Hier traf George zum ersten mal auf Maximilian Kronberger. Die nachahmung des römischen Konstantinsbogen feiert den sieg des bayrischen königs - Maximilian ( ! ) - von 1815 und wurde 1850 von dessen enkel - natürlich ebenfalls einem Maximilian - der stadt München geschenkt. Die inschrift "DEM BAYERISCHEN HEERE" ehrt aber nicht den herrscher sondern die untertanen. Solch vornehme bescheidenheit ist in der demokratie des jahres 2025 der hybris jener gewichen die sich als künftige herrscher sehen und in ihren projektionen nur ihr eigenes konterfei inszenieren. Von dem als leinwand missbrauchten Siegestor wissen die barbaren nichts: die täter so wenig wie die zuschauer. Zeugnisse des niedergangs sind beide.
Die untertanen hätten die schändung ihres ehrwürdigen denkmals mit einer revolution beantwortet. Ihre "Bürger" genannten nachfahren zucken die schultern.
T08 LOBREDEN T081-5
T09 VORREDE ZU MAXIMIN
T10 BETRACHTUNGEN T101-7
T11 ÜBERTRAGUNGEN T111-7
T08 LOBREDEN T081-5
M erklärt die überschrift als übersetzung des griechischen begriffs panegyrikos: eine öffentlich gehaltene rede zum preis verdienter persönlichkeiten. Hier handelt es sich um fünf künstler die von George besonders geschäzt wurden. Die sechste lobrede stellt Maximilian Kronberger als künstler an die spitze dieser reihe · macht durch die separierte behandlung seine einzigartigkeit aber ebenso sichtbar.
T081 MALLARMÉ
T082 VERLAINE
T083 JEAN PAUL
T084 FRIEDRICH WASMANN
Als werbetexter ist George sonst nicht hervorgetreten. Hier aber geht es wirklich darum aus reiner überzeugung die „selbst-lebens-beschreibung” eines zehn jahre zuvor verstorbenen aber damals immer noch unbekannten deutschen malers vorzustellen und dafür käufer zu finden. Erschienen ist die lobrede auf ein buch im märz 1897 in Albert Verweys Tweemaandelijksch Tijdschrift. Da waren Wasmanns erinnerungen gerade bei Bruckmann in München erschienen. Die treibende kraft dahinter war der norwegische maler und kunstsammler Bernt Grønvold der in einem Meraner antiquitätenladen - Wasmann hatte den grossteil seines lebens in Tirol verbracht - auf lange unbeachtete bleistiftzeichnungen Wasmanns gestossen war. Als er sich mit der witwe in verbindung sezte legte sie ihm die aufzeichnungen des verstorbenen vor für die er vergeblich einen verleger gesucht hatte.
Grønvold liess sie drucken hatte aber nach neun jahren noch nicht einmal siebzig exemplare verkauft. So war Georges schützenhilfe wirkungslos geblieben. Aber Grønvold war mit einer Tiroler fabrikanten-tochter verheiratet was ihm zu einem langen atem verhalf. Er sorgte dafür dass bei der Jahrhundert-Ausstellung 1906 in der Berliner Nationalgalerie auch Wasmanns portraits und landschaften zu sehen waren. Sechs jahre danach stellte er dem museum seine eigene sammlung von werken Wasmanns zur verfügung und als er dann „Ein deutsches Künstlerleben” 1914 erneut herausbrachte - diesmal im Leipziger Insel-Verlag und mit einer längeren einführung versehen - war das öffentliche interesse erheblich gewachsen. Exemplare dieser ausgabe werden heute noch antiquarisch angeboten. Zudem gibt es seit 2006 einen neudruck des Landesmuseums für Kultur- und Landesgeschichte Schloss Tirol. Treffender als es George vermochte könne der geist dieses „kulturhistorischen Kleinods” nicht ausgedrückt werden · stellen die herausgeber Siegfried de Rachewiltz und Christiane Ganner in ihrem geleitwort fest.
Friedrich Wasmann wurde 1805 in Hamburg geboren. Seine lebenserinnerungen schildern die kindheit auf einer insel in der Elbe ebenso wie die lehrjahre in Dresden und München und natürlich die jahrelangen aufenthalte in Italien - auch Wasmann war ein ROM-FAHRER (6215). Dort trat er zum katholischen glauben über · schloss sich den lezten Nazarenern an - besonders Overbeck und Cornelius - und malte in deren stil. Wie später die impressionisten war schon Wasmann ein ausgesprochener freilicht-maler. Nach durchaus erfolgreichen jahren in Bozen heiratete er in Hamburg und gleich danach begann für die familie ein ziemlich bescheidenes leben in dem damals doch recht abgelegenen Meran. Die lebenserinnerungen zeigen das „intelligente und kritische” denken eines mannes der sich gern mit den bauern unterhielt - und sich fernhielt „von jedem Umgang mit Philistern” (Grønvold in der einführung von 1914). Dass Wasmann "fern vom markte der ausstellungen fern vom drang der bestellungen schweigend und unbekannt" lebte bringt ihm ja auch bei George "unsre bewunderung" ein. Das ende „in Vereinsamung und Verkanntheit” sieht Grønvold eine spur nüchterner (ebd.).
T085 HÖLDERLIN
T09 VORREDE ZU MAXIMIN
Maximilian Kronberger wurde am fünfzehnten april 1888 in Berlin geboren wuchs jedoch in München auf wo George ihn 1901 am Siegesbogen zum ersten mal sah. Er hatte zu beginn seines zweiten jahrsiebents zu dichten begonnen und viele der weit über dreihundert erhaltenen gedichte sind sprachlich schon überaus gekonnt (wobei eine gelegentliche mitwirkung Georges nicht auszuschliessen ist) und von erstaunlicher gedanklicher tiefe - dies nicht nur „für einen dreizehnjährigen”. Max schrieb auch dramen und betrieb seine künstlerischen versuche mit grosser ernsthaftigkeit. Mit vierzehn jahren beschäftigte er sich mit antiken tragödien mittelhochdeutschen dichtungen und las Goethe.
Zu häufigeren treffen kam es erst 1903 als Kronberger George in der Belgradstrasse oder der wohnung von Karl Wolfskehl besuchte oder sich zu gemeinsamen spaziergängen verabredete. Er führte darüber ein eigenes tagebuch das erhalten ist. Im folgejahr · einen tag nach seinem sechzehnten geburtstag starb Max völlig unerwartet an einer hirnhautentzündung. Die VORREDE in der Maximilian nun Maximin genannt wurde entstand für das 1906 im verlag der BfdK erschienene GEDENKBUCH. Seine gestaltung hatte Melchior Lechter übernommen der nicht verhindern konnte dass seine ornamente ein von George für das frontispiz durchgeseztes modernes foto umrahmen mussten: es sollte ausser zweifel stehen dass Maximin wirklich gelebt hat. Trotzdem muss nicht alles was George hier zu Maximin aussagt auf den abgebildeten Maximilian zutreffen. Die VORREDE war bald danach in den BfdK zu lesen und wurde schliesslich in die ausgabe von 1925 aufgenommen. Ihr platz im anschluss an die LOBREDEN ist folgerichtig.
Max blickte durchaus nicht ständig auf sein smartphone. Kranz und hirtenstab gehörten zu seinem aufzug bei Henry v. Heiselers maskenfest im februar 1904 wo er einen Florentiner edelknaben darstellte der George als Dante begleitete (vergleiche Gremm 2023, 56f.)
(1) „Wir” bedeutet Stefan George aber schon im zweiten satz ist das nicht mehr sicher: daneben ist an die freunde zu denken also vor allem die Münchner kosmiker von denen George sich 1904 endlich löste. Sie sind gemeint wenn er im ersten abschnitt jene erwähnt die sich „den dunklen bezirken” zuwandten. Als beispiele für andere die sich „voll trauer verschlossen” nennt M Richard Perls und August Husmann. Nicht ausdrücklich spricht George von dem belasteten verhältnis zu Hofmannsthal. Noch deutlicher als die private krise stellt er die allgemeine in den mittelpunkt des abschnitts · spricht von seuche entseelung und einer entstellten menschheit und lässt vor diesem düsteren hintergrund Maximin buchstäblich wie eine lichtgestalt auftreten - und nennt ihn dennoch in aller eindeutigkeit „mensch”. Dass ein einzelner mensch „vertrauen” (im sinn von zuversicht deren verlust schon der erste satz beklagte) zurückbringen kann trifft fraglos zu. Schon dieser aufbau des ersten abschnitts ist hinweis genug dass dankbarkeit dafür aus zweifel und tiefer niedergeschlagenheit gerettet worden zu sein - selbst eine unerfüllte liebe kann dies bewirken - eine wesentliche triebfeder für die entstehung des Maximin-kults gewesen sein muss. Darin muss man keine banalisierung dieses vorgangs erblicken. In 7403 ist noch ausdrücklicher von dankbarkeit die rede. (Als Ernst Morwitz - ein jahr nach Maximilians tod - mit siebzehn jahren zum ersten mal an George schrieb scheint er in einer ähnlichen und bedrohlichen lage gewesen zu sein. Der nie endende dienst für seinen Meister kann nur mit einer vergleichbaren dankbarkeit zu erklären sein. In seinem todesjahr 1971 lebte er immer noch in den Vereinigten Staaten wohin er kurz vor kriegsbeginn hatte fliehen müssen. Gestorben aber ist er in der Schweiz - in derselben klinik wie George dessen grab er jährlich besuchte.)
(2) Die zeitkritik führt George auch im zweiten abschnitt fort. Er nennt den für ihn so zentralen vorwurf an die wissenschaft: die enträtselung (oder entheiligung) der welt in der sich die „erscheinungen” überstürzen und die „äusseren möglichkeiten” steigern ohne dass der „gehalt” gewönne. Aber so leicht Maximilians erlösende wirkung auf George zu verstehen ist so irrational erscheint der von George nahegelegte aber nirgends ausgeführte (wie auch?) zusammenhang zwischen der menschheits-krise und ihrer überwindung durch das auftreten Maximins.
Der steht natürlich auch hier im mittelpunkt. Weil sich in ihm für George antike und christentum so verbanden dass er zum inbegriff des von George erträumten wird: einer „allmächtigen” jugend die „unser erbe nehmen und neue reiche erobern könnte” - worte die seine vergöttlichung eigentlich schon vorwegzunehmen scheinen und doch auch nur metafern sein können - gewonnen allein aus dem nicht gerade in pastelltönen gehaltenen bild das die heilende kraft anschaulich werden lässt die George durch Max’ „ankunft” zugutekam. Natürlich soll das wort unterschwellig an den advent erinnern. Aber Maximin sitzt auf keinem esel. In der körperhaltung und mimik eines herrschers durchschreitet er - die begegnung ist durch einen schulkameraden belegt (SW 17, 123) - den antikischen Siegesbogen (eine nachahmung des römischen Konstantinsbogen) der den sieg des bayrischen königs - Maximilian ( ! ) - von 1815 feiert und 1850 von dessen enkel - natürlich ebenfalls einem Maximilian - der stadt München geschenkt wurde. Nicht begabung und gedichte sondern allein die äussere erscheinung "solcher jugend" (fünfter abschnitt) entzündete George für Maximilian.
Im jahr nach der flüchtigen begegnung am Siegestor sprach George den gymnasiasten vor dessen haustür an. Auf die frage nach seinen interessengebieten erwähnt Max nur die naturwissenschaften verschweigt dass er ein hervorragender sportler ist und spricht erst recht nicht über seine dichterischen versuche denen sich nun endlich eine dissertation zugewandt hat nachdem deutsche germanisten ihnen zuvor alle qualität pauschal abgesprochen hatten (näheres bei Gremm 2023, 23). In der untersuchung von Barbara J. Gremm wird so detailliert wie überzeugend nachgewiesen dass diese arbeiten eine ganz andere bewertung verdient haben - allein schon angesichts ihrer thematischen vielfalt die sich über religiöse fragen bis zu damals aktuellen politischen vorgängen - etwa den Burenkrieg - erstreckt. Natürlich orientierte sich Kronberger noch an anderen dichtern · imitierte George und liess sich inspirieren von den verschiedensten klassischen vorlagen die er sich aber selbst erarbeitet hatte. Doch den deutschen germanisten war es ja gar nicht darum gegangen Kronberger gerecht zu werden. Die erregung um die vorgänge an der Odenwaldschule begann Deutschland gerade zu erfassen und da wollte man nicht abseits stehen sondern auch einmal etwas aufdecken: dass nämlich George von anfang an ganz andere als dichterische stärken an Maximilian schäzte. Peinlich war am ende nicht der schatten der auf George fallen sollte. Peinlich war dass Deutschlands forscher damit nur herausgefunden hatten was George doch offen und eindeutig schon selbst geschildert hatte: hier in der VORREDE. Das zutage getretene unvermögen der allzu offensichtlich von interessen geleiteten professoren die in dem jungen dichter angelegten aussergewöhnlichen möglichkeiten anzuerkennen lässt den schatten allenfalls auf ihr ethos als wissenschaftler fallen: ungerührt liessen sie Kronberger über die klinge springen. Man kann auch tote jugendliche noch missbrauchen.
(3) „Gestalt und gebärde” gelten George als die „versinnlichung” von Maximins seele wie er sie als „denkbild” eines jugendlichen führers erlösers und geliebten immer schon in sich trug. Die formulierung wird wol in jedem die vorstellung einer möglichen projektion wecken. Die innige nähe zu Maximin wurde bestätigt durch dessen bereitschaft George „als gehorche er nur einem gesetz” wie selbstverständlich zu begleiten · gebrochen aber durch ein George „fremdes” das ihm in der „ferne seines blickes” früh seine bestimmung für ein „unbekanntes ziel” andeutete. Es sei hier wiederholt dass solche aussagen über Maximin nicht unbedingt auf Maximilian zutreffen (der zwar George als dichter bewunderte aber ansonsten wenig bereitschaft zeigte sich unterzuordnen).
Die neigung namen eine tiefere bedeutung zuzusprechen zeigt sich bei George ja oft. So erklärt sich auch das spiel mit Max’ nachnamen. Die brüder Grimm bewahrten auch das „Märchen von der Unke” in dem die kröte dem waisenkind eine krone in der erwartung überlässt dass es sie „birgt” · also mit ehrfurcht behandelt oder gar verbirgt.
(4) Einen solchen „Kronberger” und damit heimlichen herrscher in Maximin zu erkennen war ja gerade der anspruch Georges den er zu beginn des vierten abschnitts wiederholt. Er beruht auf der wirkung von Maximin auf andere menschen: seine schon durch blosse anwesenheit erzeugte „verwandelnde kraft” · verstärkt durch das leuchten seines blicks und die magie seiner stimme die ausreichte dass sogar „die unempfindlichen leute des volkes” ihn zu hören begehrten. Aber auch sein anblick wurde von ihnen gesucht: wegen der anmut seiner bewegungen · seines „unbewussten stolzes” und einem gleichwol nie anmaassendem umgang mit ihnen. („Frühreife” heisst bei George ein dem jugendlichen alter nicht angemessenes übertriebenes selbstbewusstsein oder ein mangel an scheu und man könnte durchaus der auffassung sein dass es gerade Maximilian an so verstandener frühreife nicht mangelte.) George zeichnet das bild eines menschen von natürlicher und das heisst hier ausdrücklich angeborener („gesunder und rechtmässiger”) souveränität. Darin sieht er einen unterschied zu sich selbst und anderen der sich auch darin ausdrückt dass Maximin nie der „absonderung von den Barbaren” bedurfte · eine absonderung ohne die George in seiner jugend die „feinen werkzeuge” nicht hätte ausbilden können (wovon nicht nur 052 einen eindruck gibt).
(5) Dass seine eigenen verse Maximin nicht wichtig gewesen seien trifft auf Maximilian keineswegs zu und dient allein der überhöhung Maximins. Der fünfte abschnitt verteidigt das bisher gesagte gegen zweifler die Maximilian nicht kannten und mit noch grösserer entschiedenheit gegen die vertreter „greisenhafter zeitalter” die der jugend grundsätzlich nicht zutrauen bereits „gipfel und vollendung” sein zu können - obwol doch schon Alexander und Jesus (selbst hier besteht George auf der gleichberechtigung von antike und christentum) das gegenteil bewiesen (George war nach M überzeugt dass Jesus „noch vor seinem dreissigsten jahr” starb). Beide sind für George „Lenzbegnadete” (M) die den „gipfel” schon im frühling ihres lebens erreichten - und in der kindheit den grundstein dafür legten · der eine im unterricht seines lehrers Aristoteles und der andere vor den schriftgelehrten des Jerusalemer tempels. Ihre „überdauernde macht” liege mehr „in ihrer gestalt als in ihren worten und taten”. Damit verwendet George einen grundbegriff seines denkens nachdem der vorige abschnitt bereits zeigte was er unter der „gestalt” versteht. Hier aber ist es noch wichtiger zu sehen in welche reihe Maximin gestellt wird. Denn beide · Jesus wie Alexander · starben so früh um anschliessend „nach oben entrückt zu werden und unvergänglichen namens über allen geschlechtern zu thronen”. Diese gleichsetzung muss sich den einwand gefallen lassen dass der in ungleich jüngerem alter verstorbene Kronberger ja gerade keine möglichkeit hatte eine ähnlich tiefgehende wirkung wie Jesus und Alexander zu entfalten. Hier hat George vorzusorgen gesucht mit dem verweis auf ein „vielleicht” (ein bei ihm recht seltenes wort) eintretendes „tiefstes” von Maximins wirken das er aus der künftigen „kommunion” seines geistes mit „unsren geistern” erwartet so als bedürfte jeder künftige seiner gedichtbände der mitwirkung Maximins. In 7403 wird dieser vorgang als "wunder" gefeiert · in 7421 als "einverleibung" variiert. Nirgends wird die überschätzung Maximilians (Maximin kann hier ja nicht gemeint sein) so deutlich wie in diesem fünften abschnitt wo hinter der erhofften „kommunion” eher ein verschobener wunsch Georges zu stecken scheint. Die beiden Böhringer und viele aus der jüngsten kreis-generation der zwanziger und dreissiger jahren dürften Kronberger in fast jeder hinsicht - nur nicht als dichter - weit übertroffen haben. Und für zwei von ihnen lag eine weltgeschichtliche bedeutung wie die der beiden gottessöhne wirklich in greifbarer nähe: das waren Berthold und Claus von Stauffenberg.
(6) Damit ist es kein grosser schritt mehr wenn Maximin nun endlich der „wahrhaft Göttliche” und schliesslich „erlöser” genannt wird weil er am ende einer „ewigkeit” - eines zeitalters - das gefühl verschafft als zähle nun alles bedrückende nicht mehr. Als "Herrn der Wende" bezeichnet ihn das eingangsgedicht (801) im STERN deshalb. Und das lager der naturalisten die dem symbolismus „eigensüchtige abschliessung” und die gleichgültigkeit gegen „das weh der mitbrüder” vorwerfen bekommt es zurückgezahlt: Maximin habe bewiesen dass die vervollkommnung der eigenen schönheit „bis zum wunder” - sie wurde im vorigen abschnitt dargestellt - ungleich woltätiger wirkt als ihr eigenes programm. Das ist nichts anderes als der übergang zu dem zentralen politischen glaubenssatz des Kreises: von der einzelnen „gestalt” ist viel mehr zu erwarten als von dem starren blick auf das elend und den künstlichen versuchen ihm abzuhelfen.
(7) Der frühe tod Maximilians wird auf sein eigenes wünschen zurückgeführt. Er hätte das leben eines „glorreichen sterblings” führen können. Aber er zog die teilhabe am „erhabnen stillen walten der Himmlischen” vor. Wie der jugendliche priester Algabal „im geist” mit den göttern sprechen konnte (331) verhandelte auch Maximin mit dem „Unnennbaren” über einen vertrag. Wenn er im diesseitigen leben dem Göttlichen schon nicht selbst begegnen könne (ein wunsch der durch ein frühes gedicht Kronbergers belegt ist) dann verlange er es wenigstens „im besten” der schöpfung zu gesicht zu bekommen · nämlich seiner künftigen geliebten freundin Mimi Droste die Maximilian Leda nannte sowie dem verehrten „grossen menschen” der sich als „der Meister” erwies. Nach dem erklimmen solcher höhe verzichte er dann auf ein weiteres zusammenleben mit allem ohnehin vergänglichen irdischen das er mit hilfe des göttlichen adlers rasch zu verlassen wünsche. Damit machte er sich zu einem zweiten Ganymed - dem schönsten der sterblichen den Zeus so liebte dass der adler ihn für immer zum Olymp entführte. Ein anflug „unbescheidener frühreife” (vierter abschnitt) scheint Maximin bisweilen wol doch befallen zu haben - jedenfalls gegenüber den göttern. M druckt sein frühes gedicht „Tod” ab: „dass mein Geist vergeht / Hindert meine Gottheit” heisst es darin.
(8) Den auf den vertrag folgenden kurzen „tagen der entzückung” gilt der achte abschnitt. Der überschwängliche ton erinnert an Ofterdingens traum von der blauen blume aber nicht deshalb möchte man Georges verfasserschaft am liebsten bestreiten. Das übermaass an selbstdarstellung die längst bekannte und trotzdem noch einmal aufgewärmte lichtmetaforik und dazu noch die weinrote wolke hinter Schloss Nymphenburg zeugen so wenig von geschmackssicherheit wie das von "menschlicher scheu" (neunter abschnitt) durchaus nicht gehinderte anbiedernde und anmaassende sprechen über und zu Maximilian. Immerhin ist dessen antwort bemerkenswert ausweichend. Als bekenntnis zur antiken vorstellungswelt mag sie George dennoch gefallen haben. - Offenbar lag der tod Kronbergers nicht lange genug zurück. Jedenfalls zeugen die Maximin-gedichte von grösserer souveränität.
(9) Die erkrankung traf Max während eines aufenthalts in Wien wo er wol noch einmal mit George zusammentraf. Als dieser - Max' eltern hatten ihm ein telegramm geschickt - nach München zurückkehrte war der grabschmuck bereits abgeräumt. Im lezten abschnitt geht es um eine rationalisierung dieser bestürzenden vorgänge · vor allem aber um die festigung des bilds das gleichwol zwischen dem entrückten gebieter Maximin und dem umkränzten jüngling Maximilian pendelt (Max war im fasching 1904 bei dem maskenfest in Henry von Heiselers Schwabinger wohnung mit einem kranz aus roten nelken aufgetreten) und vor dem sich verehrend niederzuwerfen George jedenfalls nur mit mühe erwarten kann.
Aber kaum einer wollte neben ihm knien. Nur drei freunde beteiligten sich mit gedichten am GEDENKBUCH: Gundolf natürlich der damals mit George besonders eng verbunden war · Lothar Treuge dem solche treue (er war mit Max nie zusammengetroffen) ein widmungsgedicht im SIEBENTEN RING einbrachte (7722) ohne das er heute ganz vergessen wäre · und Wolfskehl der George am besten kannte und insgeheim an die (gerade im lezten abschnitt allzu dick aufgetragene) ganz tiefe erschütterung des trauernden freundes doch nicht so recht glaubte (Karlauf 2007, 352). George war klug genug nie einen Staats-kult anzuordnen und die zerrüttung durch glaubenskriege dem Kreis zu ersparen. Die gedichte im SIEBENTEN RING zu verehren war für niemanden schwierig. Sieben jahre danach erweckte der STERN den eindruck der kult gehöre längst dazu - aber seine figur heisst jezt ganz anders und ist von Maximilian weiter entfernt denn je. So blieb der jung verstorbene allenfalls ein lokaler heiliger den ausserhalb Münchens nicht viele je gesehen hatten. Am Kreis-himmel wurden bald neue und sehr lebendige sterne entdeckt deren licht das des fernen gottes bei weitem überstrahlte. Sogar zwei früh erloschene waren darunter denen die apotheose gut und besser angestanden hätte (zu der George dann aber die kraft schon gefehlt hätte). Dass es so kommen würde konnte George nach dem tod Maximilians nicht ahnen. Für ihn hatten die fünfzehn Münchener monate zum ersten mal die begegnung mit einem wesentlich jüngeren gebracht: es hätte auch die lezte sein können. So legte er im nachhinein all seine wünsche in das vergangene.
Nach dem weltkrieg kannten die meisten im Kreis Maximilian nur noch vom hörensagen. Viel wurde nie von ihm gesprochen und im NEUEN REICH leiten fünf seiner verse eine lezte erinnerung ein (9109). Maximin gelten drei gebete (9110-12) aber sein name fällt auch hier nicht mehr. Zu sagen dass seinem kult in Georges leztem grossen gedichtband wenigstens noch eine seitenkapelle reserviert war wäre also eine übertreibung. Nur öffentlich- und gelehrsamkeit blickten weiter wie gebannt auf die fotografien des bekränzten knaben · genossen das leichte gruseln und zerbrachen sich den kopf ob sie die verkörperung eines gotts oder nur einen zum gott bestimmten menschen erblickten · einen griechischen heros oder den wiedergänger des Heilands.
T10 BETRACHTUNGEN T101-7
T101 RAT FÜR SCHAFFENDE: Warum die schönheitwidrigen
Entstanden in der zeit des ALGABAL und veröffentlicht in den BfdK 1894. Das motto aus der Göttlichen Komödie: „Hier wird dein adel sichtbar werden.” Den „gebräuchlichen” also abgegriffenen wendungen der epischen prosa wird das indirekte verfahren der symbolistischen lyrik gegenübergestellt. Die kraftvolle anschaulichkeit der vielfältigen landschaftsbilder soll den angesprochenen der „sein inneres ausgiessen” möchte von der überlegenheit der lyrik überzeugen.
T102 RAT FÜR SCHAFFENDE: Der noch einfältige leser
... ist in kindlicher weise gespannt wie die erzählte handlung ausgeht. Der fortgeschrittene leser wendet sich mehr den verschiedenen personen der handlung zu während der „einsichtige” eingesehen hat dass er den meisten gewinn aus der dichtung zieht wenn sie ihm aufschluss gibt über die seele des dichters (und - daher das motto - deren „nobilitá”). In der konsequenz des gedankens liegt dass es nur wenige echte dichter geben kann denn auch wenn die meisten autoren in handwerklicher art handlungen konstruieren oder ein potpourri bunter „charaktere” entwerfen können so ist daraus rückschlüsse auf ihre seele zu ziehen doch entweder gar nicht möglich oder nur in den seltensten fällen von interesse. Veröffentlicht in den BfdK 1894.
T103 ÜBER DICHTUNG I
Veröffentlicht in den BfdK 1894.
(1) Der ästhetizistische standpunkt hatte nicht lange bestand. Schon im ALGABAL waren die zweifel daran laut geworden. Spätestens im SIEBENTEN RING ist der wunsch zu wirken übermächtig.
(2) Hier ist nicht das leben des einzelnen gemeint. Das äussere leben im übergreifenden sinn „kritisch” zu prüfen verbietet sich der ästhetizismus - das könnte zu abstrichen an der schönheit der dichtung führen.
(3) Die sowjetische kunst-theorie entwickelte hieraus den begriff des formalismus als der nicht zu duldenden bürgerlichen kunst. Auch wenn Georges begriff der form sich gerade nicht im äusserlichen erschöpft so ist das „erregende” doch eher selbstzweck als auf ein ziel gerichtet. Die wertschätzung von „maass und klang” ist sicher auch mit einer weiteren abwertung der prosa verbunden.
(4) Die komposition der gedicht-zyklen hat George deshalb mit viel sorgfalt betrieben.
(5) Auch hier ist von einem idealfall die rede der niemals durchgängig umsetzbar sein kann.
(6) George hatte also kein verständnis für verse ohne die bindung durch ein metrum („rhythmus”). Den begriff „freie rhythmen” sieht er als widerspruch in sich. Wer nicht gebunden dichten kann soll in prosa schreiben.
(7) Ihr gegenteil die gebundene rede wird nicht als korsett empfunden. Wenn erst das metrum gestattet gedichte zu schreiben ist es für einen dichter mit freiheit gleichbedeutend.
T104 ÜBER DICHTUNG II
Veröffentlicht in der ausgabe von 1925.
(1) Dichtung muss die illusion vollkommen machen. Brecht entwickelte gleich nach 1925 seine idee des epischen theaters und verlangte vom drama genau das gegenteil.
(2) Hier verbietet sich George jedes gedicht das nur von „schwärze” geprägt ist und keinen „lichtstrahl” (der hoffnung oder der orientierung) enthält. Er scheint hier ein anknüpfen an die Weimarer Klassik und das „idealische” des achtzehnten jahrhunderts zu beanspruchen. George hat selbst diese forderung streng erfüllt und sich ausnahmen kaum erlaubt. Ein gedicht darf demnach nicht empören - es soll in eine ruhige oder gar freudige stimmung versetzen. Natürlich ist darin wieder eine wendung gegen den naturalismus zu erkennen.
(3) Wenn ein gedicht ergreifen soll ist dazu weniger die darstellung des schönen geeignet als die seiner entstehung. George rechtfertigt damit insbesondere gedichte wie den BRAND DES TEMPELS 924.
(4) Die „besondere stellung” der dichtkunst meint eigentlich eine höhere. M veranschaulicht das gemeinte im begriff der „geistigen zeugung”: erweckt werden „noch unsichtbare kräfte” so dass ein „Übergang von Geist in Stoff” entstehen kann. Auch hier kann man erkennen dass George von allem zersetzenden in der dichtkunst nicht viel hält.
T105 ÜBER KRAFT
Das gilt bekanntlich erst recht für Georges einstellung zum hässlichen. Angesichts seines heroischen menschenbilds wäre das hässlichste im gedicht wenn schmerz oder geschlechtliche lust eine hauptrolle spielten - und das menschliche wollen womöglich als ohnmächtig erschiene.
Wenn kunst „triumf über den schmerz und verklärung der wollust” ist muss die anwesenheit von schmerz oder wollust zumindest im hintergrund geradezu als bedingung eines gedichts gelten das zu recht anspruch erhebt kunst zu sein. Beide dürfen also nicht etwa aus unreife des dichters bloss behauptet oder gar sich selbst nur eingebildet - das heisst nur mit roter tinte geschrieben werden sondern wie Nietzsche es (im Zarathustra) forderte: mit blut. Gerade ein allzu lauter und lebhafter ausbruch solcher gefühle im kunstwerk ist als zeichen eines nicht echten und tiefen empfindens verdächtig. Verlangt wird: diesen ausbruch - selbst wenn er echt ist - zu „bezwingen” wozu es einiger kraft bedarf.
Die argumentation verläuft aber doppelgleisig. Richtig ernst gemeint ist wol nur die ästhetische begründung dass „wir” (geschickter kann man es nicht formulieren) in der kunst den anblick von wundflecken und zuckungen und den lärm der „wehlaute auf offenem markt” gar nicht wünschen. Anstatt dick aufzutragen bietet die kraftvolle kunst Georges „ein lächeln” oder „eine träne” oder einen „seufzer aus einer scheuen einsamkeit” oder ein stilles „beben” des körpers. Das hässliche auf diese weise zu bändigen und kunstfähig zu machen kann ohne „kraft” - gemeint ist selbstbeherrschung - nicht gelingen. - Die veröffentlichung erfolgte 1896 in den BfdK.
T106 KUNST UND MENSCHLICHES URBILD
ausser uns : ausserhalb von uns
W. H. : In „Mr (Master) W. H.” dem Shakespeare die sonette widmete wurde lange zeit der Earl of Pembroke oder der Earl of Southampton vermutet - trotz der für einen adligen zu schlichten anrede. Jedenfalls wird der junge mann gemeint gewesen sein - der „Shakespearische Freund” - den viele der sonette ansprechen und von dem man ähnlich wie von Dantes Beatrice nicht weiss ob es sich sogar nur um eine erdachte figur handelt. Vielleicht war aber auch ein bereits verstorbener gemeint. Die ganze aufregung um den historischen W. H. lässt George kalt. Wer so besungen wurde muss zu den selten auftretenden verkörperungen des ganzen „urbilds” gehört haben (das den dauerhaften grund darstellt ohne den der rhythmus von leben und sterben nicht möglich wäre). Demgegenüber ist die suche nach dem richtigen namen nur „spielerei”.
Diese betrachtung entstand im zusammenhang mit der 1909 veröffentlichten übersetzung der Shakespeare-sonette und findet sich folglich erst in der ausgabe von 1925 - wie auch die lezte der BETRACHTUNGEN.
T107 DIE UNTERGEHENDEN
Eines der LIEDER VON TRAUM UND TOD - das an Leopold von Andrian (und weitere zeitgenössische österreichische dichter) gerichtete DEN BRÜDERN 6310 - endet mit einem zwiespältigen lob. Die eigentlich „geliebten” brüder bieten in ihrer kunst das „spiel” mit dem „farbenvollen untergang” - woran sich George aber nicht mehr beteiligen möchte. Sie also sind DIE UNTERGEHENDEN wobei M in Hofmannsthal den eigentlich gemeinten zu erkennen glaubt: der zyklus TAGE UND TATEN T03 schloss mit dem auf Hofmannsthal bezogenen EIN LEZTER BRIEF T0311- und ebenso endet die gruppe BETRACHTUNGEN T10 und damit auch die erste ausgabe von TAGE UND TATEN T mit einer weiteren bitteren verurteilung des österreichers · nun vor allem seiner künstlerischen befähigung. Ein vorwurf zielt auf den unernst ein zweiter auf einen mangel an innerer substanz der mit einer übermässig ausgeprägten aufnahmefähigkeit für von aussen kommende reize einhergeht so dass sie - vergleichbar den barocken malern Domenichino und Guercino (deren geringe wertschätzung auf John Ruskin zurückgehen dürfte) - alles und sogar unvereinbares und widersprüchliches hervorbringen können · darunter ein kaum erträgliches rokokohaft Verschnörkeltes aber auch „gebilde von schmeichelnder süsse” („solang sie noch jung sind” - das ist in der tat ein deutlicher hinweis auf Hofmannsthal dem in 6214 ähnliche vorwürfe gelten).
T11 ÜBERTRAGUNGEN T111-7
Die sieben übersetzungen veröffentlichte George in den BfdK und dann leider erst wieder in der gesamtausgabe 1933 deren siebzehnter band wenige tage vor seinem tod herauskam. Dadurch trug er dazu bei dass sie als eine art kostenloser zugabe vielfach unterschäzt und wahrscheinlich kaum gelesen wurden. Dabei ist die auswahl dieser wenigen zeilen anderer verfasser bezeichnend für das allen fortschritt in abrede stellende geschichtsbild Georges in das man durch ihre lektüre unmerklich eingeführt wird ohne dass auch nur eine von George selbst ersonnen wäre. Sein begriff der „übertragung” ist also - wörtlich genommen - überaus sinnvoll. Die ÜBERTRAGUNGEN sind Georges eigene kunstform · sind mehr als übersetzungen weil es um eine innere übereinstimmung geht und haben alle aufmerksamkeit verdient. In Egyptiens fast neunhundert seiten starkem Werkkommentar 2017 wird jeder der zwei dutzend beiträger in mehr zeilen gewürdigt als auf alle ÜBERTRAGUNGEN zusammen verwendet werden. Man ist sich selbst doch immer am wichtigsten. Geboten wird eine dürre aufzählung der vier vorlagengeber (797) und schliesslich die mitteilung dass TAGE UND TATEN mit den ÜBERTRAGUNGEN endet. Dafür bräuchte nicht eine von ihnen überhaupt nur gelesen zu werden. Künstliche intelligenz könnte es genauso gut. Auch sie gibt immer informationen die keiner braucht der noch ein auge hat.
T111 STÉPHANE MALLARMÉ AUS »PAGES«: WINTER-SCHAUER
Die übertragung dieses atemberaubend geistreichen sogenannten prosa-gedichts war 1892 in den BfdK zu lesen und damit nur kurz nachdem George der einundzwanzigjährig 1889 erstmals an Mallarmés dienstags-treffen in der Rue de Rome hatte teilnehmen dürfen die vorlage in der 1891 erschienenen sammlung „Pages” finden konnte. Sie war aber schon 1864 entstanden als der franzose erst zweiundzwanzig jahre alt war (und damit noch einmal jünger als der höchstens vierundzwanzigjährige übersetzer). Da hatte er gerade eine Deutsche geheiratet und sie dürfte man sich hier auch als partnerin des gesprächs vorstellen in dem mit der symbolgeladen nachgehenden sächsischen stutzuhr (eine kurze „gestutzte” uhr wie sie auf sekretären oder offenen kaminen und hier zwischen statuetten und blumenvasen standen) dem kalender und dem venezianischen spiegel mit seinem wappenverzierten rahmen (bis in die neuzeit kamen fast alle europäischen spiegel aus Murano) auch drei antiquitäten aus ihrem besitz eine rolle spielen. Während draussen der schnee die felder bedeckt wird drinnen der blick auf die spinnweben die wie schatten an den undichten fenstern hängen und zittern zum running gag. Er gibt einen eindruck von der schweigsamkeit der partnerin die auch die pausen seines redeflusses nicht nuzt um ihm zu antworten. Nur einmal weist sie ihn zurecht als er ins - für den geschmack der deutschen frau - allzu frivole und makabre abgleitet. Ansonsten scheint sie sich mehr für die eigentlich längst abgetanen geschichten ihres deutschen volkskalenders zu interessieren was den charmanten plauderer ein wenig kränken muss. Er nimmt es mit milde hin · nennt sie ein „stilles kind” und appelliert im bemühen um zuwendung an ihre „barmherzigkeit”. Dass sie „die tätigkeit nicht liebt” ist liebevoll ummantelt und kann kaum als beschwerde gewertet werden - zumal die spinnen ihren nutzen daraus ziehen und gewisse spuren die erinnerung an die bengalischen finken und den blauen ara wachhalten.
Die elegante ironische leichtigkeit dieses sprechers macht dem leser - blickt er etwa auf WALLER IM SCHNEE 52 zurück - bewusst wie wenig französisch hingegen George war. Das beiden gemeinsame ist - neben dem ursprünglichen vornamen Etienne - die ablehnung der neuen und die wertschätzung der alten dinge. Der dritte in diesem bunde wird dann John Ruskin sein (vergleiche T 116). Aber eigentlich ist er der vierte: niemand möchte dass ausgerechnet die stille Marie Gerhard nicht zählt der die „schreiende anmaassung” der neuen dinge angst machte.
T112 LOUIS BERTRAND AUS »GASPARD DE LA NUIT«: AN VICTOR HUGO
Die starke berücksichtigung des französischen autors hängt damit zusammen dass er zu den erfindern dieser lyrischen prosastücke gehört für die sich seit Baudelaires 1869 erschienener sammlung „Petits poèmes en prose” der wunderliche begriff „prosagedichte” einschlich. Es sind eben keine gedichte. Aloysius Bertrand starb 1841 im alter von vierunddreissig jahren · er hätte alt werden müssen um immerhin die erhoffte anerkennung erleben zu können für die schliesslich Mallarmée dann George und noch etwas später Maurice Ravel sorgten. George aber fand seine vorlage weder in einer buchhandlung noch in einer bücherei. Er musste sich von einem bekannten ein exemplar einer älteren ausgabe des „Gaspard” leihen und sich daraus eine abschrift anfertigen.
Von Charles Brugnot einem dichter und freund Bertrands zeugen heute kaum mehr als eine strasse in Dijon und das hier vorangestellte motto dessen bescheidenheit sich in den zeilen an Victor Hugo einfallsreich spiegelt. Gleichwol malt sich Bertrand schon aus wie der wert seines „kleinen buchs” eines tages erkannt wird so wie in seinem eigenen · dem romantischen zeitalter viele in vergessenheit geratene werke des mittelalters - das sagenbuch dient als beispiel - als „köstlicher fund” neu geschäzt wurden. Sein „Gaspard de la nuit” musste kein halbes jahrtausend darauf warten. Jedenfalls kehrt das alte wieder wenn es wertvoll ist.
T113 LOUIS BERTRAND AUS »GASPARD DE LA NUIT«: DER TULPENHÄNDLER
Das motto ist wol einem barocken werk über blumen entnommen und soll das verständnis des prosastücks erleichtern: Die tulpe galt immer schon als die blume hochmütig prahlerischer äusserlichkeit der jegliche tiefe - angedeutet durch den duft - fehlt. Dem fromm katholischen doktor Huyten - ein portrait des spanischen statthalters der Niederlande ziert seine studierstube - ist das sehr wol bewusst. Noch viel prahlerischer sind freilich die anpreisungen des handelsmanns der ungebeten die kontemplative stille stört und mit dummdreisten werbesprüchen beweist dass in den Spanischen Niederlanden die neuzeit bereits einzug hielt. Gierig und unsensibel glaubt er seine tulpenzwiebel noch begehrenswerter zu machen durch den hinweis auf ihre herkunft aus dem palast des „konstantinopolischen kaiser” - den aber gab es im zeitalter der reformation schon lange nicht mehr. Auf dem riesigen gelände seiner schlossanlage hatten die sultane den Topkapi-Serail errichtet und natürlich ärgert sich der gelehrte über den versuch ihn über die herkunft des muselmanischen zwiebelgewächses so plump zu täuschen. Im stil eines busspredigers beschuldigt er den „hochmut” und die „prasserei” für das aufkommen der reformation Luthers (der nur in der vorlage namentlich genannt wird) verantwortlich zu sein. Das muss auf sich beziehen wer so prächtige tulpen verkauft die nun der ernst der passionsblume um so mehr beschämt.
Dass Meister Huylten durchaus auch das schöne zu schätzen weiss und sogar die bibel links liegen lässt um den anblick seiner goldfische zu geniessen die mit ihrem „purpur” prunken und der tulpe kaum nachstehen weiss nur der leser - der tulpenverkäufer aber schweigt betroffen. Es bleibt offen ob ihn die passionsblume die empörung des angesehenen gelehrten oder der forschende blick des Herzogs von Alba entscheidend beeindruckte. Ob den nun wirklich Holbein oder nicht vielmehr Anthonis Mor auf die leinwand brachte - vom original möchte der heimliche protestant sicher nicht gern gemustert werden. Den statthalter des spanischen königs glaubt man aus der deutschen litteratur als blutigen unterdrücker zu kennen - bei Bertrand aber ist er das bollwerk gegen den neuen geist dem hier ein kontemplativer katholizismus sogar eine kleine niederlage bereitet. Auch zehn jahre vor Max Weber steht bei George - der Bertrands prosastück auswählte - schon der kapitalistische geschäftsmann für den geist des protestantismus. Er ist neu auf der bühne und deshalb die titelfigur der geschichte. Seinem verkäufergeschwätz wird die zukunft gehören - ihr held aber ist der zornige alte mann der sich noch nicht hinters licht führen lässt. Dabei ist der freund der goldfische durchaus kein sich geisselnder asket. Dies zu erkennen erlauben dem leser sowol autor als auch übersetzer.
T114 LOUIS BERTRAND AUS »GASPARD DE LA NUIT«: DER GOLDMACHER
gelächter eines molches : der nachtaktive feuersalamander gehört eigentlich zu den lurchen. Während es leicht war der erde der luft und dem wasser die passenden tiere zuzuordnen war das für das vierte der von dem vorsokratiker Empedokles beschriebenen elemente nicht so einfach. So musste der feuersalamander von dem man glaubte er sei gegen feuer so unempfindlich dass er darin leben könne die lücke schliessen. Da die alchimisten - auch der goldmacher - für ihre geheimen nächtlichen experimente auf das feuer angewiesen waren wurde ihnen eine enge beziehung zu ihm nachgesagt.
Das motto stammt von einem französischen alchemisten des sechzehnten jahrhunderts namens Pierre Vicot. Sein kollege gehört zu denen die sich nicht auf göttliche eingebung verlassen möchten. Aber das seit drei tagen und nächten nicht unterbrochene studium der bücher von Ramon Llull dem genialen katalanischen scholastiker dem auch eine ganze menge alchemistischer werke zugeschrieben werden - weil sie auf dem index standen werden sie hier als „versiegelt” bezeichnet - hat ihn auf dem weg zum künstlichen gold nicht weitergebracht. So beabsichtigt er die fortsetzung seines bestrebens auch wenn er bereits zu halluzinieren beginnt. Trotzdem glaubt er in seinem wahn sich drei weitere tage und nächte zumuten zu können. Er ist ein früher typus eines besessenen wissenschaftlers dem das maass für den menschen verloren gegangen ist und der seine forschungen nur mit einer geschäftlichen zielsetzung betreibt. In ihm wird George den zwillingsbruder des tulpenhändlers gesehen haben. Ähnlich wie diesem versagt Bertrand auch dem goldmacher seinen erfolg.
T115 JOHN RUSKIN EINLEITUNG ZUR ZWEITEN AUSGABE DER MODERN PAINTERS
Die beiden übersetzungen der auszüge von Ruskin erschienen 1896 in den BfdK.
Ruskin war fast fünfzig jahre älter als George · starb aber erst 1900 nachdem er mit seinen zahlreichen und in grossen auflagen verbreiteten schriften seinem umfassenden wissen und einer beeindruckenden persönlichkeit im Vereinigten Königreich grossen einfluss ausgeübt hatte. Die grundlage dafür wurde von seinen eltern gelegt - reichen puritanischen kaufleuten die viel reisten und ihrem einzigen kind dadurch früh einen weiten horizont verschafften. So entstand die liebe zur architektur und kunst. Seine zeichnungen und aquarelle im stil der romantik bezeugen die ausgeprägte begabung als künstler. Zu den grundgedanken Ruskins gehört die ablehnung der industrialisierung der er vorwarf sie führe zur versklavung des arbeitenden menschen. Handwerkliche und künstlerische tätigkeiten - die Melchior Lechter der in der jugend die glasmalerei erlernt hatte im sinne Ruskins später ideal verband - seien dem menschen angemessener. Daher lässt sich Ruskin nicht den sozialisten zuordnen obwol sein antikapitalismus ausgeprägt war. Ein weiterer berührungspunkt mit George war Ruskins ausgeprägtes verlangen nach schönheit und daraus folgend der grundsatz „great art is praise”. Wie Melchior Lechter schäzte schon Ruskin die mittelalterliche kunst - besonders Dürer - und sprach sich als kunstkritiker für die gerade entstandene präraffaelitische bruderschaft aus. Das änderte sich auch nicht als deren prominenter mitbegründer · der damals zwanzigjährige John Millais wegen seines gemäldes „Christus im Haus seiner Eltern” heftig angegriffen von Ruskin aber verteidigt und zu sich eingeladen wurde - und wenig später seine frau heiratete. Sie hatte offenbar ein faible für wunderkinder: Millais wurde schon mit elf jahren in die Royal Academy of Arts aufgenommen deren präsident er später war nachdem ihn Queen Victoria geadelt hatte.
Eine tiefe gläubigkeit stand bei Ruskin dem wunsch nach einem glücklichen „leben” - das war sein höchster wert überhaupt - möglichst vieler gesunder und gebildeter menschen (womit Ruskin in erster linie die geschmacksbildung meint) nicht entgegen. Sein menschenbild scheint naiver als das Georges gewesen zu sein · der demokratie stand er näher und ein elitäres denken war ihm eher fremd. Und während Ruskin fand dass zugreisende nicht reisende sondern eher paketsendungen seien wurde für George die eisenbahn zu einem zweiten zuhause. All dies änderte nichts an der besonders hohen wertschätzung die George dem denken Ruskins entgegenbrachte der damals trotz seines ausserordentlichen erfolgs in seinem heimatland und den Vereinigten Staaten in Deutschland noch weitgehend unbekannt war.
Im alter von vierundzwanzig jahren veröffentlichte Ruskin den ersten band seiner geschichte moderner malerei: Modern Painters. Die romantische schilderung der Campagna Romana mit ihren ruinen und den resten der aquädukte die das wasser nach Rom leiteten steht ganz unter dem ehrfürchtigen eindruck auf dem „grab eines volkes” zu stehen. Motiv und stimmung trafen Georges lebensgefühl genau der als kind der römerstadt Bingen die antike noch in sich spürte.
T116 JOHN RUSKIN AUS DEM VIERTEN BAND DER MODERN PAINTERS
Der text zeigt dass das ästhetische Ruskin nicht allein wichtig war: er gilt auch als moralist - den grössten seines jahrhunderts nannte ihn Tolstoi bescheiden. Den alten mit schieferplatten (leien) gedeckten turm der spätmittelalterlichen eglise Notre-Dame in Calais - erbaut als Calais zu England gehörte und die priester dem erzbischof von Canterbury unterstanden - muss Ruskin durch die häufigen reisen nach Frankreich oft gesehen haben. Auch George fuhr 1891 von London aus über Calais nach Paris während er die in FELD VOR ROM 6307 beschriebene Campagna erst 1898 betrat (M).
Ruskin beschreibt den kirchturm als höchsten dreier weithin sichtbarer türme.
Die anderen waren der belfried (glockenturm) des alten rathauses (das berühmte neue rathaus im neuflämischen stil mit dem noch berühmteren glockenturm wurde erst nach dem weltkrieg errichtet) und der leuchtturm (wieder gibt es einen neuen - seit 1848 - doch hier ist der alte der berühmtere und er steht heute noch: der hochmittelalterliche Tour de Guet. Die höhe des kirchturms erreichen beide nicht). Dass die denkmalpflege den ursprünglichen zustand eines baudenkmals bewahren sollte - am besten auch seine patina - war ein grundsatz der auf Ruskin zurückgeht. Den damals noch neuartigen respekt vor einem baudenkmal lässt gerade T116 gut erkennen. In der nun wieder im niedergang begriffenen kultur ist davon nicht mehr viel übrig: der dekadenten politischen kaste Berlins taugen selbst die ehrwürdigsten bauten allenfalls noch als projektionsfläche ihrer wahlpropaganda - die menge findet nichts dabei.
T117 WACLAW LIEDER EINLEITUNG SEINER GESAMT-AUSGABE
George hatte den zwei jahre älteren polnischen dichter 1889 in Paris kennengelernt und zehn jahre später die einleitung zu dessen gesamtausgabe übersezt. Da war Lieder durch Georges übersetzungen den abonnenten der BfdK schon bekannt · seine heimat aber - er lebte von 1897 bis zu seinem tod 1912 wieder in Warschau - entdeckte sein werk erst in der zwischenkriegszeit. Die vornehmheit dieser melancholischen kleinen einleitung ist kaum zu übertreffen. Stolz und bescheidenheit halten sich genau die waage und nichts wirkt gesucht oder eitel. Es unterstreicht die ernsthaftigkeit seines dichter-ethos wenn Lieder seine verse als zeugnis seines erdenwandels betrachtet. Und es ist schön wenn man von der eigenen existenz sagen kann dass sie für die erde weder belästigend noch belastend war. Das denken im umkreis Georges konnte sehr modern sein.
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