5 DAS JAHR DER SEELE 

54 ÜBERSCHRIFTEN 5401-13 
55 WIDMUNGEN 5501-16

 

54  ÜBERSCHRIFTEN 5401-13

Der erste teil des zweiten buchs umfasst achtzehn »überschriften« also länger zurückreichende erinnerungen die schliesslich als gedichte in das gedächtnis und somit in das »leben« der gegenwart »übergeschrieben« oder wie in 5401 erklärt »über-gerettet« wurden. 

 

5401 Lieder wie ich gern sie sänge

So viel bescheidenheit findet sich nicht immer - sie ist aber nur zum teil echt. Die angekündigten »scheuen reime« in schlichten volksliedstrofen werden mit wein verglichen der in ereignisarmen monaten des winters oder des noch winterlichen frühjahrs lediglich zur erheiterung oder zum trost ausgeschenkt wird. Damit würden sie immerhin erfüllen was sich zumindest damals noch viele leser von gedichten traditionell erhofften - erwartungen denen George ja von anfang an nicht entsprechen wollte was seine anfangs demonstrativ kleinen auflagen und der exklusive vertrieb über nur ganz wenige buchhandlungen unterstrichen. Dass seine in den ersten fünf gedichtbänden vorgelegten strofen dem alkohol gleich trost oder gar erheiterung verschaffen sollten kann wie jedes kokettieren mit eigener unzulänglichkeit nicht wirklich ernst gemeint gewesen sein. Trotzdem ist der eindruck richtig dass George mit dem bisher geleisteten nicht ganz zufrieden ist.

Und so deutet der sprecher bereits zu beginn an dass von ihm noch werke zu erwarten sind die ganz anderen ansprüchen genügen werden. »Darf ich nicht« ist wol eher eine beschönigende umschreibung für »vermag ich nicht«. Mit einer unreife oder mangelnden offenheit der leser hat das nichts zu tun - eher mit dem eigenen unvermögen sich vom bann ganz persönlicher hoffnungen zweifel und misserfolge zu lösen. Erst in seinem sechsten gedichtband wird George in der lage sein über das unmittelbar ihn selbst betreffende hinaus sich anderem zuzuwenden.

Zugrunde liegt den nächsten gedichten also wieder ein erleben: entweder konfliktbeladene oder eher genusshafte augenblicke der eigenen jugend.  M erinnert daran dass George in schaffenskrisen notgedrungen in die vergangenheit zurückblickte (vor allem bei den drei BÜCHERN 4).

5402 Zu meinen träumen floh ich vor dem volke ·

efebe : bei den antiken griechen der ungefähr achtzehnjährige · im wehrfähigen alter stehende. 

kreis : der gedichtkreis oder zyklus

mäandern : in schleifen verlaufendes natürliches flussbett

M sieht hier eine art fortsetzung der »Schülerlegende« 053. Die drehte sich ja um die auch hier dargestellte isolation · die glühende begeisterung und nach dem streit mit der engen kloster-ordnung schliesslich den aufbruch »nach der weite«. Insbesondere war auch dem schüler seine überlegenheit - hier angedeutet durch das gespräch »mit stern und wolke« · das gefühl der reinheit und des geheiligtseins - ja in stolz und schmerz durchaus bewusst. M bezieht die zweite strofe auf die HYMNEN · die dritte auf die drei BÜCHER und den ALGABAL: der »martertod« wird natürlich nur in der fiktion erlitten.

Von einer schwester war ja schon in 3206 die rede als Algabal von seinem ausflug ins volk zurückkehrt und beim blick in den spiegel auf sie zu treffen meint. Sie ist also eine wie eine schwester eng Vertraute - die »eigne Seele« (M) mit der allein das gespräch sich lohnt (auch wenn sie hier ohne abwertung die düstere genannt wird). Natürlich wird mit dieser metafer auch die zwei jahre ältere schwester Anna Maria geehrt der ja das ganze werk gewidmet war. 

Auf die wirkung dieses gesprächs kommt es an: Die ermunterung weiter zu dichten weil das eine existenz-bedingung ist · und orientierung und lebenskraft aus den eigenen wunden zu schöpfen. So wiederholt sich hier der gedanke der HYMNEN die vorstellung einer externen muse aufzugeben · allein sich selbst zu vertrauen und - die lezte zeile erneuert die blasfemie der frühen gedichte - sein eigener gott zu werden. In die düsternis mischt sich damit zuversicht: das ist die »zwielichtstunde«. 

Kauffmann sieht hinter der »düstren schwester« Ida Coblenz und verweist auf die absicht 5402 in die ursprünglich vorgesehene widmung an die freundin aufzunehmen (2015, 72). Ob das stimmt sei »nicht zu wissen« · vermerkt Landmann in SW. Immerhin hatte George ihr das gedicht geschickt und sie ging in der antwort sogar auf einzelheiten ein. Die jüdin zu einem solchen bekenntnis verführen zu wollen wäre freilich ein geistreicher beweis von selbstbewusstsein mit einem ganz besonderen effekt: das hätte sich an exponierter stelle ausnehmend gut gemacht.

5403 Des sehers wort ist wenigen gemeinsam:

Paktolen : plural zum namen des kleinasiatischen flusses Paktolos der auch bei Hölderlin (»Der Neckar«) erwähnung fand. Im griechischen mythos führte er goldstaub mit sich. Der bildliche ausdruck bezieht sich auf die vorliebe für preziöse begriffe mit denen gerade der junge George seinen versen einen erlesenen klang zu geben versuchte · die er aber auch mit einer betont schlichten ausdrucksweise zu kombinieren vermag (hier: den frühlingsbächen). 

sich ergezte : sich ergötzen ist altertümlich für: sich erfreuen

im rausch von mai und nachtigallen : in der pubertät (mai und nachtigallensang verweisen natürlich auf erwachende sehnsucht) als in eben diesen sprachlichen und dichterischen versuchen das gestalten von schönheit erstes tiefes glück erzeugte. Für die mechanistische germanistik ist es allerdings eine conditio sine qua non bei jedem auftauchen des begriffs rausch einen exkurs über Dionysos einzuschieben - auch wo das zum verständnis gar nichts beiträgt. Meistens ist dann das apollinische auch nicht mehr weit. Dergleichen nervtötende reflexe erzeugen lähmende langeweile · und als sinnlose zeitfresser manchmal noch schlimmeres. 

Künstliche intelligenz wird diese germanistik bald ersetzen können. Man muss es nicht bedauern:  sie wird es nicht schlechter machen.

Und sie wird lernen: wenn bei George ein scheinbar neutraler sprecher in der dritten person über sich spricht ist dies das signal für die erklärung dass sich das dichterische eigenlob noch ungenierter aussprechen lässt wenn es einem anderen in den mund gelegt · also nicht vom lyrischen ich vorgetragen wird. Auch auf dieses ritual wird hier wo kein germanistischer heissluftballon aufzublähen ist kein wert gelegt.

sich zur sonne heben : sich auf der erde im licht der sonne verkörpern. Doch mag auch mitschwingen: wie die sonne zur alles bestimmenden kraft werden oder auf einer ebene mit dem höchsten stehen (wie schon in der dritten zeile des vorigen gedichts).

Nur der erste vers scheint in die zukunft zu weisen wenn zum ersten mal der Dichter sich in der rolle des sehers versteht. Hier aber ist von einer damit eigentlich verbundenen gesellschaftlichen funktion noch nichts zu spüren. Und alle folgenden zeilen befassen sich wieder mit dem thema der ersten strofen des vorigen gedichts: den frühen · schon von »ernst und einsam«keit geprägten jugendtagen als »die ersten kühnen wünsche kamen«. Worauf sich diese wünsche bezogen geht aus Ms erklärung des in der lezten strofe genannten »denkbilds« hervor - »das Ideal des Gefährten, das er (d. h. George) auf dieser Erde verleiblicht zu finden sein leben lang strebte« und bereits in seinen schüler-dichtungen wie dem PRINZ INDRA S31 formte. »Erster sehnsucht fabelwesen« dürften M recht geben und doch ist es nicht falsch die im vorlezten vers genannte »mühe« zugleich auf das dichterische vermögen zu beziehen. Dem »seltnen reiche« ist daher eine ambivalenz zu eigen die in den adjektiven »ernst und einsam« angekündigt und in den substantiven »mühe« und »sehnsucht« bestätigt wird. 

Schon die erste und dann auch die mittleren strofen aber zielen ab auf die von dem schüler George erfundenen geheimsprachen · seine befähigung sich »unter träume zu setzen« und seine freude am wollaut ungewöhnlicher wörter den er mit dem klang religiöser kulthandlungen gleichsezte - erste anzeichen vielleicht für das spätere eigentliche sehertum. So liegt es nahe den begriff des sehers hier weniger ambitioniert aufzufassen (was auch dem doppelpunkt mehr sinn gibt): gemeint ist erst einmal nur die seltene fähigkeit »eigne namen« (gewissermaassen wie visionen) zu »sehen« und in ihrer sichtbaren schönheit zu erfassen. Es mag allenfalls noch ein zusammenhang mit dem »denkbild« in betracht kommen: auch ein denkbild ist ein bild und bedarf eines sehers. 

Allein in der kindlichen freude am wollaut der »eignen namen« soll die ursache für die wendung zur dichtkunst zu sehen sein. Am ende der kindheit bedeutet sie ihm so viel wie ein gottesdienst (mit predigt und geistlicher musik · vergleiche V. 12) oder allgemeiner gesprochen: Ihm kann dichtung den religiösen kult ersetzen. Das ist wirklich viel wenn man etwa an 218 oder T01 denkt. Man könnte auch sagen dass der dichter züge eines priesters gewinnt. Unpräzise in skandalisierender sprache heisst das im Werkkommentar: George beanspruche »Teilhaftigkeit am Göttlichen« (Voß in Wk 2017, 237). Die übertreibung trübt das verständnis massiv.

Keineswegs wurzelt die dichtkunst des knaben hingegen im katholizismus. Das ist George so wichtig dass er es eigens betont: Ein stolzes sich-nicht-mehr-unterordnen beendet die macht der (streng gläubigen) mutter und der »sanften lehre« von christentum und kirche. Das aufbegehren gegen deren nur noch als »lallen« empfundenen ge- und verbote erfolgt aber wiederum genau im augenblick des erwachens »erster sehnsucht«. 

Dem blick auf die eigene dichter-geburt ist nichts anmaassendes oder abgehobenes zu eigen. Wie der antike hirtenjunge im unvergesslichen 4104 betet auch sein neuzeitlicher (und im achtzehnten vers daher auch etwas fordernder auftretender) wiedergänger zu einem den er als seinen lenker anerkennt. So stehen stolz und scheu im (für die schönheit) notwendigen gleichgewicht. Das ist gerade kein »Bruch« der »auf das Äußerste irritieren« müsste (ebd., 238). Die irritation ist lediglich folge der von Voß selbst vorgenommenen fehldeutung des jugendlichen dichters: in seinem »ästhetischen Imperialismus« (ebd., 234) · schliesslich gar (weil manche seiner »namen« wie »befehle« klingen) »maskulinen Imperialismus« (ebd., 235) habe der sich »an die Stelle der Gottheit« (ebda.) setzen wollen. Wer so grotesk skandalisiert und dämonisiert wird in der tat nie verstehen warum George den vermeintlichen zweiten »Prometheus« (ebd.) schliesslich . .  beten lässt. Aber dieser germanistik geht es nicht mehr um verstehen sondern um selbstdarstellung. 

Sie arbeitet aber auch nicht mehr sorgfältig genug um verstehen zu können. Voß behauptet: »Die (…) Flüsse des Altertums (…) können auch ›wie linde Frühlingsbäche‹ gleiten (…). (…) diese temporale Synchronizität von Natur und Anti-Natur verdankt sich der Allmacht des Schöpfungswillens des Sehers. Nur ihm ist es möglich, auch entfernt voneinander liegende ästhetische Gegensätze zu vereinen. (…) Der imperialistische Seher umgeht diese Separation einfach (…). Dadurch haftet dem Ganzen (…) ein absolutistischer (…) Anspruch an« (ebd., 236). Tatsächlich sagt Georges gedicht weder über flüsse noch über bäche irgend etwas aus. Seine aussage bezieht sich einzig auf zuerst in verben gefasste · dann auf substantivische »eigne namen« und verbildlicht in der rede von Paktolen und bächen lediglich deren kraft und zartheit oder erlesenheit und schlichtheit. Gezeigt wird damit das ausserordentliche sprachliche vermögen des jugendlichen dichters dessen sprache schon das verschiedenartigste adäquat erfassen kann. Deshalb ist die unterstellung George wolle »entfernt voneinander liegende (…) Gegensätze (…) vereinen« unsinnig und lediglich damit zu erklären dass Voß dem nicht mehr nur »imperialistischen Seher« um jeden preis nun auch noch »absolutistische« willkür zuschreiben möchte: die germanistische effekthascherei verlangt nach beständiger überbietung ihrer absurden schlagworte.

Imperialismus war immer durch rücksichtsloses macht- und besitzstreben motiviert. Deshalb ist der begriff wenn es um George geht der bekanntlich zeit seines lebens so gut wie nichts besitzen wollte und sich von parteien institutionen und staat stets fernhielt besonders unangemessen. Die programmierte germanistik aber kann einfach nicht anders als automatisch jedem solche motive zuzuschreiben der für dinge »eigne namen« findet - selbst wenn es sich lediglich um einen knaben handelt der einfach nur einbildungskraft und sprachkompetenz einsezt · ursprünglich um nichts anderes als ein vertrautes · ja liebevolles verhältnis zu den dingen zu entwickeln die ihm bislang noch als fremde gegenüberstanden · schliesslich um sich in eine geradezu feierliche hochstimmung zu versetzen die er bislang nur aus dem religiösen bereich kannte. 

Wer diesem halbwüchsigen allen ernstes imperialismus · noch nicht grell genug und daher sogar: »maskulinen« imperialismus vorhält - während die »bitten« weil sie lispelnd vorgetragen werden nur »weiblich« (ebd., 235) sein können (obwol ein kurzer blick in die Wortkonkordanz bewiesen hätte dass bei George das lispeln keineswegs den frauen vorbehalten ist) - müsste eigentlich errötend bemerken dass er es selbst ist auf den der vorwurf »gottgleichen« allmachtstrebens mittels sprachlicher willkür zutrifft. Aber selbstreflexiv ist diese germanistik längst nicht mehr. Das wäre hinderlich dabei sich selbst in szene zu setzen: schrille schlagzeilen rufend · in pink und leder auf dem boulevard. 

5404 Als ich zog ein vogel frei aus goldnem bauer

bauer : vogelkäfig

Grauen : hier ist sicher nicht an ein grauen im herkömmlichen sinn zu denken · eher an das bei George so wichtige beklommene gefühl angesichts des erhabenen wie er es etwa in der ersten der VERJÄHRTEN FAHRTEN 218 gestaltet hat. M erinnert an DAS GEHEIMOPFER 4109. Vergleiche auch »freudengraun« in 5407.

essen : die feuerstellen der schmiede-werkstätten. Ihre erwähnung unterstreicht die fremdheit die der heimkehrende künstler spürt wenn er sich unter handwerkern und arbeitern wiederfindet denen seine situation ganz fremd ist. 

Die ausgangssituation mag Georges stimmung beim aufbruch zu jenen auslandsreisen entsprechen die der achtzehnjährige wichtiger fand als ein universitätsstudium. Die anschliessenden zeilen erinnern wieder an frühere dichtungen aus SAGEN UND SÄNGE · die paläste der HÄNGENDEN GÄRTEN und feldlager des priesters ALGABAL. Immer gleich aber ist die nie überwundene einsamkeit. Deshalb fällt die heimkehr so ernüchtert aus. Es gibt keine neue perspektive mehr. Dies wäre wirklich ein gedicht der müdigkeit oder der schlimmsten befürchtungen und würde eine seite zeigen die George in gedichten selten so unwidersprochen offenlegt. Bestimmt aber meinen die beiden lezten zeilen gar nicht resignation und untergang und liegt der tiefpunkt schon vor dem anfang · bei der gefangenschaft im goldenen käfig (dem sogar noch eine mauer zur seite gestellt ist). Betont wird dort das freiheitsgefühl des künstlers der sich dem publikum nun nicht länger anpasst und dem es nichts mehr bedeutet von der menge umjubelt zu werden deren nähe er auch in seinen wanderjahren meidet. Selbst bei seiner rückkehr fürchtet er nur von den anderen erkannt werden. Als ein vergessener (einem toten aber nur allenfalls ähnlicher) kann er sich am besten auf den traum - sein künstlerisches programm - konzentrieren der so viel zarter ist als die dröhnende vitalität der äusseren umgebung. 

SPRÜCHE FÜR DIE GELADENEN IN T. I · II

Die beiden schon 1893 in den BfdK veröffentlichten gedichte 5405 und 5406 entstanden im zusammenhang von Georges treffen mit den belgischen dichterfreunden in Tilff bei Lüttich. Edmond Rassenfosse hatte auch Gérardy und Léon Paschal in sein elternhaus eingeladen. 

5405 SPRÜCHE I Indes deine mutter dich stillt

M bezieht die lezte strofe auf den gastgeber: ihm wird geraten »aus bewusst nicht ausgelebtem Leben« dichtung entstehen zu lassen die ohne verzicht nicht gedeihen kann. Das klingt wie die quintessenz aus dem zweiten · an George selbst gerichteten spruch: denn auch hier steht der verzicht im mittelpunkt. Sich von den spielen der kindlichen altersgenossen fernzuhalten und den eintritt in das bürgerliche erwerbsleben zu verweigern erscheinen als voraussetzung für ein der kunst gewidmete leben. Offenbar ahnte George schon früh dass der junge Belgier nicht über die bedingungslosigkeit verfügte die George selbst zu eigen war. 

Mit der ersten strofe soll George den von ihm sehr geschäzten Paul Gérardy angesprochen haben. Hier ist es eine eigentlich eher böse fee die dem kind schon im frühesten alter eine düstere veranlagung - aber damit auch eine hohe attraktivität für »die musen« verleiht. Und Paschal wird in der dritten strofe aufgefordert nur dem wind seine klagen vorzubringen und sich lieber selbst mit den fingernägeln schmerzen zuzufügen die das eigentliche leid überdecken. Diese vier sprüche bringen das bewusstsein elitärer besonderheit zum ausdruck das diese kleine gruppe damals vereinte. 

Allerdings - auch das wird bei M eigentlich deutlich - müssen sie nicht unbedingt auf die verschiedenen freunde bezogen werden. Es sind ja eigentlich auch nicht sprüche »an« sondern »für« die eingeladenen. Jede strofe gilt dann einem der ersten vier jahrsiebente jedes dieser dichterleben. Damit wäre beispielsweise gesagt dass es im fünfzehnten bis einundzwanzigsten lebensjahr nicht angebracht ist den gewöhnlichen Gleichaltrigen einblick in das eigene innere zu gewähren. Im grunde aber werden normen für kindheit und jugend jedes wirklichen künstlers aufgestellt (die aus der perspektive des geburtszeitpunkts betrachtet und deshalb teilweise im futur · teilweise im imperativ formuliert werden): dass gleich nach der geburt die fee von schatten und tod singt »soll« so sein. 

5406 SPRÜCHE II Ihr lernt: das haus des mangels nur kenne die schwermut ·

Zwei gemeinhin nicht in frage gestellte meinungen werden zurückgewiesen: schwermut sei nur dort vorzufinden wo mangel herrscht · ein ziel aufopferungsvoll aber ohne erfolg zu erstreben werde als schweres schicksal empfunden. Denn schwermütiger mache der überfluss · und erfüllung des erstrebten sei der härtere schicksalsschlag wie an drei beispielen ausgeführt wird. Ob man bei ihnen wirklich an Algabal denken muss sei dahingestellt. Naheliegender wäre der wesentlich passivere herrscher aus den HÄNGENDEN GÄRTEN. Die ungewöhnlichen identischen reime mögen lähmung und stillstand (bei etablierteren dichtern) andeuten wovon sich die jungen dichter in Tilff weit entfernt wähnen. Der spruch tröstet sie darüber hinweg dass sie noch ganz am anfang ihrer laufbahn unsicher sind ob sie ihre künstlerischen ziele erreichen werden. 

5407 Wo in des schlosses dröhnend dunkler diele

früh und spat : jederzeit · genauer nicht als adjektive sondern als verkürzte substantive aufzufassen. Sowol die Frühe als auch die Späte des tages werden demnach gefüllt.

freudengraun : die hier gemeinte faszination entstünde nicht wenn freude ganz rein (frei von jeglichem grauen) ist und insofern oberflächlicher bleibt.

mit dem gleichen freudengraun : möglicherweise ist nur ein gleich starkes freudengraun gemeint

geraun : das raunen ist dunkles andeutendes sprechen über inhalte die nicht für die öffentlichkeit bestimmt sind.

rühren : berühren

Die ersten drei zeilen bilden einen nebensatz der die aktuell vorliegenden gedichte des sprechers (oder eher sogar seine inzwischen zur vollen entfaltung gelangte dichtkunst) im bild der saiteninstrumente zur anschauung bringt. Aber an stelle des hauptsatzes folgt gleich die frage warum ausgerechnet die früheste dichtung des anfängers (das erste saitenspiel) noch immer eine so berührende wirkung habe. Eine antwort könnte darin liegen dass sich von dem traum der jugend den sie in keuschem ton zum thema machte noch immer nichts erfüllt hat. M wird recht haben wenn er den schlüssel zum verständnis gerade in dieser hier geehrten jugendlichen keuschheit selbst sieht - und wenn es (oder bei George: gerade wenn es) die eigene ist. Grauen kann auch dann entstehen wenn man sich seiner zunehmenden entfernung von diesem jugendlichen zustand bewusst wird der eigentlich der höchste ist und als solcher erst aus der zeitlichen distanz richtig geschäzt werden kann. 

Die erinnerung an die eigenen dichterischen anfänge könnte durch die begegnung mit dem jüngeren Rassenfosse ausgelöst worden sein dem die hymne auf die jugendlichkeit natürlich auch die reverenz erweist. 

5408 Bei seiner reise mittag bald zurück

In der mitte seines lebenswegs schaut der sprecher ebenso zurück wie nach vorn und fragt sich ob nun ein zustand der ruhe oder die weitere steigerung gefühlsmässiger extreme angebracht sei. Wenn das vergangene aber nur ein erster beginn war wie die abschliessende zeile nahelegt ergibt sich daraus die antwort. »Soll er« muss nicht heissen dass er an eine freie wahl glaubt. Eher ist das schicksal gemeint das ihm ein sollen vorschreibt. 

Für M klingt die erwähnte frage angstvoll und die lezte zeile wie die ahnung einer noch schwierigeren zukunft. Aber anders als der sprecher wusste M ja was noch kam. Er selbst zum beispiel · allerdings auch Maximins tod und der krieg. 

ERINNERUNGEN AN EINIGE ABENDE INNERER GESELLIGKEIT

Die drei ersten gedichte dieser atemberaubend grossartigen fünfergruppe wurden 1894 in den BfdK unter der überschrift »I. C. einer Freundin zur Erinnerung an einige Abende innerer Geselligkeit« veröffentlicht. Auch das fünfte gedicht bezog Ida Coblenz auf sich so dass M alle fünf als mit ihr in zusammenhang stehend ansieht.  

5409 BLUMEN

wir : bedeutet hier zwingend eine mehrzahl (»zusammen« in III,3)

vom toten jahre : vom vergangenen jahr

Demnach ist die anrührende erinnerung an ein kindliches erlebnis nur einkleidung. Aber wäre diese einkleidung ohne ein entsprechendes geschehen in der eigenen kindheit möglich gewesen? Sie passt jedenfalls zu all den anderen ländlichen erinnerungen an Bingener tage · ist verklärung · ja apotheose (die hellen blicke des kindes sind voraussetzung jeglichen gedeihens) von kindheit schlechthin - und unweigerlich trauer um das was gemeinhin (George aber wollte sich damit nie abfinden) unwiederbringlich vergangen ist. Darum dürfte es sogar mehr gehen als um eine weitere aufbereitung der Coblenz-beziehung. Anders gesagt: das gedicht steht Maximin schon näher als Ida Coblenz. Kindliche zuwendung · erwartung und beharrlichkeit · und natürlich vor allem die alles auslösende begeisterung (in der vierten strofe) sind das eigentliche thema und wie bei George üblich spielen erwachsene in dieser welt gar keine rolle (selbst nachts sind die kinder ganz sich selbst überlassen). Der begriff »einkleidung« ist daher eigentlich nicht treffend. Im grunde war eher die genannte überschrift einkleidung. 

Auch die nähe zu dem bekannteren FREUND DER FLUREN 6203 ist bemerkenswert · der verhält sich ähnlich liebevoll. Aber nur in 5409 taucht dieses adjektiv auf - das einzige mal in der dichtung Georges der keinen erwachsenen jemals liebevoll nannte. So ist 5409 am beginn des kleinen zyklus hintergrundfolie zu den anderen vier · mit lieblosigkeit gespickten gedichten.

Der erfolg der gärtnerischen bemühungen bleibt übrigens offen. Denn die vierte strofe ist nachgetragener rückblick auf den herbst zuvor in dem durch pflücken die dann im märz gesäten samen gewonnen worden waren. Dadurch ist 5409 mehr als erinnerung - es ist vergegenwärtigung eines augenblicks in dem das künftige noch ungewiss war (aber die hoffnung noch stärker als alle ungewissheit). Das ist die verknüpfung zu dem vorangegangenen gedicht. 

5410 RÜCKKEHR

M ist sich sicher: Die »Gedanken des DIchters bei einer abendlichen Heimkehr nach Bingen« werden hier wiedergegeben. Der sprecher muss lange zeit in der fremde gewesen sein wenn ihm alles vertraute nun wie neu vorkommt. Die daheim gebliebenen aber begrüssen ihn immer noch (in der dritten und vierten zeile der dritten strophe) wie einen vertrauten (während unmittelbar anschliessend er selbst spricht). Das aber sind die »wellenfrauen« und damit mythische gestalten die eigentlich nur in der vorstellung des sprechers leben der sich insofern einfach selbst begrüsst. Irgendein menschliches wesen scheint also diese rückkehr nicht berührt zu haben. Die innere unabhängigkeit von anderen ist das eigentliche thema (es spielte ja schon in den HYMNEN eine rolle · dort mit der muse anstelle der wellenfrauen) und wenn der Dichter diese strofen mit Ida Coblenz in zusammenhang brachte sandte er ihr damit eine recht eindeutige botschaft.  

5411 ENTFÜHRUNG

die wälder ferner kunde : gemeint ist ein mythischer raum · etwa ein zauber- oder märchenwald. Hier schon ein hinweis auf die realitätsfernen erwartungen des sprechers.

Es klingt wie hohn wenn ausgerechnet in diesen luftigen zeilen von leibern die rede ist. Denn der angesprochenen wird ja nichts anderes als entmaterialisierung versprochen falls sie mitmacht und sich entführen lässt. Die abkehr von jeglicher körperlichkeit ist dick aufgetragen und ungewöhnlich eindimensional · ohne alle zwischentöne. Übrig bleiben spinnenfäden duft und glanz und alles was blass bis zur durchsichtigkeit ist - und im mund nicht mehr als ein gedicht. M scheint die strenge diät für bare münze zu nehmen. In der tat ist es legitim dichterische bilder für den taumel zu finden der in jüngerem alter manchen verliebten erfasst und dessen blick auf das bevorstehende verklärt. Bei George aber gibt solch ungetrübte einseitigkeit stets den hinweis auf die innere distanz des Dichters (hier zu all den illusionen) - sie findet sich ja auch nur selten. Wer unbestreitbar ernst gemeinte leichtigkeit finden möchte (soweit sie George eben möglich ist) mag die ersten gedichte von SIEG DES SOMMERS lesen. Dort aber fehlen nie die fragen · tränen und angst.

5412 REIFEFREUDEN

worte : schon in der Odyssee werden worte die nicht treffen mit pfeilen verglichen denen die federn fehlen so dass sie anders als befiederte pfeile (»epea pteroenta«) nicht treffen. George variiert das bild und vertauscht die federlosen pfeile mit noch harmloseren pfeillosen federn. So vermögen die harmlos-unbedeutenden worte hier ebenso leicht niederzusinken wie aufzusteigen und taugen allenfalls als schmuck · bleiben sonst aber wirkungslos. Damit wird deutlich dass die »tiefe rührung« lediglich aus dem natur-erlebnis entspringt. Entsprechend ist die lezte zeile zu deuten: für den gluten-abend sorgte allein der sonnenuntergang. Zwischen du und ich aber gab es nur ein zartes erglimmen. Konstatiert wird im grunde bloss eine ähnliche fähigkeit des empfindens · eine gleiche sensibilität. Aus dieser erkenntnis innerer verwandtschaft entsteht das gefühl füreinander - aber nicht als leidenschaftliche »glut« sondern so »zart« dass die leichtigkeit der worte noch weit übertroffen wird: bis zu den wolken vermochten die nicht zu steigen. 

fruchtgeländer : M spricht zu recht von obstspalieren.

zum schmuck : final gemeint · um die hügelränder zu schmücken.

V. 9 : die innige verschränkung von du und ich durch einen chiasmus auszudrücken ist traditionell. George greift das muster mit bitterem sarkasmus auf: hier kommt es ja gerade nicht zu einer annäherung.

rüste : abend · der zustand der ruhe oder rast

jedes : da es sich um einen mann und eine frau handelt wählt George hier das neutrum.

Ob die freuden mehr mit der fülle des erntesegens zu tun haben oder auch der liebesbeziehung entspringen die hier im augenblick des anfangs zugleich schon ihren höhepunkt (sozusagen ihre »reife«) erreicht und dabei so stumm und distanziert verharrt: es ist nicht zufällig eine herbstliche abendsonne die dem bewegenden augenblick einen ebenso prachtvollen wie vergänglichen glanz verleiht. Er war eben doch nicht mehr als einer von »EINIGEN ABENDEN INNERER GESELLIGKEIT«. Das wäre nicht unbedingt wenig. Doch wird mit »dunkler lust« und »gelüsten« angedeutet was an diesen abenden im hintergrund blieb.

5413 WEISSER GESANG

V. 2 : das herbe ist subjekt · strahlen akkusativ-objekt

im schloss : gemeint ist wol weniger das innere des gebäudes als vielmehr der parkartigen anlage

kinder : auch hier muss daran erinnert werden dass George den begriff manchmal für junge erwachsene gebraucht.

frühtag : nicht nur auf einen vormittag sondern auch auf das lebensalter der kinder zu beziehen

ränne : verkürzte form des starken konjunktivs II verränne (von verrinnen). Wichtig weil hierin der tod des wenig vitalen paares vorweggenommen wird.

espe : das laub dieser zitterpappel bewegt sich aufgrund langer stengel schon beim geringsten windhauch.

trespe : grosse familie oft sehr dekorativer gräser

marmel : altertümlich für marmor

narden : orientalische duft- und gewürzpflanze aus deren unterirdischen rhizomen kostbares öl und räucherwerk erzeugt wird

In dem bezeichnenderweise herben (was keine metapher darstellt) licht existiert nur kühl weisslich-silbrig-blasses: die blühenden bäume · die beiden sträusse · der mit marmornen platten belegte weg · die reiher und erst recht der rauch - er unterstreicht ebenso wie die kurze andeutung einer schlossanlage das artifizielle und sogar lebensfeindliche der szenerie vor der als kultischer vorgang nicht wie bei all dem weiss zu erwarten die hochzeit sondern eine totenfeier (der flügelschlag der vögel genügte um den angedeuteten irdischen tod des schwächlichen paares auszulösen) stattfindet so dass die beiden als paar eigentlich nicht lebensfähigen ausserhalb des bereichs irdischer schwerkraft doch noch zu »Vereinten« werden können. Wie in 5411 bewahrt das dick aufgetragene und bis zum schlusspunkt »äther-flaume« ins groteske gesteigerte Nicht-körperliche den leser davor irgend etwas ernst zu nehmen. Dasselbe gilt für den albernen reim wankend : schwankend. Natürlich muss Ida Coblenz verstanden haben dass die geradezu satirische überzeichnung auf ihre eigene herbheit und ihre ablehnung körperlicher vereinigung zielte. Wie alle satire ist auch dieser text etwas bloss willkürlich »ersonnenes« und alles andere als ein geträumter traum: George unterscheidet ihn damit schon vorab (im nebensatz der ersten zeile) von eigentlicher dichtung. Ein auftrag · vorsatz oder plan lag zugrunde - wie bei einer handwerkerleistung. Darauf wird das augenmerk gerade dadurch gelenkt dass der durch den nebensatz erforderliche hauptsatz fehlt. Du kannst dir überlegen wie du die leerstelle füllen würdest. »Sie verlangt«? · »Ich wünschte«?

NACHTWACHEN I - V

Um diese überschrift zu verstehen muss man weder die Nachtwachen des Bonaventura noch die klösterlichen vigilien bemühen - sie erklärt sich aus dem text von selbst.

Über den hintergrund der fünfzehn düsteren terzette (terzinen sind es meistens nicht) weiss auch M nicht mehr zu sagen als dass sie sich auf »ein Erlebnis des Dichters mit einer Frau in Frankreich oder Belgien« beziehen dürften womit auch erklärt sein könnte dass sie in französischer sprache entstanden waren. Spürbar ist in allen fünf gedichten die grosse wertschätzung für diese uns unbekannte die als eine dem bemerkenswert demütig auftretenden sprecher überlegene erscheint. Warum dennoch beide nicht zusammenfinden ist so sehr als mysterium gestaltet dass die erklärung sich fast schon aufdrängt. 

Dass trotz des NACHTWACHEN-zyklus George eine durchgängige misogynie vorgeworfen wird ist vielleicht mit lückenhafter textkenntnis zu erklären. 

5414 I Deine stirne verborgen halb durch die beiden

Von ihrer melancholischen ausstrahlung mit der sie offenbar durchaus eine faszinierende wirkung auf den sprecher erzielte ist in diesem gedicht doch einiges erhalten. Ihrem äusseren gilt hier eine bemerkenswert feinfühlige aufmerksamkeit die ihre erklärung darin findet dass ihre lippen auf ihr künstlertum deuten - zu dem sie (wie M glaubt) vom schicksal verurteilt ist. Die gesucht sperrige gestaltung mit hässlichen klammern und metrischen zumutungen verweist auf die anhaltende erschütterung der die sonst übliche und in NACH DER LESE gerade erst vorgeführte sprachliche perfektion unangemessen wäre. Das hätte freilich konsequenzen für die einschätzung der sonst immer im vordergrund stehende beziehung zu Ida Coblenz. 

5415 II Nicht nahm ich acht auf dich in meiner bahn

Eine mögliche erklärung steckt aber auch in diesem gedicht mit der dankbaren erinnerung an ihr warten auf ihn zu einer eher winterlichen zeit in der sonst niemand vor die tür trat - und in der er sich so schlecht fühlte dass er im suchen und fragen keinen sinn mehr sah und daher auch sie ignorierte. Norbert Hummelt hat sich kürzlich in der FAZ (vom 31. 1. 2025, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/frankfurter-anthologie/stefan-george-in-der-frankfurter-anthologie-110268552.html) diesem gedicht in beeindruckend liebevoller weise zugewandt und dabei eingestanden wie sehr er es unverdientermaassen ignorierte obwol er das JAHR DER SEELE immer besonders geschäzt und die "Parkgedichte" und TRAURIGEN TÄNZE - "Wunder einer in Verse gefassten Melancholie" - hunderte male gelesen habe (ebd.). 

5416 III Welche beiden mitternächte

Vv. 4 und 5 : eindeutiger als in der ersten zeile von 5413 drücken beide nebensätze und konjunktive einen wunsch aus

Sein versagen aber steigert sich so dass die beziehung einen tiefpunkt für beide (daher der plural »mitternächte«) erreicht. Aus der ersten und unglücklich verlaufenen begegnung scheint er so über sich selbst beschämt hervorgegangen zu sein dass er dafür an ihr - der »dulderin« seiner ungerechtigkeit - rache zu nehmen wünschte. Damit ist gemeint dass er es versäumt freundlich auf sie zu schauen oder ihr gar mit einer geste der zuneigung entgegenzukommen (er spricht sich in der zweiten strofe also selbst an und bedauert dieses versäumnis). Die rache besteht aber auch - wenn »unverbunden« wörtlich genommen wird - in der körperlichen verweigerung so dass eben beide schamhaar und geschlechtsteile (genial »wunden« genannt und vielleicht sogar auf die ganz anderen wunden in 5402 anspielend) des anderen und den lustlosen samenerguss sehen können. Während bei anderen lyrikern das körperliche hinter bildern versteckt wird zeigt George · souverän wie kein anderer · das körperliche als bild (für die brüchigkeit der beziehung). So wirkt dieses gedicht wie das gegenstück zum körperlosen WEISSEN GESANG 5413 der ja ebenso eine fünfergruppe abschliesst. 

Die vorstellung vom glücklichen ergreifen - und verpassen des einen geeigneten augenblicks (»kairos«) hat George immer wieder beschäftigt - zuerst wol in 105. In den NACHTWACHEN aber hat das verpassen etwas wesentlich schicksalhafteres.

5417 IV Erwachen aus dem tiefsten traumes-schoosse:

Zudem kann hier das versäumte doch noch nachgeholt werden (freilich ohne dem glück wesentlich näherzukommen). 

V. 2 : M erklärt die betroffenheit damit dass dem sprecher bewusst geworden ist wie wenig er ihr gerecht wurde solange er in ihr nicht mehr als den spiegel seiner eigenen befindlichkeit erblickte (und sie nur deshalb liebte).

wider : hier eher »auf« als »gegen«

Das berühren ihrer lippen (im bewusstsein dass diese ihm wegen seiner mitleidlosigkeit eigentlich verschlossen sein müssten) ruft eine so leidenschaftliche reaktion hervor dass er ungläubig beinahe das bewusstsein verliert - stattdessen aber sich dadurch gestraft sieht dass er den kurzen glücks-zustand in übermässiger deutlichkeit zu verrinnen spürt. 

5418 V Wenn solch ein sausen in den wipfeln wühlt

blonde frohe : nachgestellte adjektive zu blumen

um die festen : alles was fest ist (so wie die wipfel gross) 

Die beiden ersten strofen sind parallel gebaut mit jeweils einleitenden konditionalsätzen in denen zwei ähnliche naturbilder den aufgewühlten seelenzustand des sprechers andeuten. Die den hauptsatz bildende frage »Ist es nicht mehr als« ist in der fünften und siebenten zeile jeweils erneut hinzuzudenken und soll - das meint auch M - jeweils bejaht werden. 

Das bedeutet: der stellenwert des erlebnisses (auf das hier fast schon nur noch zurückgeblickt wird während es doch noch von starker wirkung ist) übertrifft den einer sehnsüchtigen verliebtheit wie sie etwa durch einen verträumten blick (durch die übertrieben verspielten »bl«-alliterationen höhnisch fast ins kitschige abgewertet) ausgelöst wird. Es bleibt mehr zurück als das ohnmächtige gefühl der einsamkeit und des scheiterns eines gestrandeten (denn die zweite strofe ist selbstansprache!). Erst recht für sie: sie wirkt blasser und ergriffener denn je und kaum besser als eine blinde bettlerin auf der strasse die niemand beachtet - aber doch ist alles noch schlimmer. Die graduellen abtönungen - in abschwächung und wieder aufhebender steigerung - geben dem gedicht seine raffinesse · das schuldgefühl des lyrischen ichs aber hinterlässt den tieferen eindruck.

55  WIDMUNGEN 5501-16

VERSTATTET DIES SPIEL: EURE FLÜCHTIG GESCHNITTENEN SCHATTEN ZUM SCHMUCK FÜR MEINER ANGEDENKEN SAAL

Die ersten vier gedichte waren an frauen gerichtet während sich die initialen des anschliessenden dutzends auf befreundete männer beziehen. Alle sechzehn werden in der überschrift mit schattenschnitten verglichen - eine figur der bescheidenheit: nur »flüchtig« geschnitten beanspruchen sie ausdrücklich nicht die gültigkeit einer vollständigen oder in die tiefe gehenden dreidimensionalen wiedergabe der bewidmeten persönlichkeiten. In dieselbe richtung zielt die ein wenig untertreibende angabe es handle sich nur um ein spiel. Dazu passt aber die vorstellung wonach diese schattenschnitte als schmuckstücke eines raums gedacht seien den der Dichter ganz dem andenken seiner freunde widme. Dies ist im ehrenden sinn gemeint was heutige »kritische« germanisten (das wollen sie ja alle sein) nicht davon abhält das gegenteil zu behaupten: George mache die freunde zum bloossen »Zierat« (Wk 2017, 220) und betreibe lediglich eine »Instrumentalisierung der Freundschaften« zum zweck des »Selbstlobs der eigenen künstlerischen und rhetorischen Potenz« (schreibt ausgerechnet Voß, ebd., 221). Schlimmer noch: »Die Widmungen gehen nicht an gleichberechtigte Freunde« glaubt Voß im Werkkommentar · sie seien vielmehr »Anweisungen von einer vorgesetzten Autorität« (ebd., 223). Es ist vielleicht der von George wol zur vermeidung des eindrucks allzu intimer freundschaft bisweilen (und nur in männern gewidmeten versen) verwendete pluralis majestatis der heute zu solchen missverständnissen verleitet - oder weniger naiv: der die bewusste irreführung nicht für jeden leser sofort durchschaubar macht. Dass es in den meisten SCHATTENRISSEN gar keine äusserungen gibt die man als »Anweisungen« missverstehen könnte · dass hingegen mehrere SCHATTENRISSE die bewidmete ( ! ) oder den bewidmeten als deutlich überlegen erscheinen lassen: Voß interessiert es einfach nicht · geht es doch allein darum noch einmal (nein: noch zweimal) seinen begriff des »Imperialismus« unterzubringen auf den er doch so stolz ist - erneut begleitet vom noch absurderen »Absolutismus« (alles ebd., 223, in wiederholung seiner gleichlautenden formulierungen zu 5403) ohne dass je deutlich würde worin sich beide kampfbegriffe unterscheiden oder was der eine über den anderen hinausgehend eigentlich noch leisten soll. Das wäre auch zu viel verlangt · sind beide doch nur leerer protz mit »der eigenen rhetorischen potenz«. Denn um den »Imperialismus« irgendwie zu belegen muss nun jedes im imperativ stehende verb herhalten · muss George als ein beständig »Anweisungen« gebender dem leser verkauft werden der sich seitdem den kopf über die frage zerbricht warum Egyptien die peinliche willkür mit seinem namen auch noch legitimiert.  

5501 Soll nun der mund der von des eises bruch

Obwol M eine äusserung Georges überliefert wonach das gedicht einem mädchen gelte schliesst er einen bezug auf Hofmannsthal nicht völlig aus. Die eingangszeilen beziehen sich auf den schmerzvollen zeitraum zwischen dem brechen des eises im frühjahr und erstem rauhreif im herbst. Das leid hat den sprecher aber eher gestärkt und er fragt sein gegenüber ob er offen klagen könne. Doch scheint der sprecher unterbrochen zu werden und sezt in der zweiten strofe neu ein - mit einem bild: sein boot steht im begriff auf ein riff geworfen zu werden während sie am ufer den sturm nur an den geblähten segeln im hafen erkennt. Zulezt wird das bild verlassen · der gedanke aber weitergeführt: in der gefährlichen situation fordert er sie zu sanften worten gegen den »fremdling« auf den sie in der ferne bereits erspähte. »Bedenke dich« könnte andeuten dass sie bislang nicht bereit gewesen wäre seine klage anzuhören oder gar zu erhören (weshalb er lieber nicht unterbrochen werden wollte). 

5502 Die du ein glück vermehrst auch nicht es teilend

balsam : harzig-öliger bestandteil von duftsalben oder heilmitteln. Hier im übertragenen sinn für: wohltat oder gar heilung.

geist : einerseits begründet durch die gespenstische erscheinung des von allen verlassenen Gestrandeten - andererseits hinweis darauf dass das mädchen das ja den schmerz des mannes nicht völlig versteht selbst eben nicht dem geistigen oder künstlerischen zugehörig ist (was etwa bei Ida Coblenz nicht hätte gesagt werden können).

Ein wahres preislied - und es gilt eindeutig einem mädchen. Dass es dem sprecher intellektuell vielleicht nicht ebenbürtig ist tut seiner hochschätzung keinen abbruch. Wegen des weiterführens des schiffbruch-motivs von 5501 ist ein bezug auf die dort angesprochene möglich (was Hofmannsthal endgültig aus dem spiel brächte). M fragt sich ob an das mädchen der vorausgegangenen NACHTWACHEN zu denken sei. Den lezten vers spricht es jedenfalls selbst. 5503 Angenehm flossen bei dir unsre nächtlichen stunden

ampel : lampe. Hier wird wol wegen des zunächst anregenden gesprächs vergessen sie anzuzünden. 

Ida Coblenz kommt auch hier wieder gar nicht gut weg. Das anfängliche lob wird rasch zurückgenommen. Beim einbruch der dunkelheit lenkte die angesprochene das gespräch auf bereiche in denen das lyrische ich offensichtlich weder gern zuhört noch antwortet. Anscheinend hat sie nach vergeblichem werben um den sprecher von sich selbst verächtlich gesprochen und dabei sarkastisch gelacht. Wenn sie dieses unangenehme verhalten trotz befremdeter blicke des sprechers nicht aufgebe solle sie ihn lieber meiden. Der vorwurf sie verfüge über eine »zerknitterte seele« klingt ähnlich lieblos. 

5504 So grüss ich öfter wenn das jahr sich dreht

V. 2: wie im vorigen gedicht wird das gespräch auch hier zu beginn der dämmerung geführt. 

reiser : zweige · hier wol von blühenden sträuchern

Viel zugewandter klingt wieder die lezte der vier an frauen gerichtete WIDMUNGEN. M bezieht sie auf die schwester Anna Maria mit der George nach den sommerferien »wenn das jahr sich dreht« in Bingen für einige wochen zusammenkam bevor er nach München oder Berlin aufbrach. Die verblichenen reiser nimmt M als symbol für vergangene beziehungen. Davon zu hören liebte Anna Maria »aufgrund ihrer von der Mutter ererbten Strenge und Starrheit« nicht (doch wird sie in der oben genannten widmung mit der die öffentliche ausgabe eröffnet wurde immerhin »trösterin« genannt). Deshalb verspricht ihr George eine erfreulichere »gabe«: DAS JAHR DER SEELE - wenn M recht hat. Das klingt plausibel da auch 5504 erst in der öffentlichen ausgabe zu finden ist. George deutet den bezug ja auch selbst an wenn er die rollen hier vertauscht und der sprecher nun seinerseits der schwester einen »trost« verheisst. Auf Anna Maria bezieht sich auch 7726.

5505 W. L.

Verbannter herrscher : genitiv-attribut zu »das los« · wie oft bei George weiter nach hinten verschoben

richte unsrer tritte : das substantiv bewegt sich faszinierend zwischen »richtstätte« und »richtige richtung«.  

Das gedicht unterstreicht die hohe achtung die dem polnischen dichter Waclaw Lieder aufgrund seiner ritterlichen art entgegengebracht wurde. Hier beispielsweise stellt der sprecher fest dass Lieder · wenn er »verwirft« also für unzulänglich erklärt dies nur durch einen »wink« vornimmt - und damit so schonend wie möglich · ohne verletzende worte. Zuerst aber wird sein einfühlungsvermögen gegenüber Unglücklichen gelobt das auch George nicht fremd ist wie etwa 4114 bewies. Die verbannten herrscher sind auch ihrerseits von vornehmem verhalten: die trauer um ihre verlorenen länder wird erhaben genannt - weder äussert sie sich in klage-geschrei noch in unwürdig krampfhaften versuchen sie zurückzugewinnen. Auf Lieder beziehen sich auch 4204 und 7769.

5506 P. G.

In der öffentlichkeit wo sich jeder der angesprochenen eigentlich unauffällig und diskret benimmt kamen manchmal doch starke gefühle auf: wenn Paul Gérardy erschien oder abschied nahm. Dann entstand ein klima des vertrauens in dem jeder mehr als sonst von sich preis«gab« und auf klug berechnende distanz verzichtete. Was dann gesprochen wurde wird für immer in der erinnerung des sprechers bleiben - genau wie die blicke (in denen sich wol die begeisterung für die gemeinsame sache verriet). M glaubt dass der bewidmete direkt angesprochen wird · ignoriert aber die sich dann ergebende schwierigkeit im ersten vers. Auf Gérardy bezieht sich auch 4206. 

5507 M. L.

Die zusammenarbeit mit dem damals als ebenbürtig empfundenen Melchior Lechter war in der zeit der gestaltung des JAHRS DER SEELE naturgemäss besonders eng. Hier wird er sogar zweimal bruder genannt und ihm wird nicht nur der gleiche purpurne schimmer sondern auch das gleiche sehnen nach der schönheit zugestanden wie es George in sich selbst fühlte. Die farben bezieht M auf von Lechter geschaffene kirchenfenster (als glasmaler hatte der junge Lechter ja bekanntlich eine ausbildung in der restaurierung mittelalterlicher kirchenfenster gemacht) · Egyptien auf Lechters Berliner wohnung (2018, 154): aber auch die war ja mit lauter bemalten fenstern ausgestattet so dass Cyril Scott als George ihn Lechter vorstellte sich in einer kirche wähnte - und sie lag im fünften stock eines hinterhofgebäudes · umgeben also von »kerkern ohne erhebung«. George sieht hinter den farben aspekte des Lechterschen schaffensprozesses der wiederum mit der entwicklung eines kornfeldes verglichen wird.                  

5508 H. H.

des rausches leiter : M denkt an den mit dem älterwerden »naturgemäss« abnehmenden »dichterischen Enthusiasmus«.

der regung leiter : vielleicht ein wenig doppeldeutig wenn auch an die aufregung gedacht wurde die das verhältnis der beiden begleitete.

Die versöhnlich scheinenden zeilen sollten Hugo von Hofmannsthal ansprechen. Und ihm noch einmal die rangfolge ins gedächtnis rufen: »donnernde« strofen können nur vom dichterischen Olymp herrühren. Hofmannsthal aber gehört zu den knaben die sie zu preisen haben.

5509 K. W.

fähren : fahrten oder im übertragenen sinn der lebenswandel

Auf weniger hintersinnige weise wird Karl Wolfskehl bedacht · der prominenteste unter den jüdischen freunden. George verleiht ihm die autorität eines profeten. Der umfassend gebildete und zeitlebens treue freund pflegte allerdings einen ganz anderen lebensstil den George vielleicht nicht gerade »ehrte« aber notgedrungen einigermaassen akzeptierte: der »umkränzte becher« verweist auf Wolfskehls dem genuss zugewandte haltung - und Wolfskehl · auch der »Dionysos des Kreises« genannt (Lepsius 1935, 35) genoss nicht gern allein. Von seinem unübersehbaren bekanntenkreis und seiner gastfreundlichkeit profitierte George ebenso wie von seiner bücher-sammelwut und legendären belesenheit · war aber manchmal genervt weil Wolfskehl ihm dadurch nicht immer zur verfügung stand wenn er ihn brauchte. Die zeit »dumpfer leiden« blieb allerdings auch Wolfskehl nicht erspart. In seiner jugend konnte er seinen bildungshunger ohne rücksicht auf finanzielle grenzen stillen - die wirtschaftlichen krisen der zwanziger jahre trafen ihn aber empfindlich und mit dem aufkommen des nationalsozialismus emigrierte der wie ein antiker seher beinahe ganz erblindete (allerdings nicht von einem knaben sondern von seiner frau Hanna geführte) nach Italien (von wo aus er noch zu Georges begräbnis reisen konnte) und schliesslich nach Neuseeland.

5510 E. R.

Bei Edmond Rassenfosse denkt man an den SIEG DES SOMMERS und das treffen der belgischen dichterfreunde in Tilff. Die erinnerung an ihn mag »höchster schatz« gewesen sein. Wie George damit aber umgehen wollte konnte Rassenfosse dem gedicht nicht entnehmen. Denn die erste strofe schildert ein ganz anderes verfahren als die zweite. Von den schönen erinnerungen aus dem jugendalter kann man ein leben lang zehren - oder sie mit grausamer kälte vergessen und sich darum nicht mehr kümmern. 

5511 A. H.

Mancher verrennt sich in vorstellungen und wünschen die von aussen betrachtet leicht als recht sinnlos zu erkennen sind. Von seinen depressionen aber kommt der irrende ohne hilfe nicht mehr los. Um ihn zu »erlösen« bietet der sprecher seinen ausserordentlichen einsatz an: ja er bietet an - aber er befiehlt nicht autoritär um so »die gesamte Kontrolle über den zu rühmenden« zu übernehmen wie Voß glauben machen will (Wk 2017, 223). (Wie eigentlich könnte Voß einen anspruch Georges belegen die bewidmeten »rühmen« zu wollen? Anscheinend verwechselt er die SCHATTENSCHNITTE mit den PREISGEDICHTEN 42.) 

Das damit verbundene glücksversprechen mag für manche heutige überzogen wirken · doch ist es als ein unverzichtbarer bestandteil des heilungsplans anzuerkennen und wurde in vielen ähnlich gelagerten fällen mehr als erfüllt. Wodurch der angesprochene solcher unterstützung wert erachtet wird deutet die respektvolle apostrofe in der ersten zeile an. Möglicherweise bedeutet die vorhergesagte umarmung auch dem lyrischen ich viel. August Husmann war ein dreiundzwanzig jahre alter student der chemie als er 1897 - also erst kurz vor fertigstellung des JAHRS DER SEELE - in München durch den befreundeten Klages zu George kam. Im folgejahr veröffentlichte er einen selbst finanzierten gedichtband »Das Buch von dem der da kommen soll« und warf die meisten exemplare dann doch in die Isar. George hatte es auch mit dem widmungsgedicht das ihn zunächst sehr bewegte nicht vermocht ihn dauerhaft von seiner religiösen sinnsuche zu lösen. Er scheint die bürgerliche gesellschaft wie auch den kunstbetrieb zutiefst verachtet zu haben · wurde aber als gleichermaassen schön wie begabt geschildert. Nur in einer der drei biografien taucht einmal kurz sein name auf. Aber Robert Igel hat den melancholischen aussenseiter vor dem vergessen bewahrt (H 2481ff.)

Zeigt sich George hier zum ersten mal in der rolle eines heilsbringers? Der begriff wird durch die verheissene »erlösung« unterschwellig nahegelegt · wäre aber allenfalls im übertragenen sinn angebracht. Denn »erlösung« hat eben keine religiöse bedeutung mehr. In diesem in lezter minute noch aufgenommenen gedicht kündigen lächeln und umarmen vielmehr das »schöne leben« vom VORSPIEL des nächsten bandes an. 

5512 A. V.

Sechs kinder hatte Albert Verwey und George sah die ersten aufwachsen wenn er in Verweys DÜNENHAUS 6302 an der holländischen nordseeküste ein paar sommerwochen verbrachte. Diese freundschaft begann aber erst 1895 und deshalb wird George die dünenlandschaft noch nicht sehr vertraut gewesen sein. Verwey besuchte im folgejahr George in Bingen und hatte daher wol dessen weinberge noch nicht gesehen als das gedicht entstand. Beide sind in dem kleinen dialog stolz auf ihre heimatliche landschaft: die landschaft an Rhein und Nahe verfügt aber über geschichtliche bezüge. Schon beim verweis auf den wein denkt jeder an die römer und trotzdem wird Bingen auch noch umbenannt zu Tibur um damit die aura eines antiken erholungsorts zu gewinnen: Tivolis villen waren schon zu Goethes zeiten ein muss für italienreisende und was dort der Aniene war ist nun die Nahe. Sogar den nach dem griechischen windgott benannten westwind lässt George sanft durch die napoleonischen pappelalleen des rheintals streichen während in Verweys nebligem barbarenland nur feindselige stürme orgeln und grenzenlose moore jedes vorankommen zum wagnis machen. Erst recht ist das »ungeheure« meer inbegriff des formlosen und damit unschönen. Verweys langmut wurde von George noch öfter strapaziert. 

5513 R. P.

Richard Perls gehört wie August Husmann zu den tragischen gestalten im umfeld Georges. Auch er kam über Klages 1895 als zwanzigjähriger zu George als er in München studierte. Bald danach machte er bei einem empfang in Rom das ehepaar Lepsius auf George aufmerksam indem er von ihm »wie von einem ungekrönten König« (Lepsius 1935, 11) sprach. Da Perls seinerseits eindruck gemacht hatte - Sabine Lepsius beschreibt ihn als »Jüngling von besonderer und feiner schönheit« (ebd.) mit dem »Haupt einer schönen griechischen Gemme« (ebd., 32) und lobt »die Höhe seiner Geistigkeit« (ebd., 11) - stand für George der weg zu den lesungen im Berliner Lepsius-salon offen die ihn bei einflussreichen wissenschaftlern der zeit bekannt machten. Aus einer jüdischen bankiersfamilie stammend sammelte Perls seinen breit gefächerten interessen entsprechend - sein studium galt zunächst der physik · dann der psychologie - teure bücher · war beständig auf reisen und muss trotz seiner jugend von umfassender belesenheit gewesen sein. In 5513 nennt George eine derart unersättliche und eigentlich sinnlose bildungssucht bürde und frevel. Richard Perls wurde nur 24 jahre alt. Sein drogenkonsum - ähnlich maasslos wie sein wissensdurst - verursachte unsägliche leiden und den völligen körperlichen verfall. 1897 verbrachte er nach einer erfolglosen entziehungskur einige monate bei Waclaw Lieder in Paris bis er zurück nach München geschickt wurde. George hat ihn trotz allem nie verstoossen und veröffentlichte seine gedichte in den BfdK. Die Perls gewidmeten verse dieses schattenschnitts klingen liebevoll und besorgt. Es ist bezeichnend dass George zulezt den anblick des körperlich entstellten Todgeweihten vermied und dessen verlobter die pflege überliess · zu ehren des toten aber eine feierliche lesung veranstaltete. In den gedichtbänden von 1899 und 1907 hat er noch einmal seiner gedacht (6312 und 7704).

Hinter den drei gärten vermutet M die antike · orientalische und deutsche filosofie. Wolfskehl sah »Hellas« und die bibel als »Quellen überzeitlicher Erkenntnis, Wahrheit und Versinnbildlichung« und nannte als dritte den »Urquell Indien« (CP 41, 100). Im umfeld Georges war ausser Perls Lechter ein kenner indischer weltsicht und lebte fast ein halbes jahr in Indien. 

5514 C. S.

Ähnlich wie im Verwey-gedicht spricht auch hier der bewidmete: im zweiten bis fünften vers. Sein lächeln ist kein zeichen von freundlichkeit · vielmehr scheint er die überlegenheit zu geniessen die ihm seine rätselhaftigkeit verleiht. Das ihm zugeschriebene zynische verlangen über diese undurchsichtigkeit sogar zu jubeln zeigt dass George sich geradezu provoziert fühlen mochte. Natürlich »martert« sich der sprecher · lässt gleichwol in seiner liebe nicht nach und bewundert die sieghafte ausstrahlung von Cyril Meir Scott. George war dem siebzehnjährigen engländer 1896 in Frankfurt begegnet wo er musik studierte. Das Stefan George Archiv bewahrt vertonungen von George-gedichten sowie fünfundneunzig briefe von ihm an George den er bis 1912 regelmässig besuchte. Cyril Scott war als komponist überaus produktiv und vor dem zweiten weltkrieg sehr erfolgreich. Nach Georges tod machte er sich allerdings durch indiskrete veröffentlichungen bei vielen unbeliebt. 

5515 A. S.

den götterknaben : vermutlich eine Eros-statuette

Das gedicht kam erst 1899 hinzu und fehlte in der privatausgabe noch. Es bezieht sich nicht auf die sogar durch fotografien bekannten kosmiker-feste die erst 1901 begannen. George hatte aber schon in den neunziger-jahren München mehrmals besucht und war dabei 1899 auch zu einem abend in die wohnung von Alfred Schuler eingeladen worden - mit Klages und dem ehepaar Wolfskehl. Kerzen (»fackeln«) und weihrauchduft (»dämpfe«) · blumenkränze (»rosen«) und vor allem die wirkungsvolle rezitation des gastgebers aus seinen »Cosmogonischen Fragmenten« (»mit deinen worten«) hatten George in den von Schuler beabsichtigten zustand tiefer erschütterung versezt. Das ungläubige erstaunen darüber ist in der eingangsfrage noch spürbar. Schuler war es offenbar gelungen vor seinen gästen das alte Rom (sein lieblingsthema) so faszinierend und glaubwürdig aufleben zu lassen dass sie tatsächlich das gefühl bekamen mit »neugierblicken« der erhebenden »pracht« der römischen antike ganz nahegekommen zu sein. Indem der leser nicht unterscheiden kann ob das »schlimme prunkmahl« den genannten abend meint oder eine der von Schuler dargestellten feiern hat George diesen höchsten grad der verlebendigung · aber auch des orientierungsverlusts im gedicht zu bewahren verstanden. Letztendlich war die gefährdung der selbstkontrolle nicht Georges sache weshalb er nach wenigen jahren auf distanz zu Schuler und der kosmiker-runde ging. Schon dieser abend mündete für ihn ja in ein »leiden« das er offenbar als strafe für den mangel an ehrfurcht verdient zu haben glaubte.

5516 L. K.

unser aller heimat bleibt das licht : George schreibt »aller« · nicht »beider«. Denn Meister Eckhart spricht vom ungeschaffenen und unerschafflichen · also göttlichen licht in der seele zu dem zurückzu«kehren« jedem menschen möglich ist und nicht etwa nur einer elite. Der junge Ludwig Klages war wie auch Alfred Schuler von der mystik beeinflusst.

recken · bracher ebnen : anspielungen auf Klages’ norddeutsch-germanische herkunft (im unterschied zu Georges zugehörigkeit zur romanischen welt)

umschlingung : umarmung aber darüber hinaus hinweis auf Georges damalige (wunsch)vorstellung einer untrennbarkeit

Zu keinem der in den SCHATTENSCHNITTEN genannten freunde war das verhältnis frei von zeitweiligen trübungen · nur mit Ludwig Klages kam es zu einem völligen bruch · einem regelrechten kampf gegeneinander. In 5516 bemüht sich George noch um verständigung · redet die unterschiede gering · hebt die gemeinsamkeiten hervor und gibt sich sogar den anschein eines mystikers.  

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