Vom Nahekai aus konnte George mit Ida Coblenz die Nahe aufwärts gehen · über die tausend jahre alte Drususbrücke zum anderen ufer gelangen - der gemeinsame weg ist für den herbst 1894 und sommer 1896 durch Böhringer bezeugt (MB 1951, 62) - und dann der alten heerstrasse folgen · schliesslich mit der fähre nach Büdesheim übersetzen das hier durch den Scharlachberg verdeckt ist. Büdesheim wurde 1929 nach Bingen eingemeindet. 

T TAGE UND TATEN

T01 SONNTAGE AUF MEINEM LAND T011-4 
T02 DER KINDLICHE KALENDER 
T03 TAGE UND TATEN T0301-11
T04 TRÄUME T041-5 
T05 BRIEFE DES KAISERS ALEXIS AN DEN DICHTER ARKADIOS T051-7 
T06 ALTERTÜMLICHE GESICHTE T061-2 
T07 BILDER T071-8

 
T08 LOBREDEN T081-5 
T09 VORREDE ZU MAXIMIN 
T10 BETRACHTUNGEN T101-7 
T11 ÜBERTRAGUNGEN T111-7

Was es mit dem band auf sich hat ergibt sich einerseits aus Max Kommerells vorrede zur zweiten ausgabe (1925): »Die Tage und Taten wurden zum grossen teil jahre hindurch in den Blättern für die Kunst veröffentlicht · noch ohne namennennung . .  (…) Als buch erschienen sie zuerst 1903 im verlag der Blätter. Die vorliegende erweiterte ausgabe enthält alles vom verfasser in ungebundener rede geschriebene mit ausnahme jedoch aller vorworte aller einleitungen und merksprüche. Schwierig wäre aus diesen sein eigenes anteil herauszulösen · es würde auch eine ungebührende beladung sein für dieses im wesentlichen dichterische werk.« In der erstausgabe von 1903 - dreihundert exemplare mit roten überschriften und seitenzahlen - hatten T02 T09 T10 und einige wenige kleinere texte noch gefehlt. Im siebzehnten band der gesamt-ausgabe (1933) wurde TATEN UND TAGE schliesslich durch die prosa-übertragungen T11 noch einmal erheblich bereichert. 

Zum anderen lassen sich aus dem titel rückschlüsse ziehen. Hesiods »Werke (Taten) und Tage« (kurz »Erga« genannt) sind zwar in hexameter gefasst - doch mag George in anderer hinsicht anknüpfung gesehen haben: Die Erga in ihrer grundsätzlich konservativen haltung sind ein bekenntnis zum ländlich-archaischen alltag der bauern und legen wert auf distanz zum gewinnstreben der händler und zur hybris des adels. Erst recht ist ihnen die politik eine ferne welt. Schliesslich zeigen sie weder eine durchgängige handlung (sie werden gemeinhin als lehrgedicht bezeichnet) noch gibt es eine einheitliche thematik. Erzählende abschnitte wechseln mit praktischen ratschlägen denen wiederum visionen gegenüberstehen denen vielleicht die traumähnlichen abschnitte bei George entsprechen. Wie Georges prosa-werk enthalten auch die Erga einen kalender und leisten (nach der Theogonie) beiträge zur religiösen vorstellungswelt: Hesiod führt Prometheus ein · George Maximin. 

Freilich war »Tage und thaten« in den BfdK schon 1893 überschrift der ersten prosa-skizzen. Zu diesem zeitpunkt mag es noch reichlich ambitioniert gewirkt haben sich in die nachfolge Hesiods zu stellen. In ihrer endgültigen gestalt können die TAGE UND TATEN aber beanspruchen das beste gewesen zu sein was das jahr 1933 Deutschland brachte. Dass George ausschliesslich als lyriker im gedächtnis blieb haben sie trotzdem nicht verhindert. 

T01  SONNTAGE AUF MEINEM LAND T011-4

T011 I Wir weichen von der heerstrasse

heerstrasse : sieht aus wie eine breite landstrasse. Aber auf manchen der heerstrassen marschierten schon römische legionäre - die waren auch in Bingen stationiert.

nachen : boot

flecken : dorf (süddeutsch)

M sieht in dem nicht breiten fluss der das wiesengelände häufig überschwemmt die Nahe glaubt in der begleiterin Ida Coblenz zu erkennen hält die SONNTAGE für »Vorläufer der Gedichte des ›Jahrs der Seele‹« und vermutet in dem dorf das man von Bingen aus auf der »Heerstrasse« (der heutigen B9) und dann mit der fähre über die Nahe erreichen konnte Büdesheim am Scharlachberg: dort verbrachte George die ersten fünf jahre der kindheit bis der vater das haus am Nahekai (heute Stefan-George-Strasse) in Bingen erwarb. Recht hat M mit dem hinweis dass George die erzeugung einer sentimentalen idylle entschieden verweigerte. Er begründet das mit den unharmonischen tönen der »spielwerke« und des leierkastens. Hinzu kommen etwa die beinahe regnerische wetterlage · der hinweis auf die ernsten pappeln · das wie ein symbol der vergeblichkeit wirkende verfallene wehr des mühl-kanals und das dorf vor und hinter dessen gekalkten fassaden kein leben zu sein scheint. Ob die bewohner das fest im benachbarten »flecken« besuchen könnten überlegt sich der leser erst am ende. Kaum dass zwischen den drei abschnitten ein zusammenhang besteht. Jeder der beiden absätze bezeichnet auch eine auslassung. Nur das adverb »wieder« zu beginn des dritten abschnitts deutet einmal einen zusammenhang an. Aber sind der »breite weg« und die zu beginn verlassene »heerstrasse« identisch?

Die schwarze gestalt in der ferne trägt ebenfalls zur verfremdung bei · sei sie nun ein wenig unheimlich oder nur ein geistlicher. Ihr winken geht ins leere. Man könnte meinen Kafkas erzähler habe bei George gelernt. Empfindungen des ich-erzählers bleiben dem leser verborgen und auch das verhältnis zwischen ihm und seiner begleiterin - sie wird erst spät und nur wie zufällig erwähnt - wirkt undurchsichtig. Ihr lächeln bleibt so folgenlos wie das winken des schwarzen. So fehlen alle beziehungen zwischen menschen. Niemand scheint darunter zu leiden. Der erzähler spricht weder über erwartungen noch über ängste. Er bückt sich über die blauen blüten. Aber sichtbare freude lösen sie nicht aus und sehnsucht schon gar nicht - so wenig wie die musik die vom fest herüberschallt das ihm fern bleibt.

T012 II Weiter und weiter ganz allein

viele rege hände : hände die sich regen · tätig und fleissig sind

kränze von künstlichen immortellen : aus trockenblumen. Die italienische strohblume (helichrysum italicum) und die weisse sand-immortelle (ammobium alatum) fanden häufig verwendung in der grabfloristik. Bei Fontane stirbt niemand ohne dass ihm immortellen aufs grab gelegt werden.

Der schon bisher nur schwache handlungs-zusammenhang zwischen den wieder drei abschnitten geht jezt ganz verloren. Das gilt ebenso für die begleiterin. Wenigstens ein kind taucht noch für einen augenblick auf. Sein zinnkrug ist so grau wie der nächtliche nebel und die »bleifarbene schranke« die als ziel angegeben wird aber nicht näherrückt. Das weist ebenso auf vergeblichkeit hin wie die bezeichnung des ankers als wahrzeichen lediglich »zweifelhafter hoffnung«. Dieser anker schmückte ursprünglich das grab eines kapitäns und heute den Bürgerpark der aus dem alten Bingener friedhof entstanden ist. Dass die gräber der schon lange verstorbenen nicht mehr so intensiv gepflegt werden zeigt dass erinnerung und wertschätzung nicht weniger vergänglich sind als der mensch. Von vornherein vergeblich wirkt deshalb auch der eifer jener die sogar im oktober - sicher nicht an sonntagen - noch einmal frische blumen auf die gräber setzen weil die alten bei einem vorzeitigen wintereinbruch erfroren · die sonn- und gedenktage des novembers aber bevorstehen. So entsteht der eindruck von distanz zwischen den geschäftigen einheimischen denen noch alles selbstverständlich ist und dem wie ein blosser besucher eigentlich untätigen sprecher. 

Die danach entstandene schneeschmelze sorgte für eine der schon im ersten text erwähnten überschwemmungen. Auf den nun grossen wasserflächen kommt es zu lichtreflexen die im sprecher ein »wolgefühl« auslösen - das ist verständlich nach der düsternis des nacht- und des friedhofs-abschnitts und immerhin einmal ein hinweis auf die doch  vorhandene empfindungsfähigkeit des sprechers. 

T013 III Vier sonntägliche strassen

Zwei der hier genannten sonntäglichen strassen wurden bereits dargestellt: mit der begleiterin wurde die des möglichen glücks und zum friedhof die der unabwendbaren verzweiflungen gegangen. Die blassen erinnerungen werden gleich folgen. Dass die strasse von der wiederaufgenommenen tat fehlt könnte mit den schaffenskrisen zu tun haben unter denen George nach dem ALGABAL und in der zeit mit Ida Coblenz litt. Aber solche zuordnungen verbietet M.

T014 IV Das altertümliche dorf

wacken : pflastersteine

weidicht : weiden-gebüsch

fähre : meint hier nicht das boot oder den in T011 erwähnten nachen sondern (wol dessen) anlegestelle (diese wortbedeutung ist in Grimms Wörterbuch vermerkt) auf der östlichen (Büdesheimer) seite der Nahe. Das »leere boot« ist demnach die fähre im heute üblichen sinn.

Trotzdem geht es nun - in den ersten beiden abschnitten - eindeutig um »blasse erinnerungen« die dem erzähler anlässlich eines viele jahre zurückliegenden besuchs des dorfs seiner vorfahren (gemeint ist natürlich wieder Georges geburtsort Büdesheim) wieder in den kopf kommen. Dieser besuch ähnelt einer wallfahrt zu einem ganz besonderen »familien-erbstück« das einer in der monstranz gehüteten und zur schau gestellten reliquie ähnlich unter den angehörigen verehrt wird. Haus und kult-objekt gab es tatsächlich: es war das villenartige anwesen von Georges grossonkel Etienne George der sich als hessischer landtags-abgeordneter Stephan nannte und von der totenmaske seines im alter von sechs jahren 1865 verstorbenen enkels jene büste anfertigen liess die hier eine so zentrale rolle spielt.

Jedes der drei teile dieses prosa-stücks wird wieder dominiert von der distanz zu allen mitmenschen: ins auge fallend im ersten wo sie dafür viel weniger ursächlich sind als der erzähler selbst dem damals - er war selbst fast noch knabe -  das leben des onkels nicht gerade wichtig war: schon als jugendlicher war George - PRINZ INDRA S31 beweist es - kein familienmensch (obwol er die »anheimelnde« ausstrahlung des alten hauses durchaus empfindet) und vermeidet im zweiten teil die verwandten auch nur zu erwähnen: »Es sollte mir gezeigt werden« - die zeigenden aber werden wie un-nennbare behandelt oder sind gar längst vergessen. 

Nicht besser ergeht es den erwachsenen im dritten teil. Dort - wir befinden uns nun nicht mehr im rückblick sondern in der erzählergegenwart - treten wieder ein paar kinder auf die aber erneut nur mit sich selbst beschäftigt sind. Wo es kinder gibt können erwachsene eigentlich nicht fehlen - sie werden aber einfach nicht wahrgenommen. Selbst staat (»flagge«) und kirche (»feiertagsklang«) treten kaum je ins bewusstsein. Die zutiefst ernst gemeinte frage ob man (erst) in dieser eigentlich selbst erzeugten teil-einsamkeit (»in dieser gediegenen landschaft« klingt verdächtig irreführend) »seine seele wiederfinden« könnte scheint eine zustimmende antwort nahezulegen (jedenfalls wartet die leere fähre offenbar vergebens auf fahrgäste die diese landschaft zu verlassen wünschen): eine einzige provokation für alle die dauernd leute um sich brauchen. 

Worauf mag diese heilende wirkung beruhen? Die schon in T011 ja gerade nicht idyllisch wirkende "landschaft" mit nun auch hier nur denkbar nüchternen »wiesen« und »wasser« dürfte eine rolle spielen wie die "altertümlich"-ländliche lebensform ihrer vitalen aber fremd bleibenden bewohner die in diesem dritten abschnitt mit den truthahnschreien vom meierhof nur noch ganz kurz angedeutet wird. Wichtiger sind womöglich die "kinder": gleich ob sie im zweiten oder dritten jahrsiebent stehen erfordern sie - als jedenfalls noch nicht bürgerlich gewordene menschen - nicht ausgeblendet zu werden · und als objekte der beobachtung mögen sie mit ihrer vorliebe für den fluss gar erfreuen. Als lästige krachmacher wie in T011 werden sie hier jedenfalls nicht mehr empfunden. Dort aber war ja auch noch die freundin dabei. War das die zeit als die seele verloren ging?

Es ist aber auch in betracht zu ziehen dass das adjektiv "gediegen" einen sehr bürgerlichen wert bezeichnet. George verwendet es in der lyrik nie. Womöglich soll es zum  lob dieser landschaft nicht nur beitragen sondern es zugleich mit einem ironisierenden unterton ergänzen und damit den zweifel andeuten ob sie wirklich zur heilung der seele beitragen kann. Auch ist nicht zu übersehen dass die sehr autonom wirkenden »kinder« (Kafkas "Kinder auf der Landstrasse" sind ihnen darin ganz ähnlich) den besucher nicht einmal wahrzunehmen scheinen. Das heisst allerdings  nicht zwingend dass jeglicher therapeutische wert allein der weitgehend menschenleeren landschaft zugesprochen werden soll.

George mied das alleinsein erst nach dem krieg · jeglichen verkehr mit bürgerlichen und überhaupt den meisten erwachsenen aber zulezt strikter denn je. Morwitz wiederum beschränkte in seinen lezten dreissig jahren alle über frühere schüler hinausgehenden kontakte auf das allernötigste (nur kindern schaute er auch später noch gern zu) und am liebsten niemanden sehen wollte der von allen dennoch hoch geschäzte Ernst Gundolf. Der George-Kreis in dem man sich siezte war nie ein freundeskreis. Erst seit den zwanziger jahren wurde unter den jüngeren ein weniger distanzierter umgang gepflegt. 

Buchstäblich im mittelpunkt der dreiergruppe steht jene begegnung mit dem »familien-erbstück«: sie wurde für den jungen mann zu einem schlüssel-erlebnis. In dem »schönen stillen klugen kind« - die lauten kinder vom flecken (T011) dienen also als folie dazu - dessen büste auf einem kaunitz stand (einem zum sekretär aufklappbaren schrank wie ihn Maria Theresias staatskanzler Kaunitz besass) muss er ein alter ego seiner selbst erkannt haben und sogar einzelheiten wie jene für die identifizierung womöglich ausschlaggebende »schmerzensfalte« haben sich ihm so eingeprägt dass andererseits seine gleichgültigkeit noch stärker hervortritt die er schon in der jugend gegenüber den anderen hier auftretenden menschen empfand · die er nie gesehen zu haben glaubte und die ihn doch noch immer freundlich begrüssten: wie offenbar der früh verstorbene knabe der als büste im glasgehäuse nicht ohne feierlichkeit verehrt wird - der ehrfurcht gebietende und wie ein kirchenraum kühle saal dient keinem profanen zweck mehr - hat auch er auf andere immer eindruck gemacht - die anderen auf ihn nicht. So bezeichnet T014 die geburtsstunde eines selbst-bewusstseins · der festen überzeugung von der eigenen besonderheit von beginn an. T014 ist aber zugleich die vorbereitung des kommenden - des Maximin-kults. Dem wird von vornherein das stigma des unerhörten und einmaligen genommen indem er schon hier in eine familiäre tradition eingebettet wird . .  die George lediglich übernimmt wie eine vererbte anlage. 

T02  DER KINDLICHE KALENDER

und küssten das niedergelegte Heilige Holz : geküsst wurden »die Wundmale des Herrn« (M).

die uralten klageweisen über den untergang der Stadt : Jerusalems spätere zerstörung durch die römer wurde als strafe für das karfreitagliche handeln der juden aufgefasst.

diptam : Georges mutter wird hier zu einer art wiedergängerin der Hildegard von Bingen gemacht die das pulver der diptam-wurzel als mittel zur entkalkung beschrieb. Angespielt wird auch auf den hohen ölgehalt der pflanze (Dictamnus albus) die sich an heissen tagen selbst entzünden kann und daher auch »Brennender Busch« genannt wurde. Sogar Goethe soll sie selbst angebaut haben. 

bildsäule des Stadt-Heiligen : in Bingen also des heiligen Rochus

Von der ersten annäherung an den kult der zukunft geht nun der blick zurück zu dem der die eigene vergangenheit bestimmte. Abwertende töne werden an keiner stelle ausgesprochen - so wenig wie gegenüber der ländlichen bevölkerung in den SONNTAGEN. George bevorzugt weniger direkte andeutungen die seinen abstand bezeugen. Beide prosastücke entstanden ungefähr zur gleichen zeit (M). Doch war der KALENDER in der erstausgabe noch nicht enthalten. M glaubt dass George so früh noch nicht bereit war persönliches aus seinem zweiten jahrsiebent mitzuteilen. Dabei erfährt man doch gerade nicht was der junge katholik über den glauben seiner eltern und seiner heimat empfand. Mitgeteilt wird in der art kindlichen erlebens nur der ablauf des sichtbaren - gesten und kultische handlungen etwa  - während das innere verschlossen bleibt. M erklärt damit sogar das fehlen von absätzen deren notwendigkeit einem kind noch nicht bewusst sei. Es ist so oft nur von Ernst Morwitz’ angeblicher strenge als erzieher die rede. Dabei erweist er sich immer wieder als kundiger und verständiger anwalt begabter junger menschen · darin George weit überlegen.

Dieser KALENDER wird durch das kirchenjahr bestimmt. Er beginnt daher auch - anders als M meint - nicht mit dem sechsten januar sondern der geburt Christi und endet mit den »Kunfttagen« der adventszeit (insofern nur leicht vom kirchenjahr abweichend). Allerdings werden weihnachten ostern und pfingsten nur aufbegehrend geringschätzig gestreift: gerade die zentralen glaubensinhalte hinterliessen schon bei dem knaben keine starken eindrücke mehr und der erwachsene sprecher bemüht sich nicht einmal diesen eindruck zu verwischen oder zu entschuldigen.

Die von der landwirtschaft bestimmte profane kultur kennt ähnlich fest gefügte abfolgen die sich dem kindlichen erleben tief einprägen wie schliesslich auch die für die jahreszeit bezeichnenden wetter-ereignisse. Achtzehn tagen des kirchenjahrs stehen neun ereignisse des weltlichen lebens weniger gegenüber als dass sie mit ihnen verbunden sind. 

Niedliches und süssliches · osterhasen und weihnachtsmänner vergiften diese kindheit noch ebensowenig wie das beständige spekulieren auf geschenke. Nie drängen sich besorgte und behütende erwachsene hinein. All das gibt ihr eine würde die jeder heutigen kindheit längst genommen ist. Es ist folgerichtig wenn Morwitz den KALENDER 1925 George gegenüber als das »schönste des ganzen Bandes« bezeichnete.

Der fiktionalen litteratur kann diese chronologie nicht mehr zugeordnet werden. Dass »wir« ausschliesslich Stefan George und zudem womöglich noch seine beiden geschwister meint (die bei M allerdings keine erwähnung finden) steht ausser frage. Ihre mutter wird einmal in anerkennender weise hervorgehoben - die priester bleiben blass und die schule wird ganz übergangen. Noch zwei weitere male werden die grenzen einer dokumentation überschritten: mit dem für George fundamentalen gedanken dass menschen erst durch begeisterung schön sein können - die bei den »kindern des volkes« gewöhnlich nur als religiöse ergriffenheit auftritt (mehr dazu unter T062). Für M beruht das schöne »erscheinen« der kinder lediglich auf »der Blässe und Andacht auf ihren Gesichtern« während er ihre plumpheit nicht auf gesichtszüge oder körperformen bezieht sondern auf »ihr Alltagsgebaren« das Georges schon »früh entwickeltem Geschmack« nicht gefallen konnte. Hinzu kommt die ebenso fundamentale einsicht in die wirkmacht des geschichtlichen (fundamental weil aus ihr George noch hoffnung schöpfen zu können glaubte) die jener des gegenwärtigen und nur vermeintlich alles bestimmenden überlegen ist: der germanische wotansglaube hat sich noch immer erhalten während der »heutige gott« eigentlich »schon in vergessenheit geriet« (was freilich nicht bedeutet dass George wie zu seiner zeit andere im ernst eine erneuerung des germanentums wünschte). 

Georges humanistische einstellung zur kirche lässt sich damit leicht erkennen. Sie kündet einen glauben dem die zukunft nicht mehr gehört. Trotzdem machte sie (wenigstens noch junge) menschen schöner · und sei es für einige augenblicke. Solange sie das noch vermag würde ihr endgültiger untergang nichts bessermachen. 


T03  TAGE UND TATEN T0301-11

Die elf prosastücke entstanden wol zu beginn der neunziger jahre aber nur die ersten acht wurden schon 1893 und 1894 in den BfdK veröffentlicht. Der vierte fünfte und sechste abschnitt müssen schon vor dem juni 1891 vorhanden gewesen sein. 

An den meisten ”tagen” geht es nur darum den schmerz zu betäuben zu vergessen oder zu lindern. Wer auch ”taten” erwartet wird nicht zufriedengestellt.

T0301 HEIM

Den engen raum mit den grünen vorhängen an fenstern und türen ordnet M nicht dem elternhaus in Bingen zu. Möglicherweise sei eine unterkunft in Berlin (also während des studiums oder bald danach) gemeint. Offenbar steht der auszug kurz bevor. Die empfindlichkeit angesichts der von der strasse heraufgetragenen töne eines leierkastens und das bedürfnis sich anzulehnen mögen damit zu tun haben. Der augenblick scheint beinahe schmerzlich daran zu erinnern dass der »wanderer« - es ist die zeit der PILGERFAHRTEN - sich ein leben gerade ohne ein »heim« auferlegte. Besser begründet erscheint aber Ute Oelmanns vermutung dass ein raum im elternhaus von Ida Coblenz gemeint sei (SW XVII, 108). Es wäre ein 5206 ohne Isi. Ohnehin steht der ganze zyklus T03 dem bedrückenden WALLER IM SCHNEE recht nahe.

T0302 Ich bin wieder da

Im schnee liegt auch der park mit den putten den der sprecher im sommer aufsuchte wenn er allein sein wollte. Eingedenk des damaligen schmerzes ist »vergängnis« ein eher trost oder gar hoffnung weckender begriff - das gilt erst recht für »vorfrühjahr« und so ist auch der schmerz schon schwächer geworden. M bezieht ihn auf die begegnung mit Hofmannsthal im dezember 1891 - und die anschliessende strassen-szene T0303 auf München. 

T0303 Auf dem kaum genässten boden

Die maiglöckchen die damals als geschenk gern von liebenden gekauft wurden kann der sprecher für sich nicht anders als unpassend empfinden: er hat dafür so wenig übrig wie das strassenpflaster für den weihrauchdampf der aus einer kirche quillt. Der bittere vergleich zeigt doch aber nur wie sehr der sprecher »obwohl unausgesprochen« von »dem Wunsch zu lieben erfüllt« ist (M). Dieser abschnitt ist ein besonders guter beweis dafür dass lyrik auch in prosaform auftreten kann. Ganz widersinnig ist dagegen der seit langem auch von deutschen germanisten gern verwendete begriff »Prosagedicht«. 

T0304 NACH DEM WETTER

Nach dem nächtlichen unwetter ist es kälter geworden und die schon etwas verblassten fliederblüten duften daher kaum noch. Es ist ein kirchlicher feiertag (vielleicht Christi Himmelfahrt) · man hört das geläut der glocken und so erinnern die zu boden fallenden blütenblätter der kastanienbäume an das wachs das in der frühmesse von den kerzen tropft. M will darin ein bild für die tränen erkennen die im zusammenhang der begegnung mit Hofmannsthal fielen. 

T0305 REDEN MIT DEM WIND

Der weg bergan ist anstrengend und durch den vom wind aufgewirbelten staub besonders unangenehm. Trotzdem beschwert sich der wind dass der sprecher die natur nicht mehr so preist wie gewohnt: die frische luft die stimmen des bachs und der vögel die im frühling blühenden hecken und die bewegten gräser. Die antworten des sprechers zeigen die veränderungen die in ihm stattfanden: eine nüchterne bescheidenheit gegenüber der natur (der atem oder zarte duft unscheinbarer blüten am wegrand genügt ihm) und das interesse an menschen haben zugenommen. »Der Dichter hat mit dem Suchen nach Gefährten begonnen, Natur vermag ihn nicht mehr allein voll zu erfüllen« (M). Der dialog wird deshalb abgebrochen: den lezten satz könnten beide partner gleichermaassen sprechen. Egyptien erkennt hier schon Georges überzeugung von der fremdheit zwischen mensch und natur die jedem aus dem ebenfalls scheiternden zwiegespräch mit dem drud im NEUEN REICH (922) geläufig ist. (Wk 2017, 804) Hier in T0305 geht es allerdings noch vorrangig um dichtung.

Wie so oft im frühling wird sich der winter aber als hartnäckig erweisen. Wie so oft bei George werden auf kurze ansätze des aufbruchs wieder unerwartet gegenläufige zeiten des zweifels und der müdigkeit folgen. So wird auch die natur in diesem zyklus noch einmal rehabilitiert werden.

T0306 Die heissen hände der sonne

Genau in der mitte trifft »duften« auf »duften«: bei George eigentlich wie ein selten vernommener misston der das mitschwelgen des lesers bricht. In wahrheit geht es um ganz anderes: die schwächung (durch sonne · dann durch duft). Der Echte Mehltau (in 9109 wird er ausdrücklich genannt) tritt bei heissem sommerwetter an zahlreichen kulturpflanzen auf deren dadurch eintretende erschlaffung oft nicht mehr rückgängig zu machen ist. Erst recht im gedicht ist er symptom und nicht ursache: das ist die zu starke strahlung der sonne. Das lob des süssen und starken dufts der weissen robinien-blüten (im volksmund wird oft von akazien gesprochen · wichtiger ist dass sie natürlich nur als stellvertreter für alles aufzufassen sind was die bereitschaft zur selbstaufgabe im rausch erzeugen kann) ist zweischneidig wenn der sprecher alles andere dafür wegwerfen würde: ebenfalls schwäche die tödlich enden kann. Auch dieser abschnitt dürfte wie der vorige T0305 als wendung gegen den ästhetizismus zu verstehen sein wie sie spätestens im ebenfalls 1891 entstandenen ALGABAL eingesezt hatte. Die leichtfertigkeit gegenüber dem sterben - sei es das eigene oder das anderer - wird dort in ähnlicher weise vorgeführt.

T0307 Trotz des beständigen warmen lichtes

Die müdigkeit scheint im herbstlichen dritten abschnitt erneut zu obsiegen bis zulezt doch noch - ohne alle drogen - echte heilung einsezt · begleitet vom schmerz des entzugs der zugleich erhebt.

T0308 FRÜHLINGSFIEBER

vorjahrhimmel : Das jahr beginnt für den ländlichen menschen gewissermaassen erst mit dem frühling. Januar und februar liegen also noch vor diesem jahresbeginn.  Hier aber könnte sogar gemeint sein dass der himmel so grau aussieht wie im jahr zuvor als die enttäuschungen mit Hofmannsthal kein sommerliches blau aufkommen liessen. Auch die „totenhände” der wolken sprechen dafür dass dieser himmel mit einem abgebrochenen erlebnis in verbindung steht.

drehen sich einige dürre bäume : die auf unheimliche weise belebt erscheinenden kahlen bäume sollten später bei Georg Heym zu einem berühmten lyrischen motiv werden - wo sie dann aber gar nicht mehr „zukunftsverheissend” (M) wirken. 

ein gewisser heiliger : Clemens I. - der dritte nachfolger Petri - wurde unter Trajan mittels eines um den hals gebundenen ankers im Schwarzen Meer ertränkt. Seine leiche konnte - so die legende - bereits in einem sarg liegend geborgen werden und die reliquien werden seit dem neunten jahrhundert in S. Clemente al Laterano bewahrt. Er gilt als schutzheiliger der seeleute. Die romanische Clemenskapelle liegt von Bingen aus rheinabwärts ebenfalls auf dem linken Rheinufer noch vor dem nachbarort Trechtingshausen (also wirklich ”nicht sehr fern”) und ist heute restauriert. Die recht stattliche basilika dient weiterhin als friedhofskapelle.

Das »fieber« äussert sich in der gleichzeitigkeit von »müdigkeit und unruhe« und den drängenden und doch wieder »unbestimmten wünschen«. Dabei lässt das wetter an den ersten etwas wärmeren tagen nur kleine ausflüge und zuerst sogar nur den sehnsüchtigen blick vom haus in die ferne zu hügeln und den flüssen zu (auf dem Rhein begann oder endete manche der reisen Georges). Da ist zwar die erinnerung an „goldumrandete wolken” schon verblasst. M ordnet das adjektiv Hofmannsthal zu (genauer: dem in den BfdK veröffentlichten „Tod des Tizian” und „Der Tor und der Tod”) der auch mit der anrede „an euch” gemeint sei. Da werden die „flatternden versprechungen” zu einem harten vorwurf. Der abnehmenden erinnerung an ihn stehe nun aber ein frühlingshaftes „Ansteigen des sinnlichen Begehrens” gegenüber. Noch aber schmerzt der blick auf eine solche zukunft - die „sonnengebadeten höhen” - das noch immer nur den anblick des ”grauen verschlissenen laubs des vergangenen sommers” gewöhnte auge dem die schon „blütenbedeckten bäume” noch ganz unbestimmt erscheinen. Erst abends · bei gestiegenem begehren · werden sie zu „hellblinkenden” aber noch schwankenden „gestalten”. 

Der dritte abschnitt - nach dem seltenen dreipunktigen „Einhalt” (M) - zeigt aber dass der blick doch immer wieder noch zurückgeht und das vergangene längst nicht vergessen ist. Denn nur die grünen zapfen der kiefern weisen in die zukunft während ein kunstwerk wie die frauenstatue dafür sorgt dass das fünfzig jahre alte kindergrab wie eine feier des erinnerns wirkt. 

Der gedanke wird beim besuch der zerfallenden kapelle variiert: jede leiche sollte (unter fürsprache des heiligen Clemens) aus dem fluss geborgen werden und ihre reguläre ruhe- und damit auch gedenkstätte finden können. Deshalb kann der uferweg seine beruhigende wirkung entfalten. Nun ist die freude „verdreht”: die beginnende aufbruchsstimmung ist bereits einer art ertaubung und blendung gewichen die sogar als woltuender empfunden wird weil das bedürfnis des trosts überdeckt wird. Das ist kaum anders als in T0306 wo sich der sprecher im duft der robinien betäubte und in -07 mit der wahrnehmung des eigenen sterbens. Das lebensgefühl der décadence wird hier noch mit sorgfalt gepflegt. Alle stimmungen zusammen ergeben erst die ganze landschaft des kunstvollen gebildes und ob ein „zitronengelber schmetterling” hindurchfliegt ist eine frage des „entschlusses” des künstlers. In der kunst scheint die ohnmacht überwindbar zu werden. Kaum ein gedicht ist besser als dieser prosatext geeignet um zu verstehen was symbolistische lyrik bedeutet. 

T0309 ZWEI ABENDE

zobelfelle : pelze des dem marder ähnlichen zobels galten um 1900 noch immer als besonders kostbar. Sie können von ganz unterschiedlicher farbe sein. Hier geht es aber um die form des ganzfells. Allerdings ist die gleichstellung solcher kostbarkeiten mit wertlosen schneeresten durchaus bemerkenswert. Die darin zum ausdruck kommende geringschätzung eines damals noch unverzichtbaren attributs luxuriöser lebensführung wird kein zufall sein und dürfte in der grundstimmung der décadence ihre erklärung finden. 

Noch immer sind die „tage” dem frühjahr nicht nähergerückt und auf der strasse liegt sogar noch das laub des vorjahres. Stärker als der schneidende kalte wind sind die hier „begierden” genannten wünsche der einsamkeit zu entfliehen. Es hilft nicht in den „saal von licht und lust” zu fliehen: ungewollt sieht man sich dort selbst als katze die von dem greifbar nahen vogel durch eine glasscheibe getrennt ist. Wenn mit dem saal die kunst gemeint ist wird hier das zulezt doch optimistische ergebnis des vorigen prosastücks geradezu widerrufen - nur um am zweiten ABEND von diesem widerruf wieder abzurücken: „glauben und stolz” können immer wieder neu erwachen - so „jäh” (also kaum steuerbar) wie der „entschluss” am ende von FRÜHLINGSFIEBER T0308 und hier nun die bei George eigentlichste geistige kraft: des schön-machens (sein „beschönigen” enthält ganz und gar nicht den vorwurf der unwahrheit). Der zyklus scheint nun doch noch den punkt erreicht zu haben wo „taten” denkbar werden. Das verlassen des hauses und der schritt durchs tor hinaus (wo zwei säulen das gitter halten) unterstreichen diesen eindruck. 

M bezieht beide ABENDE erneut auf die Hofmannsthal-begegnung im dezember 1891. 

T0310 PFINGSTEN

Es ist bezeichnend wie trotz der „spannung” in erwartung der ankunft der angeredeten - gemeint ist natürlich Ida Coblenz - das denken lieber abschweift zu den ohnehin „glücklichsten” kindheitstagen als „vom unsäglichen glück” geträumt und nicht geahnt wurde dass es vielmehr bald verschwunden sein würde. Auch damals gab es diese spannung und zweifellos ist der heilige abend gemeint wenn die glocken läuteten und das warten nur dank der vögel erträglich war die sich am gartenhaus futter suchten. Danach aber findet der sprecher nicht mehr zurück zu seinem eigentlichen thema. Von der ankunft möchte er doch nichts erzählen.

Es ist die gleichzeitigkeit von freude und schmerz die den wartenden erwachsenen an das wartende kind und seine geschwister denken lässt. Als „qualen und verzückungen” beherrscht dasselbe zwiespältige empfinden auch die gemeinsamen wanderungen des paars das doch kein liebespaar sein kann. Rhein und reblandschaft sind dafür freilich nicht verantwortlich und die absurde indirekte frage am ende des zweiten abschnitts macht nur deutlich wie sehr die einfache doch unaussprechliche antwort auf diese frage schmerzen würde.  

Immerhin wird - die begleiterin ist bereits nach hause gebracht - nun eingestanden dass die „qualen” schliesslich überwiegen. Aus der erwartungsvollen „spannung” des anfangs ist ein qualmender „scheiterhaufen” geworden (aus dem angezündeten schnittgut der winzer) der wie in einer vorschau erkennen lässt was von dem brand im eigenen inneren bald bleiben wird. Und die symbolik der roten mohnblüten deutet nichts gutes an. 

Vom tod ist aber erst im vierten abschnitt die rede. Er erinnert an das kaum weniger fragwürdige IM PARK 102 doch wirkt die abgegriffene und dennoch dick aufgetragene rhetorik als habe George hier den griffel gar nicht selbst geführt. Die mischung aus geheimnistuerei opferpose und bedeutungsschwangeren andeutungen und allzu durchschaubare grosse gesten wie die captatio benevolentiae „Ich erhebe keinen vorwurf” sollen unmissverständlich klarmachen dass dieser sprecher über die wahrheit lieber nicht sprechen möchte wenngleich er sie kennt - und für die altbekannte legende vom grossen opfer für die kunst glaubwürdigkeit gar nicht mehr im ernst beansprucht. 

Wie sehr ihn die schauspielerei erschöpft zeigt erst recht der lezte abschnitt: noch einmal ein gespräch mit der scheidenden freundin zu führen oder sich auch nur zu verabschieden (und dabei unvermeidlich ein wiedersehen wünschen zu müssen) wäre eine anstrengung der er sich nicht mehr gewachsen fühlt. Lieber wird sie in unwissenheit über die abgründe zwischen beiden gehalten. Mit ihrem naiven lächeln wirkt sie peinlich ahnungslos und Egyptien findet diese darstellung zu recht „uncharmant” (Wk, 806). Nur aus der entfernung beobachtet der sprecher ihren im tunnel verschwindenden zug dessen pfeifsignal ihm wie sein eigener hilfeschrei vorkommt. 

Auch M scheint sich bei T0310 nicht wolzufühlen und lässt ungewohnte schwächen erkennen. Die überschrift dürfte sich lediglich auf ein treffen während der pfingsttage beziehen und verlangt keine theologische ausdeutung an der sich M versucht. Auch Egyptien formuliert hier zurückhaltend (Wk, 805). Vermutlich soll mit ihrer hilfe am ende des vierten abschnitts angekündigt werden dass der sprecher noch während der pfingst-tage an denen alle die ausschüttung des heiligen geistes feiern („begeisterung” trifft damit auch die christenheit in ihrer festtagsstimmung) zumindest das „strahlende leben” beenden werde. Gerade das war aber doch im ersten abschnitt als mit dem ende der kindheit längst abgeschlossen dargestellt worden. Möglicherweise muss in diesem noch recht frühen text ein ironisches sprechen in erwägung gezogen werden. Ernst und eindrucksvoll bleiben aber der klang des „hilfeschreis” und das bild des beschwerlich ins dunkle schreitenden im leser zurück - und diesmal ist keine rede mehr von „beschönigenden” gedanken die am ende des zweiten der ZWEI ABENDE noch für den „freudenhimmel” sorgten. 

T0311 EIN LEZTER BRIEF

Der fiktive brief an Hofmannsthal ist mehr ein ausdruck der noch unbeherrschten enttäuschung als des hasses. Von „verzweiflung” zu sprechen fiel in PFINGSTEN gar nicht schwer (zweiter abschnitt) doch hier soll sie offenbar verborgen bleiben. Dem angesprochenen werden schönheit und begeisterung  - also alles entscheidende - zugestanden. Aber was er geben konnte war nicht mehr als „anmut” die der sprecher - obwol anmut allein schon so kostbar ist - als oberflächlich „leicht” empfindet und sogar zurückweist. Die haltlosigkeit seiner anschliessenden vorwürfe gibt er damit von vornherein selbst zu erkennen. Sie lassen die bittere kränkung und eine ohnmacht erkennen die zulezt hinter einer geste versteckt wird die mit dem abbrechen einer nie wirklich vorhandenen beziehung handlungsfähigkeit vortäuscht. Aber welche souveränität ist nötig um im nachhinein die eigene schwäche so offenzulegen.

Oelmann bezieht den brief auf Ida Coblenz die von ihm „erst 1937” erfuhr und ihn „als an sich gerichtet betrachtete” (SW XVII, 110f.). Dem folgt auch Egyptien (Wk, 806f.). Dabei zeigt M dass George durch zitate aus werken Hofmannsthals (das reden von den wolken den wäldern und der ländlichen flöte) den schlüssel zur lösung dieser frage selbst lieferte. Dass auch die in T0310 angesprochene lächelt belegt nicht ihre identität mit dem empfänger des briefs.

 

T04  TRÄUME T041-5

Die ersten vier dieser fünf „Angstträume” (M) wurden in den BfdK schon zehn jahre vor der buchausgabe veröffentlicht - die beiden ersten damals noch unter der überschrift „Night-Mare”.  

T041 DIE BARKE

Der traum von dem untergang eines schiffs bricht vor dem tod der passagiere ab so dass vom unvermeidlichen sterben im futur gesprochen werden kann. Als steuermann trägt der sprecher die ganze verantwortung. Ihr nicht gerecht werden zu können macht das eigentlich albtraumhafte aus. DIE BARKE ist der angsttraum eines führers. Der aber hat eigentlich nur angst davor dass seine willenskraft nicht ausreichen könnte.

T042 ZEIT-ENDE

Ohne ihn sind alle einer sie lähmenden mutlosigkeit ausgeliefert. Dem verbissenen pressen der zähne auf die unterlippe in der BARKE stehen hier ganz andere gesten gegenüber: das liegen und das zittern. Der sprecher aber überblickt das geschehen in der stadt und vermag zugleich aus dem innern der zugabteile von dem wol aussichtslosen versuch der wenigen zu berichten das vermeintlich rettende gebirge zu erreichen. Seine eigene beteiligung oder berührung lässt sich nicht erkennen. Vielleicht ist er dem ende der zeit enthoben wie später die vermeintlich tote „mutterstadt” in 7113.

T043 TIHOLU

Erst recht ist TIHOLU vordergründig kaum noch als angsttraum des sprechers zu bezeichnen der nur wie der reporter in einem krisengebiet erscheint. Aber auch dieser begriff ist zu hoch gegriffen. Es ist ja gerade kein anzeichen einer krise wenn die hochmütigen ihre verdiente strafe - hier als erniedrigende angst - erhalten. Freilich ist in erwägung zu ziehen dass der träumende seine eigene zugehörigkeit zur gruppe der bestraften verdrängt (was ihm in T045 nicht mehr gelingt). Eher scheint sich aber wol auch hier schon das grosse George-gedicht 7113 in grundzügen anzukündigen. 

M weist darauf hin dass George „bisweilen über die Auslegung von Matth. 12,31ff.” sprach wo es um das nicht-verzeihen geht wenn menschen nicht dem Heiligen Geist folgen (sondern wie in Dantes Hölle einem eigenen engel). 

T044 DER TOTE SEE

Hier geht es um die angst einem hin-und-her-gerissensein ausgeliefert zu werden in dem - darauf deutet die endzeitliche landschaft - mit schwerwiegenden folgen eine falsche entscheidung gefällt werden könnte oder die rettende entscheidung gar nicht mehr möglich ist. Beklemmend bleibt die frage warum der tote see - sinnbild der selbstzerstörung - überhaupt eine solche anziehungskraft entwickeln kann. Der glaube an die rationalität des menschen ist hier ganz abhanden gekommen. Ein traum kann ja auch sehr hellsichtig sein. 

T045 DER REDENDE KOPF

Wie im ersten der träume versagt der sprecher auch im lezten. Und mehr als im vorlezten erschüttert ihn nun selbst der offensichtliche einbruch des irrationalen in seine welt die er als eine beherrschbare vorführen wollte ohne sich darüber im klaren zu sein dass er mit seiner ankündigung den boden der rationalität schon selbst verlassen hatte. Nun ist er - anders als noch in T043 - doch selbst einer der für seinen übermut bestraft wird. Offenbar soll dieser traum wie eine kindheitserinnerung wirken. Aber M sieht in den freunden die Münchner kosmiker.  

Die maske mag an die berühmte römische bocca della verità erinnern der man aber die lippen nicht erst spalten muss um gebissen zu werden. 

T05  BRIEFE DES KAISERS ALEXIS AN DEN DICHTER ARKADIOS T051-7

Die ersten vier briefe wurden wiederum schon 1892 und 1893 in den BfdK veröffentlicht während der fünfte und sechste sich erst in der buchausgabe von 1903 finden. Der siebente brief fand sogar erst 1925 aufnahme. 

Die herstellung einer exakten historischen situation ist gerade nicht beabsichtigt. Es gab nie einen dichter dieses namens der wol einfach an das griechische Arkadien im inneren des Peloponnes erinnern soll das mit seinen viehherden und hirten von jeher als inbegriff ländlicher idylle gilt. Das von Arkadios so geschäzte Malakoi Potamoi kommt diesem eindruck nahe. Und bei dem namen Alexis denkt man allenfalls an die dynastie der Komnenen die im hohen mittelalter Byzanz und im späten ein vierteljahrtausend lang das kaiserreich Trapezunt beherrschten. Die anderen namen haben dagegen einen hellenistischen hintergrund. Der bildhauer Lysipp lebte tatsächlich - aber in alexandrinischer zeit. Seleukos war ein feldherr Alexanders herrschte anschliessend über die bekannten residenzen der perserkönige und begründete das diadochenreich in Syrien. Auch die nachfolger trugen seinen namen. Herrscher namens Eumenes regierten wiederum das pergamenische reich in kleinasien. Aber der Eumenes der BRIEFE ist gar kein herrscher während ihr Seleukos dem nüchternen tatmenschen der historie durchaus ähneln dürfte.

Hingegen sind datumsangaben wie „nonen” oder „opora” dem römischen kalender entnommen.

T051 ARKADIOS AN ALEXIS

meinen gesängen : es sind natürlich gedichte gemeint von denen wenigstens einige aber auch dem „preisen” des kaisers dienen. Dabei könnte es sich um eine art staatspropaganda handeln wie sie etwa Augustus über Maecenas bei den dichtern seiner zeit in auftrag gab. Inwieweit gefühle im verhältnis zwischen den briefpartnern eine rolle spielen oder ob das lob des herrschers nur in herkömmlich schmeichlerischer weise dessen erwartung erfüllen möchte lässt sich anhand des ersten briefs noch nicht entscheiden. Am ende hat es den anschein dass Alexis je schwieriger seine situation in der hauptstadt sich gestaltet sein persönliches heil nur noch in Arkadios sieht der seinerseits völlig undurchsichtig bleibt.

Es ist kann keine strafe gewesen sein wenn Alexis den jungen dichter nach Malakoi Potamoi verbannte. Als schmerzlich wird allein die räumliche trennung von dem wolgesonnenen cäsar bezeichnet. Die „kühlen gartenländer” und die warmen quellen die dem ort den namen gaben erzeugen die angenehme wirkung eines ländlichen kurorts in dem sich wolfühlt wer auf „lärm und glanz” des palastes nichts gibt und mit hilfe der pflanzenwelt und der eigenen fantasie die zahlreichen mussestunden zu füllen vermag. Die „gleichmässige behaglichkeit” wird nicht als langeweile sondern als „gnade” empfunden die einen dankesbrief erfordert. Freilich darf angemerkt werden dass der spätere George eine so dekadente rentner-mentalität nicht mehr schäzte - schon gar nicht bei einem jugendlichen. In den Kreis wäre der doch allzu weichliche Alexis wol kaum aufgenommen worden: das menschliche leichtgewicht hätte auch sein charme nicht lange verborgen.

T052 ALEXIS AN ARKADIOS

In herzlichem ton begründet Arkadios die „entfernung” des erst unlängst gewonnenen freundes vom hof. Der kaiser verfügt augenscheinlich nicht über die unbeschränkte machtfülle eines antiken tyrannen und nicht alle am hof sind ihm wolgesonnen - so fühlt er sich verpflichtet für den schutz des lieblings zu sorgen aus dessen liedern er „unversiegliche lust” schöpft obgleich die antike gattung der nänien gerade nicht preislieder sondern eigentlich trauergedichte umfasst. Schillers berühmte „Nänie” aus dem jahr 1800 beweint die vergänglichkeit des schönen und nennt als beispiele den vorzeitigen tod der Eurydike des Adonis und natürlich Achills. „Lust” mag also daher rühren dass Arkadios’ gedichte dem Alexis als erinnerung an den abwesenden taugen - er betont dies ja selbst - weshalb er sie „überallhin” mit sich führt. Zugleich wird aber auch eine melancholische veranlagung des kaisers angedeutet. Wie Algabal liebt er das flötenspiel - zumindest die flötenspieler - was dem mächtigen Seleukos wol aus finanziellen gründen ein dorn im auge ist. 

T053 ARKADIOS AN ALEXIS

Auf die ausführungen des kaisers - insbesondere dessen ankündigung zu beginn der heissen jahreszeit im juli und august Alexis besuchen zu wollen wird hier gar nicht eingegangen. Stattdessen erzählt dieser die etwas rührselige geschichte der begegnung mit einem marmornen Dionysos des Lysipp die ihn habe weinen lassen weil er durch sie die unvollkommenheit seiner eigenen kunst erkannt habe. Allerdings geht seine bescheidenheit nicht so weit zu verschweigen dass ihn die musen der hymnischen dichtkunst und der liebeslyrik - aus wertschätzung für seine verse - dafür getadelt hätten. Freilich konnten sie es ja auch von berufs wegen nicht zulassen dass die bildhauerei über die dichtkunst gestellt wird.

T054 ALEXIS AN ARKADIOS

Darauf geht nun wiederum Alexis überhaupt nicht ein. Aber es wird deutlich wie jung der kaiser selbst noch ist: er muss sich anweisungen seiner mutter - der „Augusta” - gefallen lassen die offenbar den Seleukos als eine art regenten oder vormund für Alexis mit der eigentlichen macht ausgestattet hat. Das scheint gute gründe zu haben: er ist politisch viel zu unerfahren wenn nicht sogar zu weich für das herrscheramt das er wol nur dem namen nach bekleidet. So bleibt ihm nur die bestrafung des Eumenes für seine angebliche respektlosigkeit ohnmächtig hinzunehmen. Alexis hätte den freund "wegen seiner jugend" lieber verschont - ohne zu bedenken welches zeichen der schwäche er seinen gegnern am hof damit gegeben hätte. Im NEUEN REICH wird George das bild eines herrschers zeichnen der aus ganz anderm holz geschnizt ist: Ili (924). Hier aber muss Alexis unter schmerzen erst noch lernen dass das staatsinteresse über dem persönlichen steht - ähnlich wie Friedrich von Preussen als er der hinrichtung Kattes beiwohnen musste. 

T055 ARKADIOS AN ALEXIS

Die anteilnahme am tod des gemeinsamen freundes hält sich in den grenzen des üblichen. Dass der dichter angesichts des erwiesenen unvermögens des kaisers auch nur die nächsten freunde in der hauptstadt notfalls schützen zu können seinen aufenthalt im exil nun mehr denn je freudig begrüsst - aus dem tragischen tod also „einen erquickenden tropfen” für sich selbst zieht empört M so sehr dass er wie selten einmal alle zurückhaltung aufgibt und den Arkadios eines egozentrischen charakters bezichtigt. Der aber plaudert bereits wieder über seinen belanglosen alltag · berichtet gut gelaunt dass die einheimischen inzwischen ihre scheu ihm gegenüber ablegen und schliesst mit einer eloquenten schmeichelei ab. 

T056 ALEXIS AN ARKADIOS

Unterdessen scheinen sich die aussichten auf eine rückkehr an den hof zu verbessern. Denn aus der rehabilitierung der schönen fürstin Heliodora und der beendigung ihrer verbannung auf eine insel der Ägäis kann Alexis hoffnung schöpfen. die er nun mit dem freund teilen möchte. Dass der das behagliche und sichere Malakoi Potamoi wo auch noch alle so nett zu ihm geworden sind lieber gar nicht mehr verlassen möchte hat der sehnsuchtsvolle offenbar gar nicht verstanden.

Der Heliodora war vorgeworfen worden sich gegen zahlung einer unermesslichen belohnung dem schwerreichen Harmodios hingegeben zu haben. Indem Alexis seine zustimmung zu ihrer wiederzulassung am hof damit begründet dass sie körperliche schönheit mit unerhörtem reichtum verbindet und in diesem "ausgleich" (der begriff ist hier völlig widersinnig) sogar "fast eine fügung des schicksals" erblickt offenbart sich die ganze oberflächlichkeit des ästhetizisten. Ein herrscher ohne verständnis für recht und die richtigen maassstäbe für gerechtigkeit war auch nach antiker auffassung immer ein unfähiger.

T057 ALEXIS AN ARKADIOS

M meint dass George ursprünglich beabsichtigte zwischen den sechsten und siebenten brief weitere einzuschieben und aus diesem grund die veröffentlichung des siebenten so lange aufschob der inhaltlich wiederum nicht unmittelbar an den sechsten anschliesst. 

Hier wird nun endgültig klar dass Alexis das weitaus weniger befriedigende leben führt. Die klimatischen bedingungen in der stadt sind unangenehm geworden · die allgemeine stimmung nach dem ende der verhandlungen (über tributzahlungen?) mit den offenbar bedrohlichen skythen ist bedrückend und der alltag bietet dem musisch interessierten kaiser angesichts der staatsschulden bei den kaufleuten in Kilikien (im südosten kleinasiens) kaum mehr als die beschäftigung mit zinstabellen. Darüber hinaus ist nun auch der lezte aus dem ehemaligen freundeskreis verloren gegangen: Hilarios interessiert sich nur noch für seine beiden freundinnen aus Klazomenai. So erscheinen der unmittelbar bevorstehende besuch in Malakoi Potamoi und das wiedersehen mit dem verbliebenen freund dem kaiser wie eine rettende flucht. 

Die BRIEFE sind fragment geblieben - vielleicht gar ein fragment aus fragmenten - denn Georges denken gab die nähe zur décadence und zum ästhetizismus die hier von dem freundespaar vertreten werden rasch auf und anstatt die BRIEFE anzupassen die schon mit dem ALGABAL überholt waren - Algabal ist ja bereits viel tatkräftiger und politisch wie künstlerisch begabter als der bloss passive ALEXIS - entwickelte George mit dem BRAND DES TEMPELS 924 ein neues konzept in dem die schönheit zurücktritt und politik und geschichte alles bedeuten. Dafür aber wurde dieses konzept in gebundener rede dargebracht und die prosaform somit aufgegeben. Die BRIEFE kamen als museumsstück in TAGE UND TATEN und dokumentieren nur noch einen überwundenen entwicklungsschritt.

T06  ALTERTÜMLICHE GESICHTE T061-2

gesichte : anblicke (wie in 5101) 

Die beiden für das Georgesche denken - insbesondere sein geschichtsbild - zentralen prosastücke finden sich genau in der mitte von TAGE UND TATEN. Das erste hat einen antiken das zweite einen frühchristlichen hintergrund aber beide beziehen sich aufeinander nicht nur weil in beiden akte einer göttlichen offenbarung eine wichtige rolle spielen. Die veröffentlichung von T061 erfolgte 1896 in den BfdK. Hingegen erschien T062 erst 1903 in der buchausgabe.

T061 EINE ERINNERUNG DES SOPHOKLES

dirnen von Attika oder Mytilene : pars pro toto. Gemeint sind eigentlich alle frauen und nicht allein die prostituierten von Athen oder Lesbos. Doch soll hier der schein einer abwertung der üblichen form der geschlechtlichen liebe vermieden werden - obwol doch gerade in der rede von den rot bemalten lippen der frauen eine kleine verächtlichmachung empfunden werden mag.  

T061 kann als kommentar zu den BRIEFEN verstanden werden insofern hier der durch die BRIEFE aufgeworfenen frage nachgegangen wird ob die liebe zu einem menschen zu rechtfertigen ist wenn dieser - wie es bei Arkadios der fall ist - charakterliche schwächen aufweist. Dem arglosen und unerfahrenen Alexis waren die unzulänglichkeiten des charmanten schmeichlers nicht aufgefallen. Nun aber wählt George für die rolle des liebhabers den mann der wie vielleicht kein zweiter in der griechichen antike den menschen schlechthin - und erst recht seine begrenztheiten - durchschaut hatte: Sophokles. Hier lässt er den tragödiendichter über seine trauer sprechen die im verlust zweier junger freunde begründet ist. Antilochos habe sterben wollen was nicht unbedingt auf einen freitod deutet sondern eher als ein hadern mit seiner entscheidung zu verstehen ist sich einer militärischen laufbahn zuzuwenden. Alles weitere wird nur durch den namen angedeutet. Denn auch der junge freund Achills hiess Antilochos - und fiel im trojanischen krieg. 

Die kurze erwähnung des Antilochos hat hier nur die aufgabe die menschliche fragwürdigkeit des zweiten freundes noch stärker hervortreten zu lassen. Aber nicht Sophokles darf diese fragwürdigkeit zur sprache bringen - dafür ist er zu verliebt. Deshalb führt George einen gesprächspartner ein: Polidor dem Sophokles ein unbestechliches urteilsvermögen zugesteht so dass der leser leicht erkennt: es ist die wahrheit wenn Polidor sagt dass Charilaos nicht mehr sei als „ein junger flötenspieler der bald unter den mädchen von Samos und Trinakria singen und tanzen wird”. Samos und Sizilien galten in der antike als orte eines besonders luxuriösen und oberflächlichen lebensstils. Wer also Athen aufgab um dort zu leben verriet so viel über sich wie ein heutiger der seinen wohnsitz nach Ibiza verlegt. Polidor bietet Sophokles einen wolgemeinten trost an · geboren aus einem nüchternen blick auf die wirklichkeit wie ihn viele besitzen. Nur sein name lässt den leser aufhorchen: er bedeutet „gabe der menge”. Und was die menge denkt hat bei George selten einen wert (auch wenn gleich das anschliessende prosastück eine der seltenen ausnahmen bietet - die aber nur unter der ganz besonderen bedingung eines religiösen ergriffenseins möglich sind).

Sophokles hingegen wollte - am anfang des textes - der von Polidor formulierten wahrheit lieber nicht so fest ins auge schauen: Charilaos sei eben „nach einer fernen insel gezogen”. Aber selbst der zweiten feststellung des klugen Polidor widerspricht er nicht: dass Charilaos nur aus eitelkeit die beziehung zu dem berühmten und überall hoch geehrten dichter eingegangen ist (ging doch etwas vom gesellschaftlichen ansehen des liebhabers auch auf den geliebten über). Alle einsicht vermag nicht seine „sehnsucht zu besiegen”. Deshalb ist er auch als dichter wie gelähmt - und leidet darunter noch „lange tage” nach dem abschied. 

Erst die aufreizend zugespitzten äusserungen eines „alten wahrsagers” haben therapeutische wirkung und lösen die verkrampfung. Er wirkt wie eine entsprechung zu Platons seherin Diotima im Symposion und seine worte - die freilich in eine andere richtung zielen - gewinnen dadurch an gewicht. Sophokles solle ohne sich zu schämen seinen schmerz in aller tiefe durchleben sogar „wenn Charilaos leichter ist als ein halm auf dem wasser”. Dem Polidor wird damit ganz entschieden widersprochen. Und der wahrsager spricht vom augenblick seiner eigenen erleuchtung - nicht unter einem feigenbaum aber unter der von blitzen erhellten „bildsäule des gottes der frohen jugend” (den das antike Griechenland wie M eingesteht gar nicht kannte) · der erkenntnis eines „grossen geheimnisses”: worin die erfolge Spartas auf dem schlachtfeld - M denkt angesichts der auf das ländliche leben ausgerichteten erziehung junger spartiaten auch an äcker - ebenso wie der glanz der attischen kultur eigentlich begründet waren. M und Egyptien (Wk, 810f.) sehen allerdings Sophokles als den sprecher des lezten satzes. Dann wäre das geheimnis dem Sophokles erst viel später aufgeschlossen worden während der wahrsager doch das perfekt verwendet. Jedoch ist es denkbar dass zwischen dem blossen aufschliessen des geheimnisses und seinem eigentlichen erkennen unterschieden werden muss: so wie das aufschliessen eines tors nicht das hindurchgehen ersezt wie nicht erst seit Kafka bekannt ist. Die liebe zu dem ihrer eigentlich unwürdigen Charilaos wäre dann dadurch gerechtfertigt dass sie Sophokles erst reif machte für die erkenntnis unter der bildsäule. Denn das geheimnis bleibe - so der wahrsager - allen verschlossen die nur von der liebe zu den frauen und ihren künstlich roten lippen wissen.

Die aufwendige konstruktion wäre aber völlig unnötig. Naheliegend ist dagegen dass der wahrsager nur davon sprechen wollte wie ihm selbst das geheimnis aufging: als akt der offenbarung durch ein Göttliches. Er bedurfte dazu keines liebes-erlebnisses. Einem angehörigen seiner zunft wird man das mehr als jedem anderen abnehmen. 

T062 ALTCHRISTLICHE ERSCHEINUNG

Elidius : M vermutet eine bezugnahme auf die antiken olympischen spiele wo die wettkämpfer nackt antraten. Olympia liegt auf dem Peloponnes in der landschaft Elis. Das verbot der spiele 394 durch den kaiser Theodosius steht beispielhaft den vernichtungskampf des christentums gegen die antike während George die vision der synthese beider welten vorträgt. Aufgrund der ersten neuzeitlichen olympiade 1896 war das motiv in der entstehungszeit des texts überaus aktuell.

dem vergitterten chor : die chorschranke trennte seit dem frühen mittelalter den bereich des altars oder chorraums - in klosterkirchen befanden sich hier die mönche - von dem für besucher und laienbrüder vorgesehenen kirchenraum · in einer basilika also dem haupt- und den niedrigeren seitenschiffen. 

mitra : die im gegensatz zum flachen pileolus eher kronenförmige kopfbedeckung von geistlichen in christlichen kirchen. In manchen kirchen ist sie den erzpriestern vorbehalten. Auch hier ist der erzpriester ein besonders herausgehobener geistlicher.

Der anschein eines berichts der in chronologischer reihenfolge ausschliesslich äussere vorgänge - George bietet ein feuerwerk an gesten - im präteritum aneinanderreiht und über die basilika als einzigen ort des geschehens nicht hinausgeht kann natürlich nicht darüber hinwegtäuschen dass hier allenfalls ein erträumter vorgang zur „erscheinung” kommt. Das prosastück ist somit ein herausragendes beispiel Georgescher kunst in der alles verurteilende zu vermeiden gesucht wird solange stattdessen auch gepriesen werden kann - selbst wenn zu diesem zweck eine fata morgana errichtet werden muss. 

Im gotteshaus die stirn senkend und nichts als seinen „mantel von schatten und weihrauch” tragend verkörpert der ursprünglich heidnisch-antike Elidius die bislang verurteilte „sündige schönheit” des leibes mit der sich nun alle aussöhnen: die kirche als der erzpriester ihn auf beschluss der oberhirten die hand auflegend segnet und die menge deren „überirdischer” jubel wie zum dokument einer ausgiessung des heiligen geistes wird (wobei es fraglich ist ob hier von einer wirklich religiös begründeten begeisterung gesprochen werden kann). Damit hätte das christentum - einerseits klerus und andererseits laien - in seiner frühzeit aufgeschlossen zum kulturellen stand der besiegten antike wie er in ERINNERUNG gepriesen wird. Den als ALTCHRISTLICHE ERSCHEINUNG genial getarnten traum zu verwirklichen überforderte aber stets beide seiten.

T07  BILDER T071-8

In der erprobung eines damals noch nicht üblichen also möglichst sachlichen prosastils unter vermeidung aller „sentimentalität” sieht M das besondere dieser beschreibungen. Die veröffentlichung erfolgte 1893 und 1894 in den BfdK. 

T071 MUTTER GOTTES DES CIMABUE

Nur diese beiden sätze wurden erst 1925 der zweiten ausgabe hinzugefügt. Die maestà wird George in Florenz der heimatstadt des künstlers gesehen haben. Im späten dreizehnten jahrhundert wurde noch die bedeutungsperspektive berücksichtigt und so ist Maria gut doppelt so gross wie die engel mit ihren achtmal gleichen nasen. George nennt sie „brüder” weil sie alle nach demselben vorbild gestaltet sind - doch sehen sie wie schwestern aus. 

T072 EIN QUENTIN MASSYS

windröschen und veieln : buschwindröschen und stiefmütterchen

Das altarbild der Heiligen Sippe entstand im frühen sechzehnten jahrhundert für die gotische kirche Sint Pieter in Löwen wo Massys auch geboren wurde. Zur gleichen zeit war dort sein bruder verantwortlich für den bau der türme die dann eine selbst für die verhältnisse dieser kirche besonders dramatische zukunft vor sich hatten. Georges in die einzelheiten gehende beschreibung wird dem ausgeprägten realismus des malers gerecht. So verschweigt er nicht dass Massys den jüngsten angehörigen Christi nicht nur unschuld und andacht zuerkennt. Umgekehrt wird nichts hinzugefügt. Nicht einmal die heilige Anna · die mutter Mariens · wird namentlich genannt für deren altar das triptychon doch entstand: sie ist einfach nur die „alte Frau links”. 

SCHMUCKTRACHTEN DES DIERICK BOUTS:

Quentin Massys dürfte ein schüler von Bouts gewesen sein. Dessen ölgemälde finden sich jeweils im oberen teil der beiden flügel seines triptychons für den abendmahlsaltar der kirche Sint Pieter. Bouts hatte es in Löwen zum stadtmaler gebracht. Die beiden bilder waren lange zeit in der Alten Pinakothek zu sehen. Nach dem weltkrieg kamen sie zurück nach Löwen. 

T073 DAS OPFER DES MELCHISEDECH

Hier wird es ebenso gehandhabt: Abraham ist nur der „heerführer” und Melchisedech nur „der priester”. Das interesse gilt wie die überschrift schon verrät allein der wiedergabe von einzelheiten der kleidung · besonders der farben. Dass das „opfer” aus brot und wein besteht die der priesterkönig von Jerusalem (was nicht ganz gesichert ist) dem Abraham anbietet der ihm daraufhin den zehnten zahlt bleibt ausserhalb der betrachtung.

T074 DER MANNA-REGEN

Mit der manna-lese sind auf dem bild eigentlich mehr personen beschäftigt. George geht aber nur auf zwei ein: den mann der das himmelsbrot aufsammelt und daher in knieender haltung gezeigt wird während die stehende frau zuschaut. Das gefäss in ihrer rechten und das kind an der linken hand werden schon nicht mehr erwähnt. Erst recht wird beispielsweise nicht gefragt wieso die israeliten auf ihrer flucht durch die wüste eine derartig prunkvolle kleidung tragen können. Indem sie allein der aufmerksamkeit wert geachtet wird gerät die absurdität dieses auf die spitze getriebenen ästhetizismus erst richtig ins bewusstsein. Dass dies auch Georges absicht ist erscheint doch naheliegend.

T075 EINE PIETÀ DES BÖCKLIN

Die trauernde Maria war als George sie beschrieb erst um die zwanzig jahre alt. Er hatte sie in der Berliner Nationalgalerie gesehen wo sie im Zweiten Weltkrieg verloren ging. Die beschreibung experimentiert mit dem verzicht auf hilfsverben und manche konjunktionen · mit der zusammenziehung von substantiven sowie mit nachgestellten adjektivattributen. Der ausruf und der abschliessende vergleich bringen die in den anderen beschreibungen ausgeschlossene subjektivität zurück. 

NACH RADIERTEN SKIZZEN VON MAX KLINGER

Max Klinger war abonnent der BfdK und elf jahre älter als George der ihn in Leipzig einmal besuchte. Sein zyklus von acht „Skizzen” aus dem die drei besprochenen blätter stammen war 1879 in Brüssel gedruckt worden. Die demonstrative objektivität der ersten bildbeschreibungen wird auch hier nicht mehr angestrebt.

T076 WANDERERS ENDE

Die not des vor erschöpfung sterbenden wanderers bildet den ernsten hintergrund für die beiden anderen blätter in denen mit dem tod nur kokettiert wird. 

T077 SIESTA

Das blatt hiess eigentlich „Frühlingsanfang”. Die fast leblose passivität des mädchens lässt die bezeichnung „ausguss” passend erscheinen. 

T078 DOLCE FAR NIENTE

fingerhut-blüten : gemeint sind die stark duftenden blüten des (wie fingerhut) giftigen stechapfels (auch datura oder heute brugmansia genannt). 

Der titel hiess eigentlich „Siesta II (Dolce far niente)”. Das gar nicht so süsse nichtstun der dame ihre gleichgültige selbstverständlichkeit gegenüber dem schmuck und ihre herbeiführung oder jedenfalls hinnahme der gefahren ganz in ihrer nähe weisen schon auf die stimmung der décadence. Selbst der raubkatze ist langweilig was sie nicht harmloser machen dürfte. 

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