dem sogar chancen auf den nobelpreis eingeräumt wurden - machte George in Holland bekannt. Die holländischen freunde luden ihn immer wieder ein auch wenn er nicht immer in fröhlichster stimmung ankam. Man kann zwischen den zeilen lesen dass es bisweilen auch differenzen gab. Die verse deuten einen gewissen gegensatz an zwischen dem vielleicht allzu friedlichen leben in der einsamen Villa Nova und dem innerlich eher unruhigen gast der in der dünen-einsamkeit (fotos des hauses haben sich erhalten) an das pulsierende leben der städte dachte (wobei er umgekehrt auch oft an das haus dachte wenn er sich fern davon aufhielt). Im widerspruch zu M könnte sich in der vierten strofe »Er« (M.s begründung für die gross-schreibung überzeugt gar nicht) auf Albert allein beziehen (in der zweiten strofe war der plural der zweiten person dadurch begründet dass das ehepaar gemeint war) der auf die anfangs erwähnte gedrückte stimmung Georges · die »trauer« nicht immer genug rücksicht nahm oder ihn vielleicht allzu burschikos aufzumuntern versuchte. Auch könnte das »milde reden« sich auf die stimmung bei Verweys gegenbesuch 1899 in Bingen · beim schilf (für den dann botanisch nicht ganz korrekt »binsen« stünde) am ufer der Nahe beziehen während am strand in Nordwijk (wo die Meerstrandbinse eigentlich heimisch ist) bisweilen auch ein rauherer ton herrschte. Mit dem hinweis auf das angenehmere klima »unsrer hellen welten« in Bingens weinbergen sollte Verwey ja schon in 5512 geärgert werden. Anderenfalls wäre einfach gesagt dass in Nordwijk der umgangston ähnlich wechselhaft war wie der nordseewind.
Die reminiszenz an Phaëton legt nahe dass George sich als einen eher tragischen charakter empfand der sein glück - anders als Verwey mit frau und kinderschar (der schon im zweiten vers genannten »fülle«) im einfamilienhaus - noch nicht gefunden hatte und auch nicht finden würde.
Georges spätere gedichtbände fanden (wol in erster linie wegen des Maximin-kults) nicht mehr Verweys zustimmung und im weltkrieg hatte George kein verständnis für Verweys neutrale haltung. Doch riss der kontakt nie ganz ab und noch in Minusio sprach der Dichter von Verwey als einem freund.
EIN KNABE DER MIR VON HERBST UND ABEND SANG I-III · an Cyril Meir Scott
»A Youth Sang to Me on Evening and Autumn« hiess dieser dreier-zyklus ursprünglich den George selbst ins deutsche übersezte wobei reime und sonettform verloren gingen.
6303 I Sie die in träumen lebten sehen wach
Ins jahr 1896 fällt auch die begegnung mit dem siebzehnjährigen engländer Cyril Meir Scott der am Frankfurter Konservatorium klavier und komposition studierte. Sein mitschüler Clemens von Franckenstein (an den sich 6309 richtet) stand damals schon mit George in kontakt und nahm ihn zu einem treffen mit. Wenig später könnte Scotts gedicht-zyklus »Hymns to Autumn and Evening« schon existiert haben (veröffentlicht wurde er erst 1910 in einem band mit dem für Scotts antiken-begeisterung bezeichnenden titel »The Voice of the Ancient«). Umgekehrt ist auch denkbar dass Scott die überschrift des zyklus erst aufgrund der George-gedichte erdachte (ausführlich dazu: Alessandra D’atena in G-Jb 12, 2018, 134f. - die 6303 allerdings gründlich missversteht). George sorgte für die aufführung seiner ersten sinfonie in Darmstadt · Scott für vertonungen einiger George-gedichte die er mit sorgfalt gestaltete und an den verehrten George sandte.
Der sprecher stellt Scott mit dem Dichter auf eine stufe: beide (nur sie sind ausweislich der zwöften zeile gemeint) haben für »gram und erde« die welt des traums (worin M »einen Traumzustand, der durch das Anhören von Scotts Kompositionen im Dichter hervorgerufen wurde« erkennen möchte) verlassen · sehen nun den »abglanz« der pracht ihrer märchenhaften heimat von der sich ihre erinnerung nicht lösen kann: »die stunden füllend« sagt ja nichts anderes als dass das leben in der profanen welt nur als leer empfunden wird. Andere seelen haben den umgekehrten weg hinter sich: sie wurden vom irdischen »kerker« der sie »müde« machte gerade erst frei und blicken vom »blauen ufer« noch »verwirrt zurück« weil ihren augen das licht im neuen »wunderland« noch zu hell vorkommt. Hier ist der platonische einfluss leicht zu erkennen.
In der dritten strofe werden Scott und George direkt angesprochen. Der sprecher nennt sie »mitgefangene« um anzuzeigen dass er derselben welt angehört und dort dieselbe »grabesluft« atmet. Ein lächeln (hier im schattenreich ganz konsequent: sein schatten - was daran erinnert dass es dieses lächeln im traumreich bereits gab) sei so viel wie ein ausweg aus der »wahrheit« wie die irdische welt im gegensatz zum land der träume nun höhnisch genannt wird. Diesen ausweg aber könnten die beiden sich nur selbst eröffnen: ein »flüchtiger blick« schon - flugs wird die forderung vermindert - könne hoffnung geben. Die beiden punkte drücken aus dass nun der sprecher wechselt. Mit vertrautem »du« wird Scott bedeutet dass eine höhere instanz den blick honorieren werde (oder - weniger zuversichtlich - würde): indem ein unverhoffter strahl ihn in (nicht blendend helles - das wäre der anderen welt vorbehalten - aber doch wenigstens in »bleiches«) licht taucht. Sollte aber »strahl« tatsächlich den lächelnden blick meinen (wie D’atena ebd., 144 · nicht aber M glaubt) hätte Scotts partner die aufforderung des sprechers unverzüglich befolgt. Doch ist George nicht als freund des ersten schritts bekannt. »Ich stand im sommer wartend« (6305) legt nahe dass D’atena seine tatkraft überschätzt.
6304 II Ihr kündigtet dem Gott von einst die liebe -
Scotts religiöse suche behandelt dieses gedicht. Die antwort des gotts von dem er sich lossagte (der zehnte vers beweist dass der christliche gemeint ist) weckt erinnerungen an die auseinandersetzung mit dem engel in 6104 und 6106. Vom abwerfen der religiösen kette hatte bereits Marx gesprochen. Vielleicht ist auch der rosenkranz gemeint der während des pontifikats Leos XIII. (1878-1903) noch einmal eine grosse rolle spielte. Jedenfalls scheint ihn der gott nicht zu verstehen · sieht er doch nach wie vor ein vorhandenes religiöses bedürfnis bei dem abtrünnigen. Der aber bekräftigt seine entscheidung damit dass beim abendlichen vollzug kultischer handlungen »zittern und verzückung« nicht nachgelassen haben weil »andere mitgefühle« (im sinne begleitender gefühle) sein lebensgefühl »erhöhen« und ihm ein gesteigertes religiöses empfinden verleihen (indem sie anderes »verzehren«) ohne den bisher ertragenen verzicht zu verlangen. Die erwähnung des goldenen schmucks und der purpurnen glasmalerei in seinem »dom« deutet das gemeinte an: die neue kunst-religion erlaubt die hingabe an die schönheit · aber kann das zittern wirklich noch dasselbe sein? Dem engländer wird jedenfalls nichts anderes als ein schnöder hedonistischer kalkül unterstellt und es darf gefragt werden ob es sich nicht eher um Georges eigenen kalkül handelt. Scotts suche fand erst bei Annie Besants Adyar-theosofen ein ende - das war 1914.
6305 III Ich stand im sommer wartend · mit erbleichen
Noch immer sah der in 6303 erhoffte strahl keinen anlass zu erscheinen. Nun wird die zeit knapp und der sprecher wirft sich seine untätigkeit vor die den ganzen sommer ungenuzt verstreichen liess. Jetzt kommt ihm das rötliche herbstlaub vor wie eine fahne die ein ende anzeigt obwol die frucht noch immer nicht geerntet ist. So beginnt er eilig zu pflücken - aber es kommen doch nur ein paar halbwelke blumen und blätter zusammen: ein wunder dass sich aus ihnen überhaupt noch etwas binden lässt. Beschämt stellt er fest dass er Scott damit (und es sind wol eben diese drei gedichte - die »halbwelken wunder meiner grames-hand« gemeint) nichts von dem verehren konnte was er sich vorgenommen hatte · was er dem »geschick« abtrotzen wollte · etwas vom wert und vom prachtvollen leuchten ausgewählter edler steine anstatt nur dem seiner tränen. Aber der einstige »abglanz jener pracht« (6303) ist vollends erloschen und die (dichterische) stimme gebrochen. Von flammenden gefühlen kann sie nicht mehr sprechen - es wäre jezt nur noch so wahr wie ein märchen gewesen. Das lezte gedicht des kleinen zyklus zeigt wie sehr das erste im recht war als es vom irdischen gram und der grabesluft sprach.
Bis 1912 kam es noch zu jährlichen treffen in Bingen · in Kronberg und Berlin. Scott schrieb selbst gedichte und übersezte wie George Baudelaire. Zwischen den weltkriegen war er als komponist ebenso erfolgreich wie mit zahlreichen büchern über okkultismus und homöopathie. Er setzte sich für vegetarische ernährung und alternative krebs-medikamente ein.
6396 JULI-SCHWERMUT · an Ernest Dowson
sesam : stellvertretend für alle exotischen pflanzen die »stolzen gärten« die aura des kostbaren geben. Diese gärten (in denen ackerwinden als lästiges unkraut nicht gern gesehen sind) mögen ihrerseits für alle kunst stehen die sich wie die symbolistische um einen möglichst weiten abstand von allem gewöhnlichen und alltäglichen bemühte. Das gedicht wird daher als »Absage an den Ästhetizismus« (H 2215) gewertet die in der lezten strofe ausdrücklich bestätigt wird. Es ist aber eine absage aus schwäche - und nicht aus Georges schwäche.
Das gedicht entstand im august 1899 bei einem treffen Georges mit Verwey in Bad Homburg. Ein halbes jahr danach war Ernest Dowson tot - er wurde 32 jahre alt. Seine gedichte wurden unter anderem von Cyril Meir Scott und Clemens von Franckenstein vertont. George hatte sie durch Albert Verwey kennengelernt · sich bei seiner zweiten reise nach London im sommer 1898 mehrmals mit Dowson getroffen und übersetzungen angefertigt die er in den BfdK und dem band ZeitgenössiSche Dichter veröffentlichte.
M berichtet dass George mit dem gedicht die stimmung habe wiedergeben wollen in der er Dowson antraf. Das legt es nahe hinter dem sprecher den engländer selbst zu vermuten - ein schritt den M dann allerdings nicht tut. Aber welche geschmacklosigkeit wäre es in einem widmungsgedicht ausschliesslich über sich selbst zu reden !
Müdigkeit und überdruss an allem exquisit-luxuriösem beherrschen diesen sprecher. Deswegen ziehen nicht die duftenden sommerblumen sondern eine ordinäre ackerwinde die er an einem zaun rankend erblickt seine aufmerksamkeit so an dass er sogar zu ihr spricht.
Mochte sich George auch einmal zu einem veilchen bekannt haben (in 206): nie und nimmer hätte er dem die bäuerliche arbeitswelt so vertraut war das hartnäckigste unkraut - selbst glyphosat wird kaum damit fertig - über alle kulturpflanzen gestellt. Das konnte nur einem dekadenten intellektuellen einfallen · einem verwöhnten erben. Es ist unbegreiflich wie man dessen anrede auf ein menschliches »Gegenüber« beziehen kann (Wk 310) - und dann gedankenlos darüber hinwegsieht dass nun die ganze zweite zeile syntaktisch in der luft hängt und keinerlei sinn mehr ergibt.
Die ackerwinde ruft in Dowson eine szene seiner kindheit wach (und »zieht« ihn »nach« in seine vergangenheit zu jenem augenblick in dem er sich selbst zum ersten mal erkannte) als er - damals schon müde - untätig die kornernte verfolgte · sich in der mittagshitze in den schatten am feldrand legte und ihm blütenblätter des klatschmohns auf die haut fielen · blutigen flecken gleich: unterschwellig bedrohliche zeichen. Das ist gerade nicht das verklärte kindheitsglück das wir aus Georges erinnerungen kennen · das sich immer aus eigener tätigkeit speist. Der müde erwachsene denkt zurück wie er ein müder knabe war · der müde knabe sieht in den tatkräftigen muskulösen schnittern wie er nie sein wird. »Nichts was mir je war raubt die vergänglichkeit«: aber ihm war doch nie etwas - was sollte ihm geraubt werden können? Der trotzige widerstand gegen die vergänglichkeit ist ohne sinn · nicht mehr als ein hohles tönen das zusammen mit den sprachlichen manierismen der lezten drei zeilen auf die dekadente extravaganz Dowsons verweist der eine kindheit im luxus verbrachte · in Oxford studierte · jahrelang Frankreich bereiste und schliesslich auch krankheit und elend kennenlernte: ein Pete Doherty des neunzehnten jahrhunderts. So wird George ihn als künstler geschätzt haben. Das gedicht aber ist abschied und absage - so schonend wie nur möglich.
6307 FELD VOR ROM · an Ludwig von Hofmann
Die macht der vergänglichkeit die der flotte Dowson-spruch in frage stellte wird hier in der »abendgegend« - das meint nicht nur die tageszeit - zwischen den hügeln der Campagna (der gedicht-titel verweist wörtlich darauf) in jeder strofe vor augen geführt. Am raffiniertesten zulezt: beim pflücken der schattenlilie · des weissen affodills im anblick Frascatis erwacht die erinnerung an den mythos vom Asfodeliengrund · dem schattenreich des toten Achills zwischen Elysion und Tartaros.
Der maler Ludwig von Hofmann lebte bis 1900 in Rom und dort besuchte George bei seiner ersten italienreise den sieben jahre älteren. Beim gemeinsamen ausflug in die von antiken ruinen - »der welten trümmer« - und den gräbern der Via Appia geprägte ernste landschaft werden sie von schmerzlichen gefühlen überwältigt die der trauer angesichts der versunkenen pracht der schlösser - hier angedeutet durch säulen und gruft - nicht nachstehen. Die frage was nach dem untergang der antiken welt eigentlich noch kam und »uns war« vermag die stimmung erst recht nicht ins heitere zu wenden. Nur die in der ferne angedeutete kuppel des Petersdoms (so M) - »des ewigen tors« - deutet auf die grösste leistung der jahrhunderte die auf die »herrlichkeit« des römischen vielvölker-reichs folgten. Wie es sich für ein an einen maler gerichtetes gedicht gehört spielen die farben eine stärkere rolle · die farben des abendrots die das grün des bodens langsam blasser machen - eines bodens der getränkt von dem vergangenen zu stolz ist eine schnöde wirtschaftliche nutzung zu erlauben.
6308 SÜDLICHE BUCHT · an Ludwig von Hofmann
George wird manche gemeinsamkeit zwischen sich und dem maler entdeckt haben dessen vater als hessischer ministerpräsident in den adelsstand erhoben worden war. Von der bewunderung der antike sprach das lezte gedicht. Nun wird auch ein unterschied angedeutet: wenn George sich den noch »Gebundnen« nennt der erst in der begegnung mit den landschaften v. Hofmanns mit ihren spielenden und badenden ein »lösendes« gefühl der befreiung · wenn nicht der erlösung empfindet - mit einem bevorstehenden »Abschied« (Wk 312) hat das nichts zu tun. Denn nun fühlt er sich stark genug »den einen namen« immer wieder auszusprechen: sich zu seiner liebe zu bekennen. M spricht treffend (damit auch »jung geküsst« aufgreifend) von einer verjüngung. Im vergleich mit der anmut der Hofmannschen szenen ist es nicht verkehrt Deutschland ein kaltes land und Georges nicht auf das Heitere sondern auf das Hohe weisende werk »steil« zu nennen. Dass die im titel genannte bucht und die »purpurgolfe« nicht den golf von Neapel meinen können weil Georges reise nicht so weit in den süden führte (M) ist eine eher irreführende these · geht es doch allein um ein (oder mehrere) gemälde des künstlers dessen »Quelle« einst Thomas Manns arbeitszimmer zierte. Wertschätzung kann sich eben auf vielerlei weisen ausdrücken.
6309 WINTERWENDE · an Clemens von Franckenstein
Der Kontakt zu Franckenstein war entstanden als der zwanzig jahre alte freund Hofmannsthals - sohn eines österreichischen ministers und einer Gräfin Schönborn und in Wien aufgewachsen - 1895 brieflich die erlaubnis zur vertonung einiger gedichte erbat. Es waren meistens winterabende wenn George sich in den folgenden jahren am Frankfurter bahnhof wo er auf der durchreise umsteigen musste mit dem jungen komponisten traf der damals gemeinsam mit Cyril Scott das Hoch’sche Konservatorium besuchte. Der erinnerung an diese kurzen abendstunden sollte das gedicht dienen - so schrieb es George ihm im herbst 1899 (H 2249). Es kam sogar zu einem besuch in Bingen. Aber selbst Karlauf fällt nichts skandalöses zu der beziehung ein. Franckenstein heiratete zweimal · komponierte lieder und opern und wurde 1912 intendant der Münchener Hofoper bis die nationalsozialisten den noch nicht sechzigjährigen in den ruhestand zwangen.
Die häufung der vieldeutigkeiten zeichnet diese verse aus - und von einer hängt das verständnis ganz besonders ab. M bezieht die szenerie am anfang auf die von den scheinwerfern der einfahrenden züge in gleissendes licht getauchte Frankfurter bahnhofshalle. So wäre auch der name Byzanz verständlich denn Frankfurt war ja gewissermaassen die hauptstadt des Heiligen Römischen Reichs so wie Konstantinopel/Byzanz die des oströmischen. Und beide mächte gingen aus einer reichsteilung hervor.
In ähnlicher weise hatte George die licht- (und stimmungs-)wirkung einer anderen technischen neuerung des jahrhunderts - eines automobils - seiner lyrik schon früh zugänglich gemacht (114). Auch dort stand sie in verbindung mit einer erregenden menschlichen erscheinung · so wie sie hier der inszenierung von Clemens Franckensteins ankunft dient. Eine so uneingeschränkte würdigung - geradezu verherrlichung - eines freundes findet sich bei George gar nicht so oft.
Von ihm selbst ist anschliessend die rede - im plural (der auch entpersönlichend und verallgemeinernd wirken soll als sei er nur einer von vielen) und in der selbstansprache: genau wie in der anrede des bewidmeten in den beiden lezten strofen. »Verwaist« steht er bei der bahnsteigschranke · aber voller erwartung »in einem sonst an Erlebnissen dürren Jahr« (M). Ob es diese erwartung ist - er nimmt kaum wahr wie er weint vor aufregung - die ihm seine lippen zusammenpresst oder ob es bei der begrüssung im zustand der selbstvergessenheit (die metrische unregelmässigkeit deutet den kontrollverlust an) zu einem kuss kommt bleibt nicht gänzlich offen. Denn ohne kuss hinge das »wunder« fast sinnlos in der luft. Dabei ist es der zentrale begriff der dritten strofe · das eigentliche ereignis des jahres. Der wunsch an den freund zielt darauf: den augenblick dieses wunders - des also ganz unverhofften kusses - und die erinnerung an den sprecher nie (sehr ernst gemeint: auch nicht wenn die eigene totenbahre schon im sterbezimmer steht) zu vergessen. Der abschied bildet den hintergrund der lezten strofe. Nun aber bedarf licht nicht mehr der technik. Im tiefsten inneren bleiben die blicke des gasts für immer unvergänglich. Und der »ahnt« das auch selbst. Sezt er die beziehung fort wird er nie mehr vorgeben können nichts gewusst zu haben.
Einzig das verb »vorspiegeln« brach den jubelton schon früh. Dass der augenblick des begrüssungs-kusses aber auch schon den höhepunkt des abends · der beziehung überhaupt bildete bekräftigt diese brechung. Trotzdem genügte er um dem sprecher wie eine »wende« zu erscheinen. Glück konnte einem menschen wie George damals nie anders als ein kurzer lichtstrahl fühlbar sein. Aber das gedicht · die kunst macht diesen augenblick zu einem ewigen. Die lezte zeile birgt also kein leeres versprechen sondern einen schwur der ernst gemeint ist. Dass die blicke als »mahnung« empfunden werden macht diesen ernst spürbar. Die vorlezte zeile ist mit dem auf Franckenstein bezogenen »ahnen« und dem auf George gerichteten »mahnen« - beide verben sind durch den binnenreim verbunden - ein kunstwerk für sich. WINTERWENDE gehört zu Georges faszinierendsten liebesgedichten gerade weil es auf wunschdenken und selbsttäuschung beruht. Ihm war das aber - wie schon der fünfte vers beweist - natürlich bewusst.
6310 DEN BRÜDERN · an Leopold Andrian (Leopold Freiherr von Andrian zu Werburg)
Der durch seine erzählung »Der Garten der Erkenntnis« (1895) bekannt gewordene österreicher hatte im alter von zwanzig jahren sein dichterisches werk schon weitgehend abgeschlossen und gilt deshalb als vorbild für die figur des Lord Chandos bei Hofmannsthal. Als der TEPPICH 1899 erschien studierte er noch rechtswissenschaften in Wien und diente anschliessend dem »siechen Österreich« bis zum untergang des habsburgerreichs als diplomat. Seine konservativ-katholischen politischen schriften in der republikanischen zeit - er war ein verfechter der österreichischen selbständigkeit - liessen es angebracht erscheinen die jahre des nationalsozialismus im ausland zu verbringen.
Zu George hatte er von briefen abgesehen keinen nennenswerten kontakt - es gab nur zwei kurze treffen und im zusammenhang der durch Hofmannsthal vermittelten veröffentlichung einiger gedichte in den BfdK sogar erhebliche meinungsverschiedenheiten. Andrian war daher über die widmung des gedichts überrascht. Sie erklärt sich aus Georges wunsch das verhältnis zu dem dank des »Gartens« sehr bekannten jungen dichter zu verbessern. Das gedicht gilt ja auch weniger ihm als den österreichischen »brüdern« schlechthin. Der sprecher habe in seiner jugend die österreichischen dichter (der décadence) geliebt weil sie wie er den »glücklichern barbaren« - den deutschen - hätten zeigen wollen dass ein schönes sterben zu höchstem stolz berechtige. Dann aber habe er in sich eine stärkere lebens-bejahung empfunden · die »reiche fülle« des lebens und in sich selbst das nähertreten »frischer wünsche« wahrgenommen · vitalität auch bei den brüdern bemerkt und sich aus liebe bemüht sie von ihrer todes-sehnsucht zu erlösen (nüchterner: sie und ganz besonders Hofmannsthal stärker an die BfdK zu binden) - oder poetologischer: sie in ihrer trunken-passiven morbidität nicht länger zu bestärken die mit ihrer schönheit aber ausgerechnet die lezte strofe so beherrscht als sei der sprecher von den erfolgs-aussichten seines programms nicht gerade überzeugt.
kreissen: (unter schmerzen) gebären oder hervorbringen
6311 DIE EBENE · an Carl August Klein
Viel intensiver geht es hier um den immer wieder mit dem bei George seltenen »du« (das sich im briefwechsel der beiden nicht findet) angesprochenen Bewidmeten. Klein stammte aus Darmstadt - der stadt in der »ebene« - aber nicht während der schulzeit sondern erst während des studiums in Berlin lernten beide sich kennen. Dennoch wird in der zweiten strofe der eindruck einer gemeinsamen kindheit geweckt während die dritte Kleins mutter gedenkt die ein zurückgezogenes und der grabpflege eines früh verstorbenen sohns gewidmetes leben in frömmigkeit führte (so M). Die reichlich entlegene ja einigermaassen groteske thematik weckt den verdacht dass es über substantielles nicht viel zu berichten gibt · dass die (ohnehin weitgehend nur fiktive) zeit der gemeinsamkeit schon längst zu ende gegangen ist: es war doch allzu viel nur von der vergangenheit die rede. Man mag in der betonung der »ebene« sogar einen hinweis auf Kleins mittelmässigkeit erkennen. Wenig schmeichelhaft wirkt auch die verbindung seiner bleichen gesichtsfarbe mit einer möglichen furcht - Georges im vorigen gedicht deutlich gewordene (wenn auch nur begrenzte) sympathie für die décadence der österreicher scheint Klein nicht geteilt zu haben. Allerdings war er als herausgeber der BfdK ein hilfreicher und von George geschäzter mitarbeiter dem er ja schon die HYMNEN gewidmet hatte. Als er sich dem (von George ja verachteten) theater zuwandte und 1904 auch noch heiratete wurde der kontakt immer lockerer was an Kleins loyalität gegenüber George nichts änderte.
6312 FAHRT-ENDE · an Richard Perls
1898 war im alter von fünfundzwanzig jahren Richard Perls dem schon einer der schattenschnitte (5513) gegolten hatte in München gestorben. Ohne ihm zuzustimmen feiert George den orientalisten in der lezten strofe als erleuchteten · als überwinder der lebensgier . . und vornehm gibt er ihm damit eine grösse die auf den dichter des schönen lebens doch fast bedrohlich wirkt. So beeindrucken diese verse als demonstration der toleranz in einer echten freundschaft - was auf die einzigartige genialität von Perls schliessen lässt die George tief beeindruckt haben muss (die direkte folge der gedichte für Klein und Perls macht die unterschiede der wertschätzung geradezu brutal deutlich).
Das ganze gedicht dient der vergegenwärtigung - zulezt wird noch einmal der eindruck des (von hohen bäumen umgebenen und daher im dunkel liegenden) Chinesischen Turms im Englischen Garten beschworen den Perls gern aufgesucht hatte und wo nun auch der sprecher - sich selbst geradezu als wallfahrer bezeichnend und damit den freund in die nähe des heiligen rückend - noch einmal das vergangene zu erneuern versucht. Den anfang bilden hingegen blosse erinnerungen an die besichtigung einer kirche · dann einer galerie (jedenfalls bezieht M die achte zeile auf ein gemälde) bei einem treffen in Brüssel 1896. Wichtiger ist wie Perls als melancholiker und décadent profil gewinnt vor dem hintergrund des tatkräftigen George: dieser glaubt an »das unverlierbar Stete« während jener nichts als die fäulnis der welt zu sehen vermag. Deutlicher noch als in 6310 wird eingestanden dass alle ansätze von trost und einflussnahme - auch wenn sie den bewidmeten hier anfangs »staunen« liessen - nichts fruchteten.
Die dritte strofe bringt zur sprache dass George dem freund - daher - während des lezten abschnitts seiner drogensucht nicht mehr zur seite stand - dass er Perls auf dem furchtbaren leidensweg nicht begleitete der wie in die dunkle schreckensvolle welt der vorolympischen götter · der moiren und erinnyen führte (die dem neunzehnten jahrhundert als zeugnisse eines ganz frühen matriarchats galten). Das könnte auch als (beinahe höhnische) antwort auf die frage zu verstehen sein mit der ganz am ende des vorigen gedichts C. A. Klein konfrontiert wurde: seine furcht war völlig unbegründet. Er hätte wissen müssen dass George »die vergeblich dunklen bahnen hasste«.
6313 GARTENFRÜHLINGE
die ginster : Oelmann verweist wegen des ungewöhnlichen femininums auf Grimms Wörterbuch und die italienische ginestra. (SW V, 127)
Nach all den erinnerungen an zurückliegende kontakte richtet sich der blick nun auf die zukunft. Deshalb geht es um den frühling · und zwar in drei verschiedenen gärten wobei es zu anklängen an frühere gedichte kommt (denen M allerdings keine bedeutung beimisst). Wichtiger sind ohnehin die augen die nicht nur lang erträumte sind sondern ebenso solche die einen traum zu erkennen geben: »Augen voll glut«. Begonnen aber wird mit dem natürlichen waldrand wo der ginster einem grab schatten spenden soll. Dort liegt die trauer des sprechers begraben - seitdem der im garten der blühenden mandelbäume jene augen erblickte auf die er nun erneut zu treffen hofft. In einem zweiten und formal gehaltenen garten mit beschnittenem buschwerk sind der gesang besonderer vögel zu hören und schmetterlinge zu beobachten während der dritte garten durch einen kleinen springbrunnen besticht. Aber alle äusserlichkeiten treten doch ganz zurück gegenüber der erwartung der augen. Das wird in der vorlezten zeile kunstvoll veranschaulicht: »sie« meint nicht wie der leser (wenn er - wie auch Wk 316 - die beiden punkte übersieht) zunächst zu wissen glaubt die funken gleichen wasserspritzer des brunnens sondern eben diese augen. Zudem wäre eine frage ob die funken heute leuchten an belanglosigkeit wol nicht zu übertreffen. Bemerkt der leser seinen irrtum wird ihm klar dass der sprecher in gedanken eben von beginn an weniger bei mandelduft und vogelsang war als beim »flaum« - was der einschätzung als frühlingsgedicht ja keinen abbruch tut.
6314 MORGENSCHAUER
nieten : zuerst heilen · dann festmachen bis hin zum bewahren. Die doppelte verwendung des verbs ist raffiniert.
bricht : anbricht
Gelinde : nicht adjektiv sondern adverb
In dem geistreich-manierierten spiel der gegensätze und paradoxien - auf die spitze getrieben in der erinnerung an die nacht · der subtilen erotik der erst saugenden und dann sich »wild« ergiessenden düfte so als ob tatsächlich die süssen augen leuchteten (»solch ein licht« gab es ja offensichtlich) - gewinnt keine der seiten die oberhand. M spricht etwas mehr glättend von einem »rätselhaften Einklang«. Das vertrauensvolle erwarten (in 6313 worauf sich 6314 durch das adjektiv »süss« ausdrücklich bezieht) ist dem zweifel und schwankender unschlüssigkeit gewichen · das geflitter der herabfallenden blütenblätter deutet das ende des frühlings an und statt von traum-augen ist nun von schmerz die rede. Ganz ausdrücklich sagen der fünfte und der sechste vers dass die sicht auf die landschaft vorgeformt ist durch das seelische geschehen: wie die pfade durch die seele zogen (womöglich ist auch an das traumgeschehen der vorangegangenen nacht zu denken) so wirken sie nun im »gefild«. Deshalb fällt es dem sprecher schwer die einem festtag ähnelnde stimmung des blühenden kirschgartens mit dem zum empfang bereitstehenden haus ungetrübt zu empfinden - dem morgen nach wunsch zu »gebieten«. Das aufwühlende nächtliche geschehen bedarf noch sichtlich der bewältigung.
6315 DAS POCHEN
Im mittelpunkt steht das übermächtige empfinden bei einer entschwundenen freude womit der abschied von einem geliebten menschen (möglicherweise Cyril Scott der das gedicht auf sich bezog) gemeint ist - »freude« ist eigentlich als metonymie für diesen menschen aufzufassen. Das erlaubt die unverfängliche verwendung weiblicher pronomen. Dieses empfinden ergreift den sprecher sogar körperlich so stark dass ein »pochen« - das fühlen pulsierenden bluts oder des herzschlags - die stärke des verlusts geradezu anzeigt. Die (also nur scheinbar personifizierte) »freude« hat sich winkend aus dem herzen entfernt - der dadurch »leeren stätte« - und den sprecher in zeit-räumlicher orientierungslosigkeit zurückgelassen. Nun fühlt er sich wie ein schlafwandler · fühlt dass ihm die rationale lenkung abhanden gekommen ist (vier ausrufezeichen finden sich sonst in kaum einem anderen gedicht). Jedes wort das ihn noch an ein wort jener freude - jenes verlorenen menschen - erinnert kommt einem schmerz ebenso gleich wie der anblick eines steins oder überhaupt gegenstands der nun entweder als neu empfunden wird weil er in der zeit des zusammenseins gar nicht wahrgenommen wurde (»uns« ist im neunten vers ein echter plural) oder der beklemmend an die geliebte person erinnert die an diesem gegenstand hing. Zwar ist beim sprecher der wille das pochen zu überwinden durchaus vorhanden: denn wegen des verfolgens (»sucht« meint hier suche) eines so kleinen (weil privaten) ziels fühlt er sich von der darüber versäumten »ernsten tat« zur rede gestellt. Aber der schmerz erlaubt diese absicht noch nicht umzusetzen - bis schliesslich die mildere »wehmut« an seine stelle treten und eine rückkehr zur »tat« ermöglichen wird (womit natürlich das dichterische oder allgemeiner jedes über das private hinaus gerichtete wirken gemeint ist).
Es gibt in der lyrik kaum eine exaktere darstellung des liebes-schmerzes - und selbst das wie eine traumatische gedankenschleife endlos kreisende reimschema beweist: man findet nicht so schnell heraus.
6316 LACHENDE HERZEN
Freude und herzen sind motive die doch nur äusserlich an das vorige gedicht anknüpfen. Denn nun ist ja gerade nicht mehr vom herzen des sprechers die rede und »freude« wird tatsächlich personifiziert · und zwar als die von den anderen wahrgenommene Fortuna mit den ihrem füllhorn entnommenen geschenken (M) die ihnen noch wichtiger sind als das »mädchen« selbst. Es sind also die herzen und die freude der anderen gemeint die viel leichter zu leben vermögen (ja direkt als »ihr leichten« angesprochen werden) · deshalb fast immer lachen und tanzen und die wenigen »dunklen tage« mühelos rationalisieren und damit verkraften können. Mit einem anflug (gespielt) neidischen · jedenfalls (gespielt) »verehrenden« begehrens blickt der sprecher auf diese unbeschwerte welt der feste und bälle wo »schwere gedanken« verboten sind · beteiligt sich sogar daran (indem er sich gefallen lässt dass ihn die anderen »schlingen« (ein verräterisches verb) und lässt sich von den erstaunten feiernden (die ihn also zunächst anders kennen lernten) als »freund« behandeln (der er natürlich niemals sein kann und will) · die seine »verkleidung« nicht durchschauen und nicht ahnen wie »erniedernd« er diese nur äusserliche anpassung an die ihm immer »fern« bleibenden empfindet. Wie schon aus der lezten zeile ersichtlich wird gehören LACHENDE HERZEN und DAS POCHEN so untrennbar zusammen wie umgekehrt das pochende niemals zu den lachenden herzen gehören kann - so wenig wie sein alter ego: der täter in 6210.
Beide gedichte stellen das innerste von Georges selbstgefühl als mensch und gesellschaftliches wesen dar · sind in ihrer bedeutung gar nicht zu überschätzen. Die mehr politisch klingenden und antibürgerlichen gedichte die sich bald im SIEBENTEN RING finden werden sind als ableitungen daraus aufzufassen.
6317 FLUTUNGEN
misste : verfehlte
M nennt das gedicht »eine Entwicklungsgeschichte der Seele« die hier wie in 6119 mit dem weiblichen pronomen bezeichnet wird. Nina Herres die jedwede kenntnisnahme von Morwitz beharrlich verweigert (er ist teilen der germanistik wol nicht mehr cool genug) glaubt hingegen allen ernstes an »eine weibliche gestalt« (Wk 319).
Es gibt jugendliche deren seele in der tat wie übervoll des lichts ist - das wird hier aber nicht nur bewundert. Die seele des sprechers wusste in stolzer selbstgenügsamkeit den wert von anerkennung nicht zu schätzen und verpasste es jenes glück zu ergreifen das ihr zufliegen wollte - bis sie es · älter geworden · bald selbst umwerben musste ohne verhindern zu können dass es sich entzog. Unter den lebenden glaubt sie keinen mehr zu finden der sie noch liebt und die toten sind für sie ja namen ohne leib so dass sie sie trotz ihres heissen liebes-verlangens noch nicht lieben (solange sie nicht selbst zu ihnen gehört) - wol aber ihnen »nachsehen« kann jedenfalls wenn hier berühmte und gerühmte gemeint sind. Es handelt sich wie oft bei George um eine asyndetische aufzählung zweier teile (»den lebenden« - »den toten«) - nicht um ein apokoinu. Eine pointe liegt in der provozierenden unterstellung dass in dieser welt selbst eine seele auf leiber angewiesen ist wenn sie lieben will. So tauchen in 6317 grundgedanken der LEGENDEN wieder auf.
Schliesslich wird ihr im rückblick auf ihr leben der schmerz erst richtig bewusst an den sie sich so gewöhnt hatte dass er ihr kaum noch etwas bedeutete. Nun aber empfindet sie das frösteln das schon jenen lebensabschnitt ankündigt der dem ende vorangeht.
Die vierte strofe gilt dieser »gegenwärtigen Lebensstufe« des Dichters (M) in der die seele wieder wie früher wahrnimmt wie jede faser unter dem »Schmerz des Alleingebliebenseins« leidet. Nur dass (die hinzufügung von »nur« ist durch M gedeckt) inzwischen »vieles (vorüber)ging« · anderes aber über alle veränderungen hinweg blieb: nämlich das was sie immer ergriff und wonach sie wie früher »noch immer sucht«. Damit kann nur die schönheit gemeint sein (der gedanke wird in 6322 variiert). Die überschrift bekräftigt die auffassung wonach beides miteinander zusammenhängt: die flutung durch das übermaass an licht ist ursächlich für die durch das übermaass an leid. Darüber hinaus mag an das ergriffensein durch die schönheit zu denken sein das sich über alle lebensalter hinweg immer wieder erneuert - fluten gleich und von zeitabschnitten unterbrochen in denen sozusagen ebbe herrscht. Dafür sprechen auch die verben: reissen für die flut und (zurück)rinnen (auch »entrinnen« im sinne von abnehmen wird ja genannt) für deren ende.
TAG-GESANG I · II · III
6318 I So begannst du mein tag:
Eine andere ausführung derselben thematik aus der aber - für ein leztes mal - alles düstere verbannt ist. Denn es geht um einen anderen - der für den sprecher den »tag« bedeutet (mit possessivpronomen was bereits an die ersten zeilen von MAXIMIN 74 denken lässt). Um ihn drehen sich alle drei teile des TAG-GESANGs während der sprecher in halb liebevoller halb bewundernder haltung in den hintergrund tritt.
Seiner kindheit gilt eine eigene strofe · die anderen drei sind an den jugendlichen und früh verstorbenen gerichtet. M nennt die verse »Experimente zur Ausnutzung des verkürzenden Stils« und die dritte strofe zeigt gut was er meint. Den wiesen die noch auf das tal der ersten strofe zurückweisen »folgen« (das verb aus der vierten strofe ist auch für die dritte zu verwenden wo ihm sogar »chor« und »jagd« zugeordnet sind) die woge und dem silber des wiesenbachs die smaragdgrüne farbe des ernsten meeres. Zulezt wird dem preisen des stolzen glücks dessen dem so viele - darunter der sprecher - noch immer »froh« folgen weil er sie ausgewählt hat (das präsens behauptet stolz die unvergänglichkeit jenes augenblicks in dem sein lächeln dem erblickten die neugeburt war) eine nur angedeutete klage über den für den sprecher unerwarteten verlust entgegengesezt die sich ganz erst vom nächsten gedicht her erschliesst. »So begannst du mein tag« meint beides: die kindheit des angesprochenen und mit ihm auch das leben - das eigentliche · das schöne leben des sprechers - das wie bald gezeigt werden wird im glück der »erinnrung« (6320) fortdauert über das ende des ersteren hinaus. Davor muss aber die erschütterung des abschiednehmens durchlebt werden.
Während die tag-gesänge also dem leben des sprechers gewidmet sind blickt er in den nacht-gesängen auf seinen bevorstehenden tod.
6319 II Bewältigt vom rausche noch sah ich ihm nach
vom rausche : vom hochgefühl des zusammenseins
er wandte sich : ergänze »zurück zu dem«. Wieder ein beispiel für den verkürzenden stil. Das zurückblicken beim abschied ist eine geste die auch in anderen gedichten Georges eine rolle spielt. Die kleine sentimentalität muss ihm dem abschiede leiden bereiteten viel bedeutet haben.
auf fittichen : dichterisch für »auf flügeln«
Er : Die gross-schreibung beruht nicht wie M meint auf Georges absicht ein missverständnis zu vermeiden (die sorge um das wohlergehen des lesers treibt den Dichter ja sonst auch nicht um) sondern dient wie überhaupt die drei ersten verspaare der ehrung dieses ganz besonderen freundes dem kein anderer ebenbürtig erscheint. Sein tod - die totenreiche der antiken mythen liegen im westen - wird vom sprecher zunächst wie ein gewöhnlicher abschied erlebt - er meint sogar der scheidende habe sich noch einmal umgesehen - und geht schliesslich in eine apotheose über. Die gross-schreibung besagt dass der in einer wolke entschwundene dem sprecher wie zum gott (und wie Maximin in 8110 zum umfassenden »all«) geworden ist.
In dem gefühl der leere nach seinem abschied drückt eine geste das bedürfnis nach orientierung aus: der sprecher senkt den kopf an den boden um von schicksalsmächtigen erdgottheiten wenigstens einen dunklen spruch über seine zukunft zu erfahren (in den worten des nächsten gedichts vieldeutig: »ob aus tiefen ein gesicht winkt«). Erdspalten (hier »schluchten«) spielten ja bekanntlich auch eine rolle beim delfischen orakel. Das folgende gedicht kann (mit M der allerdings die ganze dreiergruppe anders versteht) wiederum als eine art fortsetzung verstanden werden.
6320 III An dem wasser das uns fern klagt
gesicht : hier anspielung an die durch den seher-spruch vermittelte ansicht der zukunft (wie in »das zweite gesicht«) - einer wenn es »winkt« vielleicht wieder freundlicheren zukunft. Freundlich wäre sie insbesondere wenn sie wieder ein neues »gesicht« (erst nachrangig also als antlitz verstanden) präsentierte. Winkend erinnert es natürlich an den das »frohe banner« schwenkenden und winkenden »bruder« von 5210 - und damit an den SIEG DES SOMMERS 53 über die tristesse von WALLER IM SCHNEE 52. Die formulierung ist genial.
Trost kommt aber nicht aus dem erdinneren sondern von oben: der pappel mit dem singenden vogel der den sprecher auffordert den kopf nicht mehr hängen zu lassen (in anspielung auf dessen gebeugte haltung am ende von 6319) und nicht nur das ende seines lieds abzuwarten - er spricht in der tat von der sechsten bis zur lezten zeile (Wk 321 missversteht als »Selbstanrede«) - sondern bis zum abend zu bleiben. Der gedanke des kreislaufs taugt ja immer wenn es an hoffnung zu mangeln scheint. Der vogel nimmt aber auch anteil am schmerz des sprechers. Er nennt jene die »glücklichern« zu denen der freund im vorigen gedicht aufbrach: die toten die nun bereichert werden. In der übernahme seiner wertschätzung beendet der vogel die einsamkeit des sprechers. Tröstend wirkt auch seine rede von dem verschenkten »traumgold« - der fortdauer des schönen lebens in der für immer beglückenden erinnerung die um »traumgold« zu sein zweier bedingungen bedarf: des todes und der jugend des schenkenden (weil es »nur im flug« und »früh« verschenkt wird). Eine bedeutung dieser art hätten ältere für George niemals erlangen können. Der vogel auf der pappel - dem "ernsten unter den bäumen" (T011) was ihm und seinem lied besonderes gewicht verleiht - erkennt in dem verstorbenen die erlöserfigur die er ohne seinen frühen tod nicht sein könnte.
Stefan George hat dem gefiederten sänger eine eigene sprache gegeben. Die doppelten und dazu noch reimenden hebungen an jedem vers-ende hinterlassen einen tiefen eindruck. Diese sorgfalt hat der vogel verdient · übernimmt er doch hier als profet des jugendlichen gottes eine rolle die George bald selbst ausfüllen wird: wenn es um Maximin geht. TAG-GESANG ist das Maximin-geschehen in nuce - drei jahre bevor der junge dichter George begegnete. Das muss keineswegs bedeuten dass hier profetische gaben ins spiel gebracht werden sollen. Eher wäre das Maximin-erlebnis (das doch im grunde erst nach Kronbergers tod begann) - das biografische wie das dichterische - als anwendung und ausführlichere wiederholung von TAG-GESANG zu verstehen: nicht weniger künstlich konstruiert als die gedichtgruppe. Die hirnhautentzündung allerdings war ein nicht zu erwartender glücksfall der alles erst möglich machte.
NACHT-GESANG I · II · III
6321 I Mild und trüb
Das bequeme banal-nette und unverbindlich-unscharfe ist immer ein kennzeichen populärer massenkultur. Fern davon lebt der sprecher in einer welt die durch suchendes wandern - unterbrochen durch kurze abschnitte der rast (die aber als »saum« fast schon wie ein versäumnis empfunden wird) - eine schicksalhafte härte gewinnt. Wo es das bürgerliche dahinplätschern nicht gibt entsteht raum für das grössere: für sturm und glanz · tod und glück. Das ändert nichts am bewusstsein der eigenen vergänglichkeit die hier auch durch die kunst nicht überwunden wird. Selbst der sang verklingt einfach nur. Eindrucksvoll ist die dritte strofe mit den vier verben die dem leben seine ganzheit verleihen: dem tun · dem erleiden · dem er- und nachsinnen · dem sein. Natürlich hat das besitzen in dieser reihe keinen platz.
6322 II Mich erfreute der flug
In dem bekenntnishaften lebens-rückblick hebt sich die gruppe der sänger - man denkt schon an den SCHLUSS-CHOR 8331 - vor dem hintergrund der tänzerinnen nur umso strahlender ab. So lässt sich auch - »spät« für den sprecher (George ist jezt einunddreissig jahre alt) aber unschwer für den leser - die gültige antwort finden auf die frage was das leben reich machte . . und was allmählich ins vergessen zurücksinken kann. Die zulezt genannten »freunde« nach frauen und jünglingen als dritte gruppe aufzufassen um auf diese weise die vermeintliche »Klimax« (Wk 321) komplettieren zu können verkehrt den sinn des gedichts geradezu ins gegenteil: als sei über jünglinge hinaus eine steigerung möglich. Während am ende der drei nacht-gesänge alles »verklingt« (erster) »zerfällt« (zweiter) und »verrauscht« (dritter) behalten für den sprecher allein die jünglinge die kraft »ewiger« glut (unerheblich ob man das nur als trotzig-existenzialistische proklamation oder als wunschdenken bezeichnen mag). Erst recht drehten sich alle drei tag-gesänge um eine so strahlende jünglingsgestalt dass sie das leben überhaupt erst zum tag werden lässt: es überhaupt erst konstituiert. Wer trotzdem die jünglinge als irgendwelche »holden Burschen« (ebd.) ins mittelmässige und lächerliche zieht und sie damit desaströs nichtversteht ist also seiner aufgabe offensichtlich nicht gewachsen.
Anstatt die LIEDER VON TRAUM UND TOD wenigstens ernst zu nehmen (und gerade die drei tag- und drei nacht-gesänge in denen Stefan George sein innerstes wie sonst nirgends und wie sonst niemand offenbart sind ausschliesslich und zutiefst ernst) taugen sie Nina Herres gerade einmal als materialsammlung für eine art nachhilfestunde über rhetorische figuren. Weil nun die klimax noch fehlt soll die abfolge frauen - jünglinge - freunde herhalten - obwohl doch allen drei nacht-gesängen der blick auf das lebens-ganze in seinem ablauf gemeinsam ist und deshalb nichts näher läge als die abfolge pracht - frauen - jünglinge schlicht als chronologische reihung zu verstehen. Allerdings könnte sich Herres auf Hildebrandt berufen der - bald achtzig jahre alt - ebenfalls gefallen fand an dem gedanken dass George "höher noch (als die jünglinge, d. V.) das Gespräch mit den (älteren, d. V.) Freunden seines eigenen Ranges" (1960, 192) geschäzt haben musste. Man mag über die kleine eitelkeit des damals bald achtzigjährigen den kopf schütteln oder ihm zugutehalten dass er George auch sonst selten anders als Platon-geleitet verstehen konnte. Da haben die jungen dann eben die schlechteren karten.
M hingegen - den Herres ja für kein einziges der vierundzwanzig gedichte zur hand nimmt (kennt sie ihn eigentlich?) - bezieht die anrede »an euch« auf die jünglinge denen ja die dritten strofe gegolten hatte. Das ist naheliegend und von George erkennbar nahegelegt. "Hohe freunde" ist dann nicht die den leser neckisch irreführende nachgestellte erklärung und apposition zu "euch" sondern objekt - und "gefühlt" muss als apokoinu gelesen werden - die unterstellung eines solchen mittels der verkürzung ist gerade angesichts der knappen zeilenlängen mehr als legitim. Hildebrandts lesart aber musste von George aus verständlichen gründen als mögliche angeboten werden. Die bevorzugung der jünglinge sollte mit einer zweiten lesart doch wieder ins unklare gerückt werden. Dessen muss sich auch Morwitz bewusst gewesen sein · bezieht "an euch" auf beide zuvor genannten gruppen: die jünglinge aber auch die frauen und wählt damit den zweiten ausweg den Georges zeilen klüglich offenlassen. Der grosse Ernst fiel George nie in den rücken - schon gar nicht wenn dieser diskretion wünschte.
Aber es ist nicht zu übersehen dass die frauen-strofe völlig aus dem zusammenhang fallen soll. Während George in allen anderen strofen das sehr persönlich gemeinte »ich« bevorzugt ist in der zweiten strofe ein ganz allgemeiner plural in gebrauch: »ich« und die frauen werden also wolweislich nicht gemeinsam in einer strofe genannt. Weibliche schönheit wird konstatiert wie die wilder zoo-tiere: aus der sicht eines betrachters aus sicherer distanz dem sich zuzuwenden auch die frauen kein interesse und keine möglichkeit haben. Vollkommen anders der intensive und gegenseitige austausch zwischen jünglingen und sprecher. Der Dichter hat es immer vermocht verständlich zu formulieren und sich staat und bürgern dennoch nicht auszuliefern. Gleich im anschliessenden gedicht wird diese tatsache klar zum ausdruck gebracht (6323 V. 7f.)
Erst recht wäre es befremdlich würde George im ernst hier zum besten geben wollen sein leben werde von einer ganzen frauenschar »gelenkt«. Sein »uns« schliesst das »ich« des sprechers also gerade nicht ein. Und »frönen« liess George doch alle für sich: männer und jünglinge sogar bei weitem viel mehr. So hätte man anhand von frauen- und jünglingsstrofen besser die antithese · anhand der frauenstrofe die concessio erklären können.
6323 III Sei rebe die blümt
Der strahl in dir tauscht : dahinter steht die vorstellung dass das leben (freilich nicht jedermanns) mit einer himmlischen entrückung endet. Noch im aufsteigen kann die seele von strahlen berührt werden die von unten kommen (weshalb das sterben nicht immer leicht fällt). Sind aber die "höhn" erreicht kommt der strahl nur noch von oben und alle irdische bindung ist überwunden (vergleiche 7413).
Zum abschluss wird an den beginn des TEPPICHs erinnert. In 6201 war ja betont worden dass nur »die seltnen« je verstehen würden - die »vielen« hingegen »nie«. Der zweite nacht-gesang erwies sich soeben als anwendung dieses für George lebensnotwendigen gedanken · die behandlung des gedichts im Wk als seine bewahrheitung. Nun findet er sich noch einmal - als eine unter anderen ernsten mahnungen in diesen kurzversen die allem nebensächlichen gewiss keinen raum bieten · wo sich das lyrische ich als dichter anspricht in dessen leben sich alles um das werk zu drehen hat weshalb was schwächt (oder auch selbst schwach ist) oder etwa durch lautstärke oder bewegung ablenkt zu meiden ist - während alles als erstrebenswert gilt was als schönes wärmt oder als erhabenes einen ehrfürchtigen schauer bewirkt (so gibt auch M »graun« wieder) der erhebt. So (also unter beachtung dieser selbst auferlegten regeln) werden »höhn« und damit die gleichermaassen an den Olymp wie an Nietzsche erinnernde vollkommene einsamkeit und stille der berggipfel erreicht - womit aber auch der traum zum stillstand gelangt. Nun treten auch das erhabene und das schöne - die beiden bislang so absoluten werte - zurück weil schliesslich »ein andres Licht die Seele erfüllt« (M) während das leben »verrauscht«. Was manchem für einen augenblick vielleicht allzu hochfliegend vorkam ist so in demut wieder eingefangen. Alle drei nacht-gesänge haben das lebens-ende im blick und propagieren in seltener einmütigkeit (denn George bevorzugt ja eigentlich variationen und kontraste) diese haltung als die angemessene.
6324 TRAUM UND TOD
traum : ein anderes wort für »leben« insofern leben als umsetzung des traums gedacht wird. Es geht also nicht um das menschliche leben schlechthin denn der traum regiert nicht jedermanns leben. Der »geist« muss »gross« sein.
vogt : in der feudalzeit der örtliche stellvertreter des herrschers den die meisten menschen aber kaum jemals zu gesicht bekamen. Für sie war deshalb der vogt wie ein wirklicher herrscher. Hier ist gemeint dass die kindheit noch nicht durch menschen bestimmt wird deren macht man sich nicht entziehen kann: gleich ob es sich um vorgesezte · kunden oder feste partner handelt. Dies trifft gerade nicht die erfahrung von kindheit an die sich die meisten zu erinnern glauben. Gemeint ist im grunde Georges eigene und eigenartige kindheit die er ja gegen die bestimmung durch die ohnehin grosszügigen eltern und die merkwürdig blass bleibenden lehrer abzuschirmen verstand. Schon die unvergessliche zweite legende FRÜHLINGSWENDE 052 erzählte von der abwehr eines angriffs erwachsener auf diese kindliche selbstbestimmung.
höchster stolz : nachgestellte apposition zu »der traum«. Im übrigen ist eine vielzahl unterschiedlich gestalteter reihungen das der darstellung des lebens in seinem ablauf angemessene merkmal aller strofen. Im lezten vers wird es auf die spitze getrieben.
Das mit den drei kretikern pro zeile metrisch vollkommen ungewöhnliche gedicht verrät welche lebensalter der rede wert sind. Den beiden ersten jahrsiebenten gilt die erste strofe in der das kind unter dem eindruck der heldensagen (gemeint sind die deutschen und nordischen die den blick auf den ganzen raum zwischen Alpen und Ostsee weiten) weltverständnis und traum entwickelt. Sein geist ist von beginn an »gross« und noch »ohne die Unterwerfung unter die Herrschaft einer andern Seele» (M). »Hybris« oder gar deren »Abgründe« (Wk 329) sind hier aber wirklich gar nicht gemeint.
Das dritte jahrsiebent in der zweiten strofe ist bestimmt durch begeisterung und enttäuschung. Denn nun sucht der jugendliche geist nach einem leit-»stern« unter den er sich »beugen« will. Der anfangs davon träumte ein gebieter zu sein macht eine zeit der unsicherheit durch in der auch tränen fliessen. Entwickelte er im blick auf »flur« und »flut« ein naives wahrheitsverständnis so begegnen ihm nun auch »schein« und »bild«: er versteht schmerzlich dass es viele täuschungen gibt. Es ist das ende der jugend. Nur zwei zeilen gelten dem ganzen erwachsenenalter in dem der leitstern der sich des sprechers annahm und ihm zum Gott wurde übertroffen wird. M deutet hier allerdings im anschluss an Platon wonach der Gott die seele erkor die ihn schliesslich »bezwingt« (was dann metaforisch gemeint sein dürfte). Jedenfalls geht es um die jahre angespannter tätigkeit · das gelingen des traums dem das leben gefolgt ist bis der »ruf« eine tiefe erschütterung bewirkt. Das scheinbar demütige eingeständnis der eigenen kleinheit im angesicht des todes sollte nicht zu tief beeindrucken. Der erkenntnis-fortschritt ist kein grund dem stolz abzuschwören. Einen »Klageruf« gar - den der Werkkommentar zu vernehmen glaubt (331) - gibt es nicht einmal andeutungsweise.
Die schluss-strofe bietet in beherrschter wehmut eine gedrängte · jede der drei vorgängerstrofen noch einmal wörtlich aufgreifende rückschau die einem sterbe-prozess nachgebildet ist so dass zulezt alle abschnitte sich vereinigen und aufheben: und zwar in dem »licht-kleinod«. Das klingt - erst recht in verbindung mit »still« - bescheiden · meint aber doch einen neuen stern der nun am nachthimmel für ewiges gedenken und viel mehr noch für ewige orientierung sorgt. Die demut in ihrer reinheit hat also nicht das lezte wort. Das wäre christlich und für den George um 1900 noch wie eine niederlage.
George hat den ruf früh vernommen. Bis zum weltkrieg war alles wichtige geschehen: die ausformung von mensch und traum in der geliebten kindheit · die hier glänzend eingefangenen jugendjahre in rausch und qual für die mit Mallarmé und Ida Coblenz nur zwei namen genannt seien · die jahre des höchsten stolzes mit den grossen werken bis zum STERN. Mit dem krieg aber begann die lange und kaum noch produktive »schimmernd stille« zeit des schmerzes und der schmerzen und der durch die zeitgenossen und das NEUE REICH belegten unprätenziösen gelassenheit. Selbst der trotzige BRAND DES TEMPELS 924 ist doch ganz getränkt vom bewusstsein der vergänglichkeit. Es gibt eindeutige hinweise dass George in den lezten jahren nicht mehr daran glaubte posthum zum leitstern zu werden. So rettete er wenigstens seinen ruf als seher. Er rechnete sogar damit in vergessenheit zu geraten. Die drei biografien · der ganze aufwand von werkkommentaren und handbüchern beweisen nur scheinbar das gegenteil. In wahrheit können sie nicht darüber hinwegtäuschen dass der zugang zu seinem denken zunehmend schwerer fällt. Sie beweisen es eher.
Das gedicht ist bedeutend genug um dem ganzen buch den namen zu geben.
Die saite ist schon gerissen und dem sakralen gefäss entsteigt kein weihrauchdampf mehr. Deshalb sind die hände des künstlers bereits verschwunden. Ein zweiflügeliges tor hat das reich der kunst verschlossen und der betrachter findet sich wieder in der profanen welt.
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